Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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war durch einen anderen Ausgang nach draußen in den Klosterhof gelangt, wo die Jungen täglich ihre Leibesübungen machten. Er war so schnell gerannt wie noch nie in seinem Leben. Jetzt schnappte er nach der regennassen Luft, Adrenalin rauschte durch seine Adern, und seine Gedanken rasten. Warum wurde ihm angst und bange, wenn er nur daran dachte, dass diese Männer seine Einsiedlerspinne dazu benutzen würden, um der Stadt zu ihrer alten Pracht zu verhelfen? Wenn das Gold und die Vollkommenheit wieder Einzug hielten, diente das doch schließlich dem Gemeinwohl, so zumindest war es ihm beigebracht worden. Wieso verspürte er dann diesen unbändigen Drang, auf der Stelle wieder nach unten in die Kellerräume zu laufen und seine Erfindung mit dem Hammer zu zerstören? Sollte er nicht viel eher hier draußen im Regen stehen bleiben und abwarten, bis sie ihn fanden? Dann könnte er sie zu seinem Werk führen und sich selbst jenem Schicksal hingeben, das sie für ihn vorgesehen hatten.

      Es regnete stark, und ein Donnerschlag zerriss die Stille, dicht gefolgt von einem Blitz in unmittelbarer Nähe. Als der Himmel sich aufhellte, sah Tin etwas äußerst Merkwürdiges: einen hellen Vogel, der sehr tief über ihn hinwegflog. In seinen Krallen hielt dieser Vogel ein langbeiniges Geschöpf mit großen Ohren. War das etwa eine Eule? Und trug sie einen Hasen? Oder ein Kaninchen? Dunkel erinnerte Tin sich an die Tiernamen, die er aus Büchern kannte. Diese Nacht steckte wahrhaftig voller Wunder! Was um alles in der Welt geschah hier gerade?

      Plötzlich ließ die Eule ihren Gefangenen fallen, und zwar genau über Tin. Der war so überrascht, dass er einen Satz zur Seite machte. Das Tier prallte gegen seine Schulter, und beide schrien erschrocken auf und stürzten zu Boden.

      3

      Der Schicksalskorb

      Raus damit, Comfrey«, sagte Maxine, während sie die Reste des Haferbreis in einer Schüssel Regenwasser aus den Tonschalen wusch. »So ruhig und still bist du nur, wenn du etwas unbedingt willst.« Sie drehte sich um, wischte sich ihre kräftigen Hände an der Hose ab und betrachtete ihre Tochter.

      Das Mädchen saß still auf einem gelben Kissen an dem großen, polierten Stumpf eines Mammutbaums, wo sie immer ihre Mahlzeiten einnahmen. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment mit einer Neuigkeit herausplatzen. Ihre braunen Hände hatte sie so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten, und ihre schwarzen Zöpfe lösten sich langsam auf. In ihren hellen Augen lag ein entschlossener, fast geheimnisvoller Ausdruck. Aber anstatt ihre Mutter anzusehen, betrachtete sie eingehend deren Hose, die ein wahrer Flickenteppich aus wiederverwerteten Stoffresten war und an eine Landkarte mit Tausenden von Farben und Orten erinnerte. Ein Stück Stoff war aus einem verblichenen Grün mit winzigen, eingerollten Blättern. Es gab ein Rechteck mit rosafarbenen Rosen, ein anderes war blau kariert. Wie die Welt wohl gewesen sein mochte, als die Menschen solch komplizierten Muster und farbigen Stoffe herstellen konnten? Damals, in der Zeit vor dem Zusammenbruch.

      »Ich würde morgen gern unsere Opfergaben überbringen«, sagte Comfrey eilig und flocht ihre Zöpfe neu.

      Diese Bitte war eine solche Selbstverständlichkeit, dass Maxine beinahe lachen musste. »Aber natürlich, mein Schatz, wir machen das gemeinsam, so wie jedes Jahr.«

      »Nein, ich meine, ich würde gerne allein gehen, ohne dich«, fiel das Mädchen ihrer Mutter ins Wort und stand auf. »Immerhin bin ich jetzt zwölf, und groß für mein Alter bin ich auch! Elsbet kümmert sich dieses Jahr um die Gaben ihrer Familie. Na gut, sie ist schon vierzehn, aber ich bin doch eigentlich viel schlauer und mutiger als sie«, sprudelte es nur so aus Comfrey heraus. »Weißt du noch, wie sie letzten Sommer geschrien hat, als der Luchs über den Weg in der Nähe des Opferplatzes gelaufen ist und sie dachte, es wäre ein Löwe?«

      Das kam dem Geheimnis, das Comfrey seit den letzten beiden Monden in ihrem Herzen verschlossen hielt, gefährlich nah. Aber sie konnte nicht anders, sie musste das Wort sagen, es war einfach zu aufregend: Luchs. Vor zwei Monaten hatte sie das erste Mal in ihrem Leben tatsächlich jemanden vom Wilden Volk gesehen: ein Luchs-Mädchen, das sie von den Hügeln unweit der Straße aus beobachtet hatte. Seit jenem Tag formte sie aus dem Lehm des Baches kleine Luchsfiguren, um sie dem Wilden Volk am Tag des Kerzenfestes als Opfergabe zu bringen. Vielleicht würde das Luchs-Mädchen ja wieder auftauchen und sich an Comfrey erinnern.

