Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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Hase legte die Ohren zurück und hob den Kopf. »Ach herrje, ich? Wie kommst du denn darauf? Ist mir bei diesem schrecklichen Eulenflug etwa ein seltsamer Menschenarm gewachsen?«, fragte er und schaute erschrocken an sich hinab.

      »Nein, nein, es ist bloß, weil … du sprechen kannst, obwohl du ein Hase bist. Was Hasen ja normalerweise nicht tun. Nur die vom Wilden Volk sehen aus wie Tiere und können wie Menschen sprechen«, sagte Comfrey atemlos, die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus. »Haben die Korb-Hexen dich geschickt?« Auf einmal wurde ihr schwindelig. Sie ließ sich auf ihr zusammengerolltes Bettzeug auf den Boden plumpsen. »Stecke … stecke ich in Schwierigkeiten?«

      Der junge Hase sprang zu ihr hinüber. »Korb-Hexen? Schwierigkeiten? Es sieht ganz so aus, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen«, sagte er gut gelaunt und wackelte mit den Schnurrhaaren. »Ich bin übrigens eine Häsin und heiße Myrte. Und um ehrlich zu sein, habe ich nach diesem Eulenflug durchaus Appetit. Hast du vielleicht eine Kleinigkeit für mich zu essen? Mit leerem Magen lässt es sich nur schwer in deiner Menschensprache unterhalten.« Kurz betrachtete das Hasenmädchen die Wolldecke, dann setzte sie sich bequem auf ihre Hinterläufe und schaute Comfrey erwartungsvoll an.

      Comfrey sauste auf leisen Hausschuhsohlen in die Küche und konnte vor Aufregung kaum atmen. Aus dem Steinguttopf beim Fenster nahm sie einen kleinen Eichelkuchen und packte ihn in eine Serviette aus Nesselfasern. Dazu legte sie noch eine Möhre aus der Vorratskiste, dann schlich sie mit dem Essen wieder zurück. Allerdings schätzte Comfrey in der Dunkelheit den Abstand zu ihrem Türrahmen falsch ein, stieß sich mit einem Rums den großen Zeh und fluchte unterdrückt.

      Ihre Mutter, deren Bett im Zimmer nebenan stand, regte sich.

      »Frey?«, rief Maxine schlaftrunken.

      Comfreys Herz klopfte. »Ich habe mir nur Wasser geholt, Mama. Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken«, flüsterte sie laut an der Tür ihrer Mutter.

      Maxine seufzte beruhigt und drehte sich wieder um.

      Comfrey wartete, bis ihre Mutter gleichmäßig atmete. Dann schlüpfte sie zurück in ihr Zimmer, schloss ganz sachte die Tür und legte das Essen vor die Häsin.

      Myrte langte sofort zu. Eine Weile war nichts außer ihrem heißhungrigen Knabbern zu hören.

      »Schon viel besser«, sagte die Häsin schließlich, als sie bereits den kompletten Eichelkuchen und die halbe Karotte verputzt hatte.

      »Myrte?«, fragte Comfrey ungeduldig, nachdem die Häsin den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Was hast du mit gerade rechtzeitig gekommen gemeint?«

      Die Häsin sah zu dem Mädchen hoch. Comfrey hatte sich zwei Kissen aus gewebten Nesselfasern hinter ihren Rücken geschoben und saß gegen die Lehmwand gelehnt im Schneidersitz auf ihrer zusammengerollten Schlafmatte. Im Kerzenlicht schimmerten ihre Zöpfe so dunkel wie Gewitterwolken. Sie waren von der Kletterpartie durch die Weidenbäume zwar etwas zerzaust, hatten sich aber nicht vollständig aufgelöst. Das Mädchen war schlank und groß, wahrscheinlich war sie erst vor Kurzem tüchtig gewachsen und hatte sich noch nicht an ihre schlaksigen Arme und knöchernen Knie gewöhnt, die im Moment unter dem robusten alten Leinenstoff ihres Nachthemdes hervorlugten.

      Myrte näherte sich schnuppernd Comfreys Hand und zögerte. Im Gegensatz zu dem ordentlichen kleinen Haus, den eingezäunten Gemüsebeeten oder den Bienenstöcken und Ziegen roch das Mädchen ungewöhnlich wild. Unter dem Duft von Pfefferminzseife und wildem Lavendel lag ein gewisser scharfer Moschusgeruch. Die Häsin sah wieder hoch. Comfreys Augen setzten sich hell gegen ihre dunkle Haut ab, im Kerzenlicht wirkten sie grünlich, wissbegierig, aber ohne Arglist. Myrte war Expertin und spürte jede Art von Trickserei oder Unehrlichkeit. Diese Dinge lernte jeder Hase schon kurz nach der Geburt.

