Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt
»Ganz Farallone?«, flüsterte Comfrey. »Aber ich bin noch nie weiter als bis nach Holzapfel gekommen! Und das auch bloß ein einziges Mal, als wir zum Blütenfest eingeladen waren … Von dort aus konnte man das schneebedeckte Wacholdergebirge sehen! Ich habe schon vom Reihertal gehört, wo die Weintrauben herkommen, und einmal ist der Schuster zur Hochzeit seiner Schwester nach Teichbinse ans Flussdelta gereist. Aber ganz Farallone kenne ich deswegen noch lange nicht. Schwebt die Insel wirklich wieder in Gefahr, Myrte? Wird es einen zweiten Zusammenbruch geben? Es scheint doch gerade alles so friedlich und … normal.«
Als Comfrey an die Geschichten aus der Zeit des Zusammenbruchs dachte, lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wenn jemand krank wurde, und hatte er auch nur eine normale Erkältung, löste das bei den Dorfbewohnern gleich Panik aus. Sie erinnerten sich an das, was schon die Großmütter ihren Großmüttern erzählt hatten: an die Seuchen und vergifteten Gewässer und die vielen Menschen, die gestorben waren.
»Ich kann es dir nicht sagen«, meinte Myrte und blinzelte mit ihren goldenen Augen. »Die Grünzwillinge sind überzeugt, dass die Art und Weise, wie wir uns voneinander abgeschottet haben – die Stadt vom Hinterland und das Hinterland vom Wilden Volk –, unser Verderben sein wird. Niemand traut mehr dem anderen, und es gibt keine Vermittler zwischen den drei Parteien. Aber wie zwei junge Hasen und zwei Menschenkinder diese Parteien zusammenführen sollen, ist mir auch ein Rätsel!«
Comfrey schwieg eine Weile, zupfte an einem Stück Decke und betrachtete das Licht der Kerze an der Wand. In Gedanken war sie bei ihrem Vater, und sie fragte sich, was ihn vor acht Jahren dazu bewogen hatte, in die Stadt aufzubrechen. Visionen, Träume? Was hatte er gewusst? Was gesehen? Würde sie in seine Fußstapfen treten? Trotz ihrer Angst keimte so etwas wie Stolz in ihr auf.
»Hör mal, Myrte«, sagte sie und versuchte, möglichst erwachsen zu klingen, so wie jemand, auf den die Grünzwillinge zu Recht all ihre Hoffnung setzten. »Die Korb-Hexen scheinen etwas über mein Schicksal zu wissen. Und wenn mein Schicksal mit dem von Farallone zusammenhängt, sind die Frauen vielleicht ein guter Ausgangspunkt, oder?«
Ihre Worte hörten sich etwas dünn an, so, als würde sie ihnen selbst nicht wirklich glauben. Schließlich war sie nur ein ganz normales Mädchen aus dem Hinterland! Und doch, sagte eine zweite Stimme in ihr, und doch waren deine Augen dein ganzes Leben lang auf die Welt des Wilden Volkes gerichtet. Vielleicht bist du ja gar nicht so gewöhnlich.
Myrte musterte sie. »Aber Comfrey, du kennst das Wilde Volk nicht. Stell ihnen eine Frage, und sie antworten dir mit einer Gegenfrage. In Olima ist nichts so einfach, wie es scheint. Trotzdem ist dein Plan so gut wie jeder andere. Er ist immerhin ein Anfang.« Und dann gähnte das Hasenmädchen, wobei ihre langen stumpfen Vorderzähne und ihre rosafarbene Zunge zu sehen waren. Sie setzte sich bequem hin, legte das Kinn auf die Brust und die Ohren flach auf den Rücken und schlief kurz darauf fest ein.
Obwohl Comfrey immer noch ein wenig zitterte, weil der Tag ihr so viele außergewöhnliche Wunder auf die Türschwelle gelegt hatte, blies sie die Kerze aus, rollte ihr Bettzeug aus, zog die Wolldecke bis zur Nasenspitze und versuchte, ein wenig zu schlafen. Irgendwo hinter all dem Staunen spürte sie eine seltsame Zuversicht. Und als es fast schon wieder dämmerte, versank sie endlich in ihren Träumen.
Comfrey wachte erst wieder auf, als ihre Mutter ins Zimmer kam. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien warm durchs Fenster.
»Comfrey, Liebes, bist du krank?«, fragte Maxine besorgt.
Schlaftrunken blinzelte Comfrey, ihre Augenlider waren schwer und voller Schlafsand. Sie rieb sich die Augen, setzte sich mit einem Ruck auf und legte die Hand auf die Stelle, wo Myrte gesessen hatte. »Schlecht geträumt, schrecklich geschlafen«, murmelte sie und versuchte, ihre Sorge um die Häsin zu verbergen.
