Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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Comfrey die Frauen beobachtete, war da plötzlich eine ungeahnte Sehnsucht in ihr. Sie war sogar noch stärker als beim Anblick des Luchs-Mädchens. Wie gerne hätte Comfrey auch solche Hände gehabt, die so sicher, so schnell und so stark waren und Körbe von solcher Schönheit erschufen. Noch nie hatte sie jemanden so lachen hören wie diese Frauen. Als Comfrey sich noch ein wenig weiter nach vorn beugte, rutschte ihr Fuß ab. Knackend zerbrach ein Zweig, und ihr Schuh klatschte in den Schlamm.

      Eine der Frauen sah auf. Ihre Augen waren dunkler als ihre wunderschöne Haut, die die Farbe von der Rinde des Faulbaums hatte. Ihr senfgelbes Kleid hob sich leuchtend davon ab. Mit flinken Händen flocht sie unverdrossen weiter.

      »Hallo, du ungezogenes Dorfmädchen«, sagte sie mit rauchiger Stimme. »Möchtest du dich zu uns ans Feuer setzen? Möchtest du lernen, wie du den Korb deines Schicksals flichtst? Du bist doch auf der Suche nach deiner Bestimmung, Mädchen, nicht wahr?« Sie blinzelte Comfrey zu und lächelte so breit, dass Comfrey ganz anders wurde. Man hatte sie entdeckt!

      Keuchend drehte sie sich um, rutschte im Schlamm aus, schlug die Weidenzweige zur Seite und rannte den ganzen Weg bis nach Hause. Dabei zersprang ihr fast das Herz, aus Angst wie auch vor unbändiger Freude.

      4

      Malve

      Was war das denn? Du hast doch Hände, oder nicht?«, schimpfte der kleine tropfnasse Hase, während er sich und seine langen Ohren unter Tin hervorschob. »Als wäre es nicht schon schlimm genug, als Hase von einer Eule getragen zu werden, fängst du mich noch nicht einmal auf! Dabei hat diese Dämonin von einer Eule ihr Bestes gegeben und mich zielgenau losgelassen.«

      Der Regen hatte gerade ein wenig nachgelassen, und der junge Hase richtete sich auf und schüttelte sich, als wollte er einen üblen Geruch loswerden. Dann beugte er sich nach vorn und schnupperte an Tins Fingern.

      »Über solche Hände habe ich schon viel gehört. Sehr schlau, sehr gefährlich, sagt man. Also, im Moment finde ich sie nicht sonderlich beeindruckend.«

      Tin staunte nicht schlecht. Er setzte sich langsam auf, schaute auf seine Hände, die vom Sturz brannten, und öffnete und schloss sie. Dann fiel sein Blick auf den Hasen, der ihn mit seinen ausdrucksstarken Augen unverwandt musterte. Kurz dachte Tin, er wäre zu heftig auf den Kopf gefallen. Wahrscheinlich war der sprechende Hase eine Halluzination.

      Der junge Hase schnupperte wieder an seinen Fingern. »Riecht, als wenn du in Schwierigkeiten steckst. Da komme ich ja genau richtig. Hoffentlich brate ich heute Abend nicht bei irgendjemandem über dem Feuer. Na, dann lass uns mal zusehen, dass wir dich aus der misslichen Lage befreien, die deine Hände so zum Schwitzen bringt. Die Grünzwillinge haben keinen Zweifel daran gelassen, dass du meine Hilfe brauchst.« Sein schwarzer Schwanz zitterte stolz. »Du kannst mich übrigens Malve nennen.«

      Tins wilde Locken lagen angeklatscht am Kopf, und seine Kleider klebten so sehr an seiner Haut, dass sich seine Brust und seine Schultern, die durch Jahre voller Hunger knochig und mager geworden waren, deutlich abzeichneten. Er starrte den Hasen fassungslos an.

      »Was, und sprechen kannst du auch nicht? Zu einem seltsamen Menschen habt ihr mich da geschickt, alte Grünzwillinge. Wir haben ja schon immer vermutet, dass das Leben innerhalb der Stadtmauern unerfreulich ist, aber das ist noch schlimmer, als ich …«

      »Nein, nein, ich kann sprechen. Tut mir leid«, platzte es so unvermittelt aus Tin heraus, dass Malve erschrocken zurückwich. »Ich bin Tin. Kommst du von … jenseits der Mauer? Ich dachte, alle Tiere wären tot! Ich dachte, das wäre ein gefährlicher Ort voller Krankheiten und …«

      »Alle tot?!«, rief der junge Hase und zuckte erheitert mit den Ohren. »Alle tot! Oh nein, ganz im Gegenteil, mein Freund. Da draußen ist es viel schöner als hier, so viel steht fest. An diesem schrecklichen Ort gibt es ja weit und breit kein Fitzelchen Grün, und ich bin am Verhungern!«

      Das Geräusch von schweren, schnellen Schritten aus den Gängen unterm Innenhof schreckte beide auf.

