Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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      Er stupste den Jungen in den engen Felsspalt, doch Tins linke Schulter und sein Fuß waren noch immer sichtbar. Der Hase klemmte sich zwischen seine Waden. Als Tin seine Lampe ausblies, wurde es vollkommen dunkel.

      »Jetzt leere deinen Kopf. Stell dir einfach ein Wasserbecken vor, das ausläuft, bis nichts mehr drin ist. Wenn ich es dir sage, rührst du dich keinen Millimeter. Und hältst die Luft an.«

      Tin versuchte eine gefühlte Ewigkeit, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, aber ihm kam immer wieder Sebastian in den Sinn. Sebastian, der Wache hielt, während Tin bei Kerzenlicht leise Geschichten erzählte. Sebastian, der mit ihm durch niedrige Tunnel kroch: stets direkt hinter ihm, ein wenig nervöser als er selbst und etwas kleiner, aber schnell und schlau. Sebastian, der hervorragende Kartenleser, der gut darin war, ein paar zusätzliche Eicheln aus dem Fass im Keller zu stehlen.

      »He, schhhhh.«

      »Ich habe doch gar nichts gesagt!«, flüsterte Tin verdutzt.

      »Nein, aber dein Geist. Die Betriebsamkeit ist so deutlich zu hören wie knackende Zweige. Leere ihn, schnell, sie sind nicht mehr weit!« Dabei zwickte der junge Hase Tin in den Fußknöchel.

      Tin hörte polternde Schritte. Er atmete aus, aber an Sebastian dachte er trotzdem. Flucht, grübelte er. Was hatte der Hase damit gemeint? War es wirklich möglich, dem Kloster zu entfliehen? Aber er konnte Seb nicht einfach zurücklassen, er war sein einziger Freund.

      Malves dunkle Augen funkelten ihn an.

      Jetzt waren die Schritte ganz nahe. Tin rührte sich nicht. Das schwache Licht einer Lampe hüpfte über die Wände.

      »Wo ist dieser kleine Rotzlöffel nur hin?«, drang Bruder Warrens Stimme nicht weit von ihrem Versteck entfernt zu ihnen herüber. Er klang angespannt. »Der Schrei kam ganz aus der Nähe.«

      »Er ist ein zäher Bursche«, antwortete Vater Ralstein. »Wahrscheinlich ist er gestolpert und dann direkt Richtung Schlafsaal fortgerannt. Vielleicht hat er geglaubt, wir hätten ihn nicht bemerkt, und er wollte wegen des Lauschens keinen Ärger kriegen.«

      Plötzlich blieb Bruder Warren stehen, und zwar genau neben dem Felsspalt, in den Tin und Malve sich hineingequetscht hatten. Langsam drehte er den Kopf und die Laterne in seiner Hand.

      Tin bekam einen trockenen Mund, aber dann dachte er an Malves leise Stimme und seine vollkommene Ruhe, und sein Kopf füllte sich mit Wolken und mit dem weiten Himmel.

      Tin sah, wie der Blick des Bruders direkt auf Malves goldene Hinterläufe fiel, doch er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

      »Eigenartig«, sagte Bruder Warren und schnupperte, ehe er sich endlich wieder in Bewegung setzte. »Tut mir leid, Vater. Ich habe etwas gespürt, fast als wäre jemand in der Nähe. Ich dachte, ich hätte einen Hauch von verbranntem Rapsöl gerochen.«

      »Siehst du Geister, Bruder?« Vater Ralstein lachte. »Wie gesagt: Wahrscheinlich ist der Junge durch diesen Gang zu den Schlafsälen zurückgerannt.« Er klang ein wenig gereizt. »Aber warum behandeln wir ihn eigentlich wie einen Dieb? Wir wollen ihn doch auf unserer Seite haben, und er soll uns das Geheimnis seiner goldenen Maschine verraten – die auf mich allerdings keinen besonders goldenen Eindruck gemacht hat. Warum ziehen wir ihn also morgen früh nicht einfach aus der Alchemie-Werkstatt ab und reden mit ihm von Mann zu Mann? Wir könnten seinem Ego bei einer Tasse Zichorien-Kaffee schmeicheln.«

      Bruder Warren schwieg. »Ich denke, der Junge ist gewieft«, erwiderte er. »Ich denke, er wird nicht tun, was wir von ihm verlangen. Wir sollten ihn einfangen und seine Maschine sofort an uns nehmen.«

      Die Stimmen der beiden Männer wurden immer schwächer.