»Ich habe dich nicht geweckt, Schatz, weil ich dachte, dass du dir vielleicht eine Erkältung geholt hast. Aber jetzt stehst du besser auf, am Holzofen steht heißes Wasser zum Waschen. Und nachdem du die Gänse gefüttert hast, kannst du mir mit den Milchkuchen für heute Abend helfen.« Maxine tätschelte Comfreys Beine, die unter der Decke steckten, und ließ ihre dunklen Augen forschend über das Gesicht ihrer Tochter gleiten. Dann machte sie sich auf den Weg zurück in die Küche. Als sie schon fast aus dem Zimmer war, bückte sie sich und hob verwundert ein herrenloses Karottenstück auf. Sie machte die Tür hinter sich zu, und ihre nackten Füße tappten auf die vertraute Weise über den Flur, wie Comfrey es gerne abends und morgens hörte.
Kaum war die Tür geschlossen, sprang Comfrey auf.
»Myrte? Wo bist du?«, flüsterte sie. Doch sie bekam keine Antwort, und ihr wurde ganz schwer ums Herz. Hatte sie das etwa alles nur geträumt? Sie zog den Filz vor dem Fenster weg.
Da sprang Myrte zwischen Ringelblumen und Pfefferminzstauden hervor und hüpfte mit einem großen Satz aufs Fensterbrett. An ihrem braungelben Fell hingen einige der klebrigen, orangefarbenen Blütenblätter, und sie brachte den Duft von Minze mit ins Zimmer.
»So schnell vergrault mich niemand«, sagte die Häsin und leckte sich den Schmutz von der schlanken Pfote. »Ich hab nur gefrühstückt. Köstliche Möhren, vorzüglicher Grünkohl.«
»Myrte, das ist unser Essen! Was, wenn dich jemand gesehen hätte? Es ist gefährlich. Die Leute töten Kaninchen und Wild, das über die Grenze in unsere Dörfer kommt. Sie glauben, dass sich diese Tiere freiwillig als Nahrung anbieten und das Wilde Volk es gutheißt.«
»Ich bin kein Kaninchen! Ich bin ein Hase«, sagte Myrte beleidigt. »Das ist ein großer Unterschied. Hasen sind viel schneller. Und Menschen, die mich fangen wollen, machen mir auch keine Angst, nur Falken und Luchse. Die sind unglaublich leise, und ihre Krallen sind schärfer als jedes Messer.« Myrte hüpfte lautlos auf den Boden.
»In Ordnung«, stotterte Comfrey, die von dem Gefühlsausbruch der Häsin ein wenig überrascht war. »Hör mal, ich habe vergessen, dass heute ein Feiertag ist. In der Dorfmitte gibt es ein Festmahl, wir feiern das Kerzenfest und die Rückkehr von Milch und Saft und Pflanzen. Jeder kocht etwas und bringt es zum Feuer, und während die Sonne untergeht, wird getanzt und musiziert. Ich weiß noch nicht, wann ich mich davonschleichen kann, ohne dass meine Mutter es bemerkt.«
Comfrey ging zu der Tannenholztruhe in der Ecke des Zimmers und nahm ein Paar Wollstrümpfe heraus. Bei dem Gedanken an ihre Mutter geriet sie ins Grübeln. Und während sie langsam ihre Strümpfe anzog, fiel ihr ein, wie traurig Maxine gestern bei der Erwähnung ihres Vaters ausgesehen hatte. War sie eigentlich verrückt, einfach so dem Wilden Volk hinterherzujagen? Und wenn das nun die allumfassende Ordnung durcheinanderbrachte? Womöglich bekam ihre Mutter die Grippe, oder sämtliche Gänse wurden von einem Luchs gefressen?
»Myrte?«, sagte sie und klang gar nicht mehr so zuversichtlich wie am Abend zuvor.
Die Häsin sah von ihrer Fellpflege auf – die Ringelblumenblütenblätter waren sehr klebrig und nur schwer zu entfernen – und musterte das Gesicht des Mädchens.
»Werde ich Unglück über meine Familie bringen, wenn ich den Korb-Hexen nachlaufe? Ist das nicht verboten? Ich habe keine Angst, nicht um mich.« Ihre Stimme kippte, verriet die Lüge. »Aber meine Mutter … sie hat schon meinen Vater verloren. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn ich etwas Falsches tue, was sie verletzt.« Und doch wanderten Comfreys Gedanken weiter zu dem Luchs-Mädchen, das aus den Büschen hervorgelugt hatte. Sie dachte daran, wie sie aus Ton Luchse getöpfert hatte. An die gelben Weidenzweige an der Stelle, wo sie die Frauen mit den Händen, die so alt wie der Regen waren, beobachtet hatte.
Dünne weiße Wolken schoben sich über den Morgenhimmel. Eine Drossel sauste am Fenster vorbei, dann ein Rotkehlchen.
»Ich weiß nicht, was passieren wird«, sagte die junge Häsin schließlich. »Aber ich weiß, dass die Grünzwillinge uns nicht zusammen losschicken würden, wenn es nicht absolut erforderlich wäre. Trotzdem ist es wahrscheinlich am besten, kein Risiko einzugehen. Und da ich kein Mensch bin: Wie wäre es, wenn du mich als eine Art Vermittler über die Grenze schickst? Ich werde mir diese Korb-Hexen mal genauer ansehen und so viel wie möglich herausfinden