      »Hör mal«, sagte sie und setzte sich neben Comfrey wieder auf ihre Hinterläufe. »Ehrlich gesagt ist mir das Ganze auch ein Rätsel. Ich bin nicht wie ein normaler Schwarzschwanz-Hase im Unterholz und auf Wiesen aufgewachsen, wo man lernt, herumzuspringen und sich selbst zu versorgen. Ich wurde mit meinem Zwillingsbruder Malve von deinesgleichen großgezogen. Na ja …« Die junge Häsin zögerte. »Von irgendwas zwischen deinesgleichen und meinesgleichen – von den Grünzwillingen.«

      »Den Grünzwillingen? Gibt es sie denn wirklich?«, fragte Comfrey und hielt die Luft an. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein erstauntes Lächeln aus.

      »Aber natürlich!«, sagte Myrte.

      »Und du hast mit ihnen zusammengelebt? Wie war das? Haben sie tatsächlich grüne Haare und …« Comfrey unterbrach sich. »Es tut mir leid. Ich bin einfach so neugierig, verstehst du, weil hier nämlich kaum jemand etwas über das Wilde Volk weiß. Und wenn doch, dann heißt es gleich, es sei ein verbotenes Thema

      »Ist das so? Wie seltsam ihr Menschen doch seid«, sagte die junge Häsin verwundert. »Ja, ich habe fast die ganzen neun Monate meines bisherigen Lebens in ihrem grünen Wagen gewohnt, der von Hirschen gezogen wird. Sie und mein Zwillingsbruder Malve sind meine einzige Familie. Die Grünzwillinge haben uns immer wieder verschiedene kleine Aufgaben gegeben: Einmal sollten wir ein Büschel Bärentraubenblätter herbeiholen, und zwar die Blätter von den Pflanzen, die auf der Felszunge mit dem grünem Marmor wachsen. Ein andermal sollten wir Gauklerblumen sammeln, doch nicht irgendwelche, sondern nur die besonders orange leuchtenden, die auf dem heißesten Hangstück gedeihen. Oder sie trugen uns auf, uns das gebrochene Herz der kurvenreichen Straße näher anzuschauen, wo vor vielen Jahren, in der Zeit, als es noch Automobile gab, Hunderte von Waschbären ermordet wurden.«

      »Straßen können gebrochene Herzen haben?«, flüsterte Comfrey mit großen Augen.

      »Aber natürlich. Und Seelen. Im Grunde genommen sind die Grünzwillinge das, was ihr wahrscheinlich Ärzte nennen würdet«, fuhr Myrte fort. »Doch sie kümmern sich um ganze Berge und Wiesen und Luchsfamilien oder eben um alte Straßen und uralte Geisterscheunen. Um alles, was während des Zusammenbruchs oder in der Zeit danach verwundet wurde. Und mein Bruder und ich sind – oder besser gesagt, waren bis jetzt – ihre flinken Helfer. Sie haben uns beigebracht, uns in der Menschensprache mit ihnen zu unterhalten. Sie haben uns die Straßen und Wege durch alle Hügel und Täler und Berge und Wüsten des Hinterlandes gezeigt.

      Und heute Abend baten sie uns, tapfer zu sein und zwei Eulen zu gestatten, uns hoch hinauf in den Nachthimmel zu tragen. Sie erklärten uns, das sei unsere bislang wichtigste Aufgabe. Angelika, die Zwillingsschwester, sagte, dass mich die Eule zu dem Mädchen Comfrey fliegen würde, das in einem Strohlehmhaus in einem Dorf namens Erle wohne. Ich dürfe unterwegs nicht zappeln, und wenn ich bei dem Mädchen sei, solle ich ihr einfach nur folgen. Aber ich sollte sie, wenn nötig, auch führen, weil es hier um Leben und Tod gehe – und zwar nicht nur für sie und mich, sondern für ganz Farallone. Meinem Zwillingsbruder Malve ist das Gleiche passiert, er wurde allerdings in die Stadt …«

      »Die Stadt?«, fragte Comfrey heiser, ihr Herz klopfte wie verrückt. »Und du wurdest zu mir geschickt? Die Grünzwillinge wissen also auch, wie ich heiße, genau wie das Luchs-Mädchen?«

      »Luchs-Mädchen?«, fragte Myrte. Sie putzte sich ihr Brustfell und dachte nach. »Irgendetwas scheint hier wirklich gerade im Gange zu sein …«

      »Ich habe kaum etwas gesagt!«, stammelte Comfrey, die inzwischen vor Aufregung fast glühte. »Das Luchs-Mädchen hat mit mir gesprochen! Und dann habe ich heute aus Versehen ein paar Korb-Hexen beobachtet, und sie haben mich gefragt, ob ich lernen möchte, meinen Schicksalskorb zu flechten!«

      »Haben sie das tatsächlich?«, fragte Myrte mit wackelnder Nase. »Du bist aber auch ein neugieriges Menschenmädchen, genau wie du riechst. Wie ich schon vermutet habe: Es scheint, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen! Du kannst dich nicht einfach auf eigene Faust in die Gebräuche und Sitten des Wilden Volkes einmischen. Allerdings weiß ich gar nicht, was wir eigentlich gegen all das tun sollen.«

      »Gegen was?«, fragte Comfrey und lehnte sich nach vorn.

      »Genau das ist das Problem«, antwortete die junge Häsin. »Darüber haben die Grünzwillinge


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