Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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dass ich alles richtig mache und das Wilde Volk zufrieden ist und der Winter ein gutes Ende nimmt. Damit wir nicht hungern müssen und auch nicht krank werden!« Sie zögerte. Sollte sie den Bienen von ihrem Geheimnis erzählen? »Und … ich hoffe, dass das Luchs-Mädchen meine Geschenke sieht. Dass sie sich vielleicht noch einmal zeigt und …« Comfrey flüsterte jetzt. »Tja, ich weiß auch nicht. Ich würde einfach gerne wieder mit ihr reden.« Dann wurde sie rot und kam sich ganz egoistisch vor; schließlich überbrachte man die Opfergaben zum Wohl des ganzen Dorfes und nicht aus reiner Neugierde.

      Aus dem Westen kam ein kühler Wind, er blies durch die Lücke bei den flachen Hügeln, durch die man ins Weidetal und zum Grenzland gelangte. Comfrey atmete tief ein, der Wind roch nach Meer und nassen Erlen und Schlick und grünem Gras und Regen. Sie fröstelte ein wenig, verneigte sich vor den trägen Bienen und ging den Fußweg am Rande des Dorfes hinunter. Er wand sich an hohen Brennnesselbüscheln vorbei, führte an einer flachen Stelle über den Fluss und dann über eine feuchte Wiese zwischen zwei Hügeln ins Weidetal.

      Hinter dem Tal hoben sich die Berge empor. Einer der Berghänge wurde von den Opferplätzen gesäumt, auf der anderen Seite der Berge begann Olima, das Gebiet das Wilden Volkes. Obwohl das Weidetal Grenzland war und eigentlich noch immer zum Hinterland gehörte, kam kein Mensch Olima gern näher als nötig. Das Sumpfgebiet war eine Art Niemandsland. Weidendickicht, Binsenkraut, Auen und plötzlich aufziehende Nebel. Die Dorfbewohner betraten das Tal nur, um ihre Opfergaben zurückzulassen, und verschwanden dann schnell wieder auf dem altbekannten Pfad.

      In Erle hatte jede Familie ihren eigenen Altar an einem besonderen Berghang, und es gab durchaus einen Wettstreit, wer seinen am schönsten herrichtete. Der Altar von Comfrey und ihrer Mutter stand auf der glatten, geraden Spitze einer Felszunge aus grünem Marmor. Comfrey kletterte einen schmalen Wildwechselpfad hinauf, bis sie auf der Höhe des Felsens war. Hin und wieder rutschte sie im feuchten Gras aus. Von dem kurzen, aber steilen Aufstieg zog es in ihren Waden. Sie stellte den Korb auf den Boden, holte das Bündel heraus und rollte das rote Opfertuch auseinander. Vor dem blassgrünen Stein hob es sich besonders gut ab.

      Mit zitternden Fingern nahm sie nacheinander die Opfergaben heraus. Der Ruf eines Blauhähers ließ sie zusammenzucken. Bisher war niemand mit seinen Opfergaben unterwegs, und das würde sicher auch noch für ein paar Stunden so bleiben. Comfrey war extra früh aufgebrochen, damit sie ungestört war, falls sie wieder das Luchs-Mädchen zu sehen bekam.

      Sie steckte die neun Bienenwachskerzen in neun Kerzenhalter aus Ton und stellte sie auf dem Tuch in einem Kreis auf. Sie waren dunkelblau und mit gelben Punkten bemalt, die wie Sterne aussahen. In die Mitte legte sie den polierten Schädel einer Schleiereule, aber verkehrt herum, sodass er zu einer kleinen Schale wurde. Comfrey hatte ihn im vergangenen Sommer mit ihrer Mutter im Erlenwald gefunden, als sie im Fluss Brennnesselstiele einweichten. In die Schale legte sie einen frisch gebackenen Kuchen aus Eichelmehl und platzierte einen Kelch aus der dunkelroten Rinde des Faulbaums daneben, in den sie Holunderbeeren-Met goss. Um den Eulenschädel arrangierte sie wie die Speichen eines Rades neun Blätter Grünkohl, den sie ganz frisch aus dem Wintergarten geerntet hatte. Und darum herum kam noch ein Strang mit den aufgefädelten roten Früchten des Erdbeerbaums.

      Jetzt waren nur noch die zwei getöpferten Luchsfiguren übrig. Lächelnd betrachtete sie jede einzelne, bevor sie die Figuren auf das rote Tuch stellte. Einen Tag hatte sie sich für jede Zeit gelassen, hatte sie geformt und geglättet und neu geformt. Für die Ausarbeitung der Augen, Nasen, Krallen und Punkte hatte sie eine angespitzte Feder benutzt.

      »Ihr seid unsere Wächter«, sagte Comfrey und verschob die Luchsfiguren, bis sie sich zwischen dem Kreis aus Erdbeerbaumfrüchten und den Kerzen gegenüberstanden. Dann schlug sie einen Feuerstein an, um die Kerzen anzuzünden, legte ihre Hände auf die beiden getöpferten Katzen und sprach die richtigen Worte.