      »Unsinn, Bruder«, sagte der Vater. »Es gibt nichts, das sich von uns nicht brechen ließe. Nichts, das wir nicht bestechen können. Mit den Egos junger Männer kenne ich mich aus, glaub mir. Wir wollen keine große Sache daraus machen und ihn durch die Schlafsäle jagen, sonst ergreifen die anderen Jungen am Ende noch Partei für ihn. Sie sollen uns doch nicht für Diebe halten, Bruder. Besser ist es, wenn uns der Junge seine Erfindung aus freien Stücken bringt. Wir müssen ihm gut zureden, ihm Honig ums Maul schmieren.«

      Als die Stimmen und Schritte, die durch den Tunnel hallten, allmählich erstarben, blieben Tin und Malve trotzdem noch eine Weile ganz still in ihrer Spalte.

      Dann zündete Tin seine Lampe wieder an, warf Malve einen Blick zu und grinste. »Das war knapp!«

      »Es ist immer knapp«, sagte der Hase, schüttelte seine langen Ohren und putzte erleichtert, aber auch noch ein bisschen nervös seine Brust. »Man gewöhnt sich daran. Und irgendwann lernt man, so still zu sein, dass nicht mal mehr das Herz laut klopft.«

      Tin lockerte seine verkrampften Schultern und lief in dieselbe Richtung, in die seine Verfolger verschwunden waren.

      »Warte mal!«, rief Malve, der sich auf seine Hinterläufe gesetzt hatte. »Ich hüpfe keinen Schritt mehr weiter, bis du mir erklärst, was um alles in der Welt hier los ist und was es mit dieser Einsiedlerspinne auf sich hat. Vorhin hast du so schnell geredet, da konnte ich gar nichts verstehen. Außer, dass du ein … ein Ding aus alten Teilen gebaut hast, das wie eine Spinne aussieht, obwohl es nicht wirklich eine Spinne ist. Und dass es etwas hat, das man einen Motor nennt – was so ähnlich wie ein Herz ist. Und wenn du dich in das Ding reinsetzt, wird es zu Gold und lebendig. Das klingt wie Zauberei!«

      Tin musste über den ernsthaften Gesichtsausdruck des Hasen lächeln und versuchte, ihm alles zu erklären: die Einsiedlerspinne, die Alchemie-Werkstatt, die Brüder und ihr Gold und ihre Sternenbrecher. Währenddessen wurden die Augen des jungen Hasen immer größer, bis er Tin schließlich unterbrach.

      »Das ist in der Tat sehr schlimm«, sagte Malve. »Die Grünzwillinge ahnen gar nicht, wie richtig sie damit lagen, mich zu dir zu schicken. Kennst du die wahre Natur von Sternengold? Haben sie euch je die Geschichten über das Wilde Volk erzählt?«

      »Die Geschichten über das was?«

      »Oje …« Der Hase seufzte. »Lass uns später darüber reden. Im Moment heißt die Devise Flucht! Wir müssen deine Einsiedlerspinne hier rausschaffen. In den falschen Händen ist sie sehr gefährlich.«

      »Gefährlich?«

      Doch Malve sprang bereits durch den Gang zur Einsiedlerspinne.

      »Warte!«, rief Tin. »Zuerst müssen wir Sebastian holen. Er begleitet uns. Egal, wohin wir gehen.«

      »In aller Hasen Namen, der Junge hat keinen Schimmer von schneller Flucht!«, grummelte der Hase in seine Schnurrhaare und hoppelte wieder zurück. »Wer ist Sebastian?«

      »Er ist mein bester Freund. Wir haben immer gesagt, dass wir gemeinsam aus dem Kloster rauskommen. Ich muss ihn holen, sonst bin ich keinen Pfifferling wert.« Tin schaute finster zu Malve. »Ich will mir erst gar nicht angewöhnen, Leute im Stich zu lassen. Schließlich bin ich selbst im Stich gelassen worden.«

      Eines war dem Hasen klar: In diesem entschlossenen Blick lag etwas von der Stärke, von der Bruder Warren gesprochen hatte. Wenn der Junge sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn nicht so leicht davon abbringen. Tins Augen erinnerten Malve an seine Zwillingsschwester Myrte und den blauen Himmel. Er dachte an die Zeit, als sie gerade erst auf die Welt gekommen waren und ihre Mutter sie in einem weichen Grasnest zurückgelassen und der Morgenhimmel sich weit über ihnen erstreckt hatte. Später hatten ihnen die Grünzwillinge erzählt, dass ihre Mutter von einem Kojoten erbeutet worden war. Er erinnerte sich an die Wärme seiner Schwester an diesem Tag, sie war seine einzige Familie in der ganzen großen, grünen und blauen Welt. Myrtes Blick war voller Furcht gewesen, als die Schleiereule sie mit ihren schrecklichen Krallen gepackt hatte und mit ihr in die Abenddämmerung geflogen war, um sie – genau wie Malve – ihrem Schicksal und ihrer Aufgabe entgegenzutragen. Das mutige Herz des jungen Hasen pochte. War das wirklich erst ein paar Stunden her? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Aber die Grünzwillinge hatten es so gewollt. Der Junge und das Mädchen sind eure Schützlinge,


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