Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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Das Erlebnis hatte sie überraschenderweise weder verängstigt noch verrückt werden lassen. Ganz im Gegenteil, danach war sie eigenartig freudig erregt gewesen. Zugetragen hatte sich dies alles nur wenige Wochen nach ihrem zwölften Geburtstag. Comfrey war ihrer Mutter und Tante und ihren drei älteren Cousinen vom Strand hinauf zum Weg gefolgt. Dort hatten sie am Vormittag Treibgut gesammelt. Comfrey hatte drei grