Der Würfel. Bijan Moini
zu. Warum hatte er nur nachgegeben? Er schloss die Augen, bis sein Puls sich beruhigte. Dalia sollte seinen Ärger nicht bemerken und auf sich beziehen.
Mit einer Mischung aus Triumph, Ekel und Frust fingerte er den zerstörten Spion wie einen toten Käfer vom Küchenboden, ging zu Dalia und legte ihn auf den Tisch. Wie viel das Ding wohl gefilmt hatte? »Manche Datenschürfer tragen solche Minidrohnen im Bauch«, erklärte er. »Wenn sie selbst nicht reinkommen, probieren sie es mit denen hier.« Mit zusammengekniffenen Augen inspizierte er das wespengroße Objekt. »Ich wusste nicht, dass die Mistviecher schon so klein sein können.«
Als er aufblickte, sah er das Unverständnis in Dalias Gesicht. »Vielleicht …«, begann sie zögerlich und schlug die Augen nieder.
»Vielleicht was?«
»Vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen.«
»Dalia, nein … «
»Tut mir leid, dass ich deinen Abend so durcheinanderbringe.« Traurig sah sie ihn an. »Ich hab ehrlich gesagt nicht darüber nachgedacht, wie es für dich ist, wenn ich einfach so auftauche.« Sie stand auf und lief unruhig im Zimmer umher, ihr Blick huschte von einer Zimmerecke zur anderen. »Vielleicht kannst du mir gar nicht helfen.«
Taso stand ebenfalls auf. »Ich möchte dir aber helfen.«
»Und wie, wenn du solche Angst vor der Welt da draußen hast?« Dalia zeigte auf die zerstörte Drohne und sah sich weiter um.
Als Taso begriff, dass sie ihren Rucksack suchte, ging er zu ihr und fasste sie sanft an der Schulter. Sie blieb stehen und sah ihn an. Er musste schlucken, bevor er sprechen konnte. »Sorry, dass ich gerade so aufgesprungen bin. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Und dass du zu mir gekommen bist.«
Dalia entspannte sich ein wenig, er ließ die Hand wieder sinken.
»Ich verstehe gut, warum du aus Humaning wegwolltest«, fuhr er fort. »Ich will ja selbst nicht in einer WfZ leben, da fühlt sich alles so eng und gestrig an, auf dem Land noch mehr als in den Städten. Du hast recht, ich bin kein Kubist, aber ich kenne diese Welt trotzdem sehr gut. Und ein kritischer Begleiter ist genau das, was du bei deinen ersten Schritten hier brauchst.«
Taso sah, wie Dalia nachdachte. Er gab ihr einige Sekunden, bevor er ergänzte: »Ich hab morgen sowieso frei. Du kannst heute Nacht hierbleiben, und morgen früh besorgen wir dir alles, was du für den Anfang brauchst. Vielleicht mache oder sage ich ab und zu komische Dinge, aber ich helfe dir wirklich gern.«
Nach einem Moment erwiderte Dalia sein aufmunterndes Lächeln und nickte langsam. Er hoffte, dass sie das aus Überzeugung und nicht aus Alternativlosigkeit tat, freute sich aber über den kleinen Sieg.
»Gut. Ich mache uns jetzt mal was zu essen, und du erzählst mir, wie du dir das Leben hier so vorstellst.«
Dalia folgte Taso in die Küche. Gegen die Anrichte gelehnt begann sie von ihrer Zukunft zu erzählen. Stockend und etwas skeptisch zunächst, bald aber mit wachsender Begeisterung. Sie schwärmte von aufregenden Partys, tiefen Freundschaften und der großen Liebe, von exotischen Reisen, virtuellen Welten und neuem Wissen, von einem erfüllenden Beruf, tollem Essen und großartiger Unterhaltung – von all den Dingen eben, von denen sie gehört hatte oder die ihrer Sehnsucht entsprungen waren. Je länger sie sprach, desto kräftiger leuchteten ihre Augen. Und je kräftiger sie leuchteten, desto schwieriger war es für Taso, sich aufs Kochen zu konzentrieren. Es lag etwas in der Luft, das er selbst schon lange nicht mehr gespürt hatte: Hoffnung und sogar ein wenig Euphorie. Erschrocken bemerkte er, wie sehr er Dalia um ihre Vorfreude und die Aufbruchstimmung beneidete. Trotzdem genoss er die folgenden Stunden sehr. Sie aßen Nudeln mit einem handgemachten Pesto aus Diagon Alley und tranken bis in die Nacht hinein Tee. Dalia träumte, Taso ermutigte, ab und zu lachten sie zusammen. Über die Vergangenheit verloren sie kein Wort mehr.
Erst als Dalia auf dem Sofa eingeschlafen war und Taso auf der Luftmatratze lag, kamen ihm Zweifel. Durfte er Dalia in den Kubismus führen? Ihr bei der Selbstunterwerfung helfen? Gegen all seine Überzeugungen handeln?
