Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt
herum zu gelangen. Dafür aber mussten sie die Welt zunächst einmal wie Menschen verstehen lernen. Und die Geschichten halfen ihnen dabei, weil sich Menschen ihre Welt auch durch Geschichten erschlossen.
Eines Abends zogen sich im Osten am Horizont Gewitterwolken zusammen. Die Grünzwillinge und die jungen Hasen hatten ihr Lager auf dem östlichsten Berggipfel aufgeschlagen, von dort aus konnte man über die Große Salviawüste bis nach Neu Albion sehen. Selbst zweihundert Jahre nach der Zerstörung war das Tal noch eine Einöde. Außer Salbeisträuchern wuchs hier nichts, und auch die sonst so zähen Rehe und Hirsche mieden das Gebiet, ebenso wie die meisten Eidechsen. Die Gewitterwolken warfen einen dunklen Schatten über die Silhouette der Stadt, die in der Ferne aufragte und sich ganz im Osten der Insel ausbreitete. Die schier endlose Metallmauer, die die Stadt vom Hinterland trennte und sie vollkommen umschloss, schimmerte unheilvoll in der aufziehenden Dunkelheit. Die Laternen auf dem Mauerkranz beleuchteten mit ihren glimmenden Lichtern einen der Sternenbrecher. Insgesamt standen sechs Laternen entlang der Stadtmauer, große runde Metalltürme mit jeweils acht Turmspitzen. In jedem der Türme befand sich ein Reaktor, der die Moleküle jedes noch so winzigen Stückchens Sternengold spalten und in pure Energie verwandeln konnte – Energie, auf die die Stadt sich vor dem Zusammenbruch jahrhundertelang verlassen hatte. Jetzt warf die untergehende Sonne einen letzten gelborangefarbenen Strahl auf die kronenförmige Spitze des Sternenbrechers, wo er sich in ein Netz aus feinen Fäden auffächerte.
Gabriel und Angelika schauten sich über den Korb voller Eicheln, die sie im Abendrot schälten, hinweg an. Dann blickten sie zu Myrte und Malve, die am Waldrand Winterportulak knabberten und sich zwischen den einzelnen Happen unbekümmert unterhielten. Die zwei Hasen waren inzwischen zu langbeinigen, ausgelassenen Jungtieren mit starken Hinterläufen herangewachsen. Die Haut ihrer Ohren war so zart, dass selbst in dem Licht der untergehenden Sonne viele kleine Äderchen durchschimmerten.
Nachdem die Grünzwillinge lange geschwiegen hatten, formte Angelika ihre Lippen zu einem O. Dann lockte sie mit leisen Rufen zwei Schleiereulen aus dem Abendhimmel. Klackernd landeten sie auf dem Wagendach.
Es war so weit.
2
Die Einsiedlerspinne
In der hintersten Ecke einer Kammer irgendwo in den staubig dunklen Katakomben schimmerte Tins Erfindung. Es war mitten in der Nacht des ersten Februartags, und das Fünfte Kloster der Gnade und des Fortschritts, das sich geduckt an die Stadtmauer schmiegte, wurde von einem Sturm durchgerüttelt. Aber Tin war weit weg von dem Sturm, tief unter der Erde. Er stand vor seiner Erfindung, die er seine »Einsiedlerspinne« nannte und die er während der letzten drei Monate unter alten Teppichen und einem Stück Segeltuch versteckt hatte. Jede Nacht hatte er sich davongestohlen und daran weitergearbeitet. Inzwischen war seine geheime Erfindung so gut wie fertig. Er musste heute nur noch die letzten Drähte des Schaltkreises zusammenschließen und sein Werk mit ein wenig Lampenöl auf Hochglanz polieren. Aber jetzt, wo er die Teppiche herunternehmen und die herabhängenden Drähte zusammenschließen wollte, wurde ihm etwas bange. Das Licht seiner Lampe tanzte über die spindeldürren Beine, die unter den Teppichen hervorlugten. Irgendetwas an der Einsiedlerspinne war anders als sonst, fast als wäre sie lebendig und würde jeden Moment von allein die Teppiche abschütteln.
Bestimmt liegt das nur an dem Schein meiner Lampe, dachte Tin und zog mit Schwung die Abdeckung weg. Aber das verstärkte den Eindruck sogar noch. Seine Erfindung leuchtete und kam ihm ganz fremd vor, beinahe so, als hätte er sie gar nicht selbst zusammengebaut, sondern sie einfach nur in den Katakomben entdeckt – ein unglaublicher Schatz aus der Zeit Davor.
Ganz vorsichtig griff er nach den losen Drähten und machte sich an die Arbeit. Sei nicht albern, sagte er sich. Du wolltest doch, dass es wie eine Spinne aussieht, oder nicht? Wahrscheinlich hast du das einfach ziemlich gut hinbekommen!