      An den acht wichtigen jahreszeitlichen Feiertagen überbrachten die Bewohner der drei Dörfer Erle, Wachtel und Lupine dem Wilden Volk im Namen von ganz Farallone Opfergaben. Ihre Dörfer lagen am nächsten an der Grenze zu Olima, der Heimat des Wilden Volkes. Zur Sommersonnenwende versammelten sich die Menschen aus allen elf Dörfern des Hinterlandes für drei Tage zum Feiern und Tanzen, aber erst nachdem auch zu diesem Anlass Opfergaben überreicht worden waren. So konnte jedes Dorf seine eigenen Gebete zurücklassen und etwas von dem Wasser aus dem Flüsschen mitnehmen, das über die Grenze von Olima ins Hinterland floss, um damit ihre Kinder und ihre Ernte zu segnen.

      Im Gegenzug waren die Menschen von einer Art Sicherheitsnetz umgeben. Schwere Krankheiten traten nur selten auf. Bienen und Ziegen und Gemüsebeete gediehen. Wenn aber eine Familie einmal vergaß, ihre Gaben zu hinterlassen, oder nur einen Scheffel ihrer zweitbesten Äpfel oder schief gezogene Kerzen hineinlegte, bekam ein Kind Lungenentzündung oder noch Schlimmeres. Fast gleichzeitig wurde mit Sicherheit das Hausdach undicht, und in den Socken tauchten auf einmal Löcher auf, die sich nicht mehr stopfen ließen. Und die Lachse schwammen nicht mehr stromaufwärts, sondern suchten sich ihre Laichgründe ausschließlich in den Flussläufen, die durch die dichten Nadelwälder des Wilden Volkes führten. Das Überbringen der Opfergaben war eine ernsthafte Angelegenheit und wurde ausnahmslos von Frauen vollzogen. Einen direkten Umgang mit dem Wilden Volk gab es nicht, das machte man einfach nicht.

      Die Grenze bildete eine etwa achtzig Kilometer lange Verwerfungslinie, wo die beiden tektonischen Platten aufeinandertrafen, aus denen die Insel Farallone entstanden war. Für das menschliche Auge sah das Gebiet wie ein langes flaches Tal zwischen einer Hügelkette auf der einen Seite und einem Gebirgskamm auf der anderen Seite und der sehr schmalen Tamalbucht im Norden aus, die so dünn und gerade wie ein blaues Band war. Für das Wilde Volk war es eine heilige Trennlinie. Wenn man die Berggipfel überschritt, betrat man, zumindest hatte es Comfrey so in Geschichten gehört, das Reich der Schöpfung – Olima. Dort hatte sich das Wilde Volk niedergelassen, um das Herz der Insel Farallone zu hüten. Was genau das bedeutete, wusste Comfrey nicht, nur, dass in Olima nicht alles so war, wie es schien, und dass es dort Magie gab. Für die Bewohner des Hinterlandes kam das Überschreiten der Grenze einer Todesstrafe gleich. Das machte man einfach nicht. Verirrte man sich beispielsweise nachts über den Bergkamm und schaffte es mit viel Glück – nach gefühlt nur wenigen Stunden – am Morgen wieder zurück, war es gut möglich, dass man inzwischen im Körper einer alten Frau steckte und all seine Lieben nicht mehr lebten. Oder man war gar kein Mensch mehr, sondern ein kleiner grüner Frosch.

      Comfrey hatte immer nur aus zweiter Hand von Leuten gehört, die das Wilde Volk getroffen hatten. Großmütter erzählten Geschichten, die sie wiederum von ihren Großmüttern erzählt bekommen hatten und die mit der Zeit immer mehr ausgeschmückt worden waren. Die runzeligen Frauen saßen auf dem Dorfplatz zwischen den Wochenmarktständen, wo Wollgarne und Möhren und Ziegenmilch, Honig, Holunderwein und Feuerholz angeboten wurden, spannen Wolle, plauderten und unterhielten die Kleinen mit ihren Geschichten. Abgesehen vom uralten Großvater des Schusters kannte Comfrey eigentlich keinen, der wirklich selbst dem Wilden Volk begegnet war. Zigmal hatte sie ihn nach der Reiher-Frau ausgefragt, die er als junger Mann im Sumpf gesehen hatte. Aber der Großvater des Schusters bekam dann immer nur diesen versonnenen Blick und sprach von seiner verstorbenen Frau.

      Doch nicht nur Olima zu betreten, sondern bereits mit jemandem vom Wilden Volk zusammenzutreffen, betrachteten die Bewohner der Dörfer als gefährlich. Womöglich wurde man entführt, oder man verlor den Verstand. Und wenn man etwas falsch machte, zerstörte man vielleicht das empfindliche Gleichgewicht und rief Seuchen hervor, oder gar ein Erdbeben, genau wie jenes zu Beginn des Zusammenbruchs. Ein Fehler konnte leicht passieren, weil niemand die Sitten und Gesetze des Wilden Volkes wirklich verstand.

      An


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