      »Um ehrlich zu sein, stecke ich ziemlich in Schwierigkeiten«, sagte Tin, der noch immer nicht begreifen konnte, was gerade passierte. »Und ich habe keine Ahnung, wie ich da rauskommen soll.« Er fuhr sich durch seine nassen Locken.

      »Na, dann mal los!«, sagte Malve, der bereits davonhoppelte. »Mit bravourösen Fluchten kennen wir Hasen uns bestens aus.«

      »Das ist keine Flucht!«, rief Tin. »Das ist eine Rettungsaktion!«

      »Wie du meinst«, erwiderte der Hase.

      Tropfnass sausten Tin und Malve die Stufen hinab, die auf der anderen Seite des Innenhofes unter die Bibliothek führten. Tin blieb kurz stehen, um die kleine Rapsöllampe aus seinem Rucksack zu holen und sie mit einem Stück gestohlenem Feuerstein anzuzünden. Sie warf nur ein schwaches flackerndes Licht an die Wände, was aber ausreichte, um sich in den Tunneln zurechtzufinden.

      In den Gängen der Katakomben hinterließen sie nasse Schuh- und Pfotenabdrücke. Tin lief vorneweg und versuchte dabei keuchend, dem Hasen seine Einsiedlerspinne auf Rädern zu erklären. Es war natürlich verrückt, seinen Verfolgern entgegenzulaufen, aber er durfte nicht zulassen, dass sie sein Wunderwerk an sich rissen.

      Plötzlich kam Malve in dem dunklen Gang zum Stehen. Weiter hinten befand sich die Tür zu dem Raum, in dem Tins Erfindung versteckt war. Malve richtete seine Ohren nach vorn.

      »Sie sind schon da und unterhalten sich«, sagte er.

      »Woher weißt du das?« Tin konnte nichts hören.

      »Ich habe große Ohren, Dummerchen.«

      Tin spürte, wie sich sein Herz vor Verzweiflung zusammenzog. Sie waren ihm zuvorgekommen! Es war zu spät. Er saß in der Falle. Aber noch schlimmer war, dass sie ihm seine Einsiedlerspinne wegnehmen würden.

      »Du darfst nicht so einfach aufgeben!«, sagte Malve. Er konnte Tins Gedanken lesen wie ein Buch. »Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen!«

      »Aber es ist aussichtslos«, sagte Tin fahrig. »Glaub mir. Von den Klosterbrüdern willst du nicht gefangen werden.«

      »Wer spricht denn davon, gefangen zu werden? Wir müssen eben listig sein. Wie Füchse oder Raben«, sagte der Hase ein wenig selbstgefällig. »Wir Hasen lernen so viel wie möglich von unseren Fressfeinden, indem wir sie belauschen. Ich habe eine Idee. Du schreist jetzt so, als wärst du hingefallen und hättest dir ein Bein gebrochen. Locke sie zu uns.«

      Tin schnaubte. Das war der dümmste Einfall, von dem er je gehört hatte.

      »Und wir verstecken uns hier«, fuhr Malve unbeirrt fort. »In diesem praktischen Riss in der Felswand.«

      Tin hob seine Lampe, und das Licht fiel auf eine enge Spalte. »Woher wusstest du, dass dort eine Spalte ist?«

      »Luftströmungen. Riecht anders.«

      »Hauptsache, die Klosterbrüder drehen sich nicht um, wenn sie an uns vorbeilaufen«, brummte Tin.

      »Hoffentlich nicht«, sagte Malve. »Für den Fall der Fälle zeige ich dir, wie du erstarrst, und zwar ganz genau wie ein Hase. Eine effektive und lang erprobte Technik. Werde ruhig und richte deine Augen ins Nichts, atme so flach wie möglich und richte auch deine Gedanken ins Nichts. Sei so unauffällig und uninteressant, dass sie deine Anwesenheit überhaupt nicht wahrnehmen, auch wenn sie sich umdrehen.«

      Tin musterte den Hasen. Selbst mit aufgerichteten Ohren reichte er ihm nur bis zu den Knien, trotzdem stand der Hase voller Selbstvertrauen und mit wackelnder Nase neben ihm.

      »Und wie geht es weiter?«

      Der Hase drehte seine Ohren nach hinten. »Das weiß ich auch nicht.«

      Die übermütige Tapferkeit des jungen Hasen erinnerte Tin an sich selbst, und er musste lächeln. Dann schrie


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