Das Gefährt sah einer Spinne tatsächlich bemerkenswert ähnlich, einer ziemlich großen Spinne allerdings. Seine glänzenden schmalen Beine waren auf spinnentypische Weise angezogen, an ihnen saß ganz vorn jeweils ein kleines bronzenes Rad. Tin hatte die Beine an einem runden Fahrerhaus angebracht, das er sorgfältig aus zerschlissenen Leder- und Wollresten und Abdeckplanen zusammengesteppt hatte und in dem mindestens zwei zwölfjährige Jungen Platz fanden. Es gab ein großes offenes Sichtfenster und eine Tür, die aus altem polierten Buntglas gefertigt war. Außerdem hatte Tin versucht, aus dünnem Kupferblech eine Geige zuzuschneiden, schließlich hatten echte Einsiedlerspinnen an ihren Köpfen eine ebensolche Musterung. Im Innern des Fahrerhauses befanden sich zwei Sitze, ein kleiner Steuerhebel aus Metall und acht Drehknöpfe, mit denen er die Richtung und die Geschwindigkeit jedes der acht Räder regeln konnte. Mit einem anderen Hebel ließen sich alle gleichzeitig zum Stehen bringen. Unter der Außenhaut verliefen in einem großen Wirrwarr überall Drähte, die die Räder mit der innen liegenden Steuerung verbanden. Und unter den Sitzen war ein kleiner Motor verstaut, der an eine alte Batterie angeschlossen war. Sowohl die Drähte als auch der Motor waren allerdings unbrauchbar, weil Tin keine Energiequelle hatte, um seine Erfindung zum Laufen zu bringen. Neben den Motor hatte er die große Spule eines elektrischen Spinnrads montiert, das er auf einer Müllhalde gefunden hatte. Er hatte Garn um die Spule geschlungen und aus Spaß einen Enterhaken darangeknotet. Das Garn ließ sich vom Sitz aus auf- und abwickeln. An sich war die Vorrichtung natürlich völlig unbrauchbar, doch sie erinnerte ein wenig an die Fähigkeit echter Spinnen, Fäden zu spinnen, was Tin ein Lächeln entlockte.
Er schloss den Schaltkreis und steckte die letzten beiden Drähte in die verrostete Batterie. Fast erwartete er eine Art Zauberfunken, aber nichts geschah. Kein Wunder, schließlich war die Einsiedlerspinne im Wesentlichen ein Geschöpf seiner Fantasie und aus irgendwelchen Resten zusammengesetzt, die eigentlich gar nicht zueinanderpassten. Die Drähte waren das i-Tüpfelchen, Tin hatte sich daran orientiert, wie die Adern in einem echten Körper verlaufen. Richtig funktionieren würden die zusammengewürfelten Teile nie, aber er mochte seinen Einfall mit den Drähten. Mit einem Lappen und etwas Öl polierte Tin jede Stelle seiner Einsiedlerspinne, und das so behutsam, als wäre sie lebendig.
Im Laufe ihrer Ausbildung wurde den Waisenjungen des Fünften Klosters der Gnade und des Fortschritts in der Metallwerkstatt der akkurate Umgang mit allen Werkzeugen beigebracht, damit sie Maschinen aus der Zeit Davor auseinandernehmen konnten. Wegen der Energieknappheit lief inzwischen keine Maschine mehr, aber die einzelnen Teile wurden unermüdlich wiederverwertet und in neue, von Menschen angetriebene Vorrichtungen umgebaut oder eingeschmolzen. Das Metall landete dann entweder in den Werkstätten der Alchemisten oder in Form von Nägeln, Reißzwecken, Eimern und Büchsen bei der Stadtbevölkerung. Bisher hatte Tin aus den Resten, die er am Ende eines Arbeitstages in der Metallwerkstatt fand, nur Miniaturapparate gebaut: eine winzige Schachtel, die klingelte, wenn man sie öffnete, und ein kleines Modell der Sonne, mit Flügeln, die flatterten, wenn man an Drähten zog. Und das alles ganz heimlich und zu seinem eigenen Vergnügen. Die Einsiedlerspinne war viel größer, und er hatte so einiges dafür aus den Katakomben stehlen müssen.
»Ich habe nie darüber nachgedacht, was ich mit dir anstellen soll, wenn du erst einmal fertig bist«, sagte Tin zu seinem Werk und polierte nacheinander die Räder. »Wenn ich doch bloß ein wenig Sternengold der Brüder besorgen könnte, würdest du bestimmt laufen!«
Er hielt inne und beobachtete, wie das Licht seiner Lampe über die frisch geölten Teile tanzte. Die Schatten, die die Beine der Einsiedlerspinne warfen, schienen ebenfalls zu tanzen. Bei diesem wunderbaren Anblick wurde es Tin ganz leicht ums Herz.
»Aber es gibt kaum noch Sternengold, weißt du«, fuhr er gesprächig fort. »Deshalb lassen sie uns Tag für Tag in den Alchemie-Werkstätten schuften und hoffen, dass wir neues machen. Doch selbst wenn ich davon etwas in die Finger bekäme, wüsste ich gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Die Brüder geben ihre Geheimnisse niemals preis. Wenn man aus Sternengold Energie gewinnen will, braucht man einen Sternenbrecher. Aber wahrscheinlich wird man getötet, bevor man dort auch nur einen Fuß hineinsetzen kann und begreift, wie sie funktionieren. Keiner weiß, wie sie in den Sternenbrechern das Sternengold spalten. Ich wünschte, ich würde