Es war stockfinster, trotzdem dauerte es nicht lange, bis er seine Hose und die darin liegende Münze gefunden hatte. Er warf sie gerade so hoch, dass er sie im Dunkeln fangen konnte. Aufgeregt erfühlte er die oben liegende Seite, fuhr erst quer über die abgewetzte Oberfläche, dann von oben nach unten, immer wieder. Ja, es war die Fünf, sie musste es sein, er hatte »Zahl« geworfen.
Ganz sicher war er sich aber nicht.
Taso wurde von den ungewohnten Geräuschen einer anderen Person im Raum geweckt. Er öffnete die Augen und sah direkt in Dalias Gesicht. Sie saß fertig angezogen im Schneidersitz auf dem Schlafsofa und sah ihn an, als brächen sie gleich zu einer Weltreise auf.
»Guten Morgen!«, sagte sie etwas zu laut.
»Guten Morgen«, murmelte er und richtete sich lächelnd auf. »Aufgeregt?«
»Ja! Sehr!« Sie strahlte und klatschte mit den Händen auf die Oberschenkel. »Brauchst du lange?«
Taso versprach, sich zu beeilen. Er stand auf, ging zum Schrank und holte die Würfel heraus. Als er sie auf den Boden warf, bemerkte er Dalias bohrenden Blick. Er erklärte ihr sein Ankleidesystem und legte währenddessen die gewürfelten Klamotten heraus: schwarze Stiefel, dunkelgrüne Stoffhose, blaues Businesshemd, löchriger weißer Pulli und grün-weiße Funktionsjacke. Dalia sah ihn mit großen Augen an. »Du entscheidest nie selbst, was du anziehst.«
»Darüber muss ich nie nachdenken. Ist doch praktisch, oder?« Erst jetzt bemerkte er, dass Dalia dieselbe Kleidung trug wie am Tag zuvor. Sofort bereute er seine Worte.
Unverdrossen kam sie zu ihm hinüber und durchstöberte den Inhalt des Schranks. Sie lachte ein paarmal laut auf und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, ich hätte … Obwohl, das hier geht doch.« Sie nahm schwarze Businessschuhe, Bluejeans, ein weißes T-Shirt, einen engen blauen Sweater und eine schwarze Stoffjacke aus dem Schrank. »Wie wärs heute damit? Hättest doch genauso gut das hier würfeln können …« Sie lächelte schelmisch.
Taso starrte auf die Auswahl. Die Stücke wirkten zwar ausgesucht, aber es stimmte natürlich, er hätte sie auch würfeln können. Er dachte an das letzte Mal zurück, als er zufällig gut angezogen aus dem Haus gegangen war. Seinem Pred-Score hatte es nicht geschadet. Entschlossen nahm er die Kleider, ging ins Bad und zog sich an. Als er wieder herauskam, schenkte Dalia ihm ein strahlendes Lächeln, und das mulmige Gefühl im Bauch verschwand. Taso bereitete ein kleines Frühstück aus Müsli und Obst zu, das Dalia ungeduldig hinunterschlang.
»Was machen wir als Erstes?«, fragte sie, als sie kurz darauf die Straße entlanggingen.
»Zuerst besorgen wir dir Smarts. Die brauchst du eigentlich für alles: zur Identifikation, fürs Bezahlen, für die Arbeit und fürs Studium … Danach richten wir dir ein Bankkonto ein, beantragen dein Grundeinkommen und suchen dir eine Wohnung.«
Dalia schien verunsichert. »Ganz schön viel für einen Tag.«
Taso schüttelte den Kopf. »Das können wir praktischerweise alles im Cubecenter erledigen.« Er hatte zynisch klingen wollen, aber Dalia strahlte.
Sie sahen den gewaltigen, würfelförmigen Bau des Cubecenters schon von Weitem. Die Fenster der oberen Etagen waren abgedunkelt. Stand man direkt davor, spiegelte sich in seiner Glasfassade die Silberkugel des Fernsehturms. Das durch viele Schiebetüren zugängliche Erdgeschoss war komplett einsehbar. Dalia richtete ihren Blick jedoch nicht aufs Cubecenter, sondern auf die andere Straßenseite, auf der ein paar Demonstranten Schilder in die Höhe hielten. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! stand auf einem, Frei statt hörig! auf einem zweiten. Ein wenig abseits der Gruppe hielt eine weitere Person ein leeres Schild in die Höhe. Dort, wo sich ihr Gesicht befinden sollte, sah Taso nur einen weißen Fleck. Der Statur nach zu urteilen, war es eine Frau.
»Warum stehen die hier?«, fragte Dalia.
»Um Menschen davon abzuhalten, sich zu integrieren.«
»Wie die Abtreibungsgegner