      »Segne die Sonne während der Nacht, segne die Dunkelheit, wenn ein Licht lacht, segne das Grün, segne den Regen, segne das Land, das nach der Wende des Lichts zum Leben erwacht. Mögen die Wurzeln in der Erde, mögen die Vögel, die nach Süden fliegen, in der Dunkelheit geschützt sein und es behaglich haben. Danke, neues Samenkorn, danke, Regen, danke, Lachs, danke, Sterne. Danke, Erle, Nessel, Wild und Grün. Mögen wir alle in Frieden leben. Gesegnet seid ihr immerdar und Kah.«

      Den letzten Teil, »Gesegnet seid ihr immerdar und Kah«, hatten Comfrey und ihre Mutter sich ausgedacht und hinzugefügt, als Comfrey ungefähr sieben Jahre alt gewesen war. Damals, bei der Sommersonnenwendfeier, hatte ein Rotschulterbussard so dicht über ihren Köpfen seine Kreise gezogen, dass sie die Schlange in seinen Fängen erkennen konnten. Der Vogel hatte einen Ruf ausgestoßen, der wie »Kah« geklungen hatte.

      »Er spricht auch einen Segen!«, hatte Comfrey gesagt, und ihre Mutter hatte gelacht. So blieb das Ereignis in ihren Köpfen.

      Gerade als Comfrey überlegte, ob sie noch ein paar Worte über das Luchs-Mädchen hinzufügen sollte, hörte sie abgehacktes Gelächter, das nach Frauenstimmen klang. Comfrey wurde rot und sah sich um. Kamen die anderen Frauen etwa schon mit ihren Opfergaben? Lachten die Frauen sie aus, weil sie Comfrey zu jung für die Aufgabe hielten?

      Sie stand auf und hatte auch schon eine schroffe Erwiderung parat. Dann stellte sie fest, dass das Lachen aus dem Weidetal kam, von dort, wo das Tal breiter wurde und wo die Menschen sich normalerweise nie hinwagten. Der Fußweg führte nicht weiter nach Norden, Süden oder Westen. Er endete hier am Opferplatz, nur unweit von Erle. Wenn man eines der anderen Grenzdörfer erreichen wollte, musste man erst wieder ein Stück ins Landesinnere gehen und dann einen der viel benutzten Wege östlich der Verwerfungslinie nehmen, der gefahrlos an den flachen Hügeln entlanglief, die eine Barriere zum Weidetal bildeten.

      Aber da war es wieder, dieses eigenartige Gelächter! Und es kam ganz sicher von weiter hinten im Tal. War das vielleicht das Lachen des Luchs-Mädchens und ihrer Mutter und Tanten und Großmütter, die sich um ihr eigenes Festtagsfeuer versammelt hatten und feierten?, fragte Comfrey sich. Bestimmt hatte niemand etwas dagegen, wenn sie ein kleines bisschen weiterging und nachschaute. Das war es schließlich, was sie sich erhofft hatte.

      Comfrey verbeugte sich schnell vor den Opfergaben auf dem Altar und sprang vom Felsen. So leise wie möglich schlich sie in die Richtung, aus der das Gelächter gekommen war, doch auf der sumpfigen Erde machten ihre Schuhe schmatzende Geräusche. Am Himmel zogen dunkle Regenwolken auf, aber die Sonne blitzte immer wieder hervor und malte unregelmäßige Schatten auf die Erde. Comfrey bahnte sich ihren Weg durch eine aufgeweichte Wiese mit frisch sprießendem Gras.

      Sie hörte eine murmelnde Unterhaltung. Es roch nach Holzrauch. Jemand sang ein gefühlvolles Lied, und dann war da wieder das Gelächter. Es hörte sich an, als käme es gleich von dort drüben hinter dem Weidendickicht.

      Aufgeregt und außer Atem vergaß Comfrey, wie tief sie inzwischen schon ins Grenzland geraten war. Sie kletterte zwischen den kahlen gelben Weidenzweigen hindurch und reckte ihren Hals. Umgeben von einigen Salbeisträuchern und Lupinen, saßen drei Frauen im Schneidersitz vor zwei Holzkarren. Einer war ochsenblutrot, der andere gelb. Die Karren waren festgestellt, und die Räder dienten jetzt als Spinnräder, die Spulen waren voller goldfarbenem Garn. Große Hirsche, insgesamt acht Stück, ästen ganz in der Nähe, ihr Lederzaumzeug war gelockert, hing ihnen aber noch um die Hälse. Die Karren hatten halbrunde Dächer aus Segeltuch und metallene Kaminrohre. Die Frauen flochten aus gespaltenen Weidenruten Körbe, während sie lachten und plauderten und immer wieder in dem Feuer stocherten, das sie in einer mit Steinen ausgelegten Grube entfacht hatten.

       Wildes Volk.

      Das Einzige, das für Comfrey unmissverständlich dafürsprach, dass die Frauen überhaupt zum Wilden Volk gehörten und nicht irgendwelche eigenartigen Menschen aus einem anderen Dorf waren, waren ihre Haare. Die Frauen hatten sie zu komplizierten Zöpfen geflochten und zu einer Art Kegel, fast wie ein Bienenkorb, aufgesteckt. Genau genommen waren es gar keine Haare, sondern zarte Pflanzenstiele, die aus ihrer Kopfhaut wuchsen. Als eine der Frauen ein wenig den Kopf drehte, sah Comfrey, dass der Haarkorb innen hohl war und eine Meise beherbergte.

      Die Frauen alberten genauso herum wie Comfreys Cousinen, aber die Falten um ihre Augen und auf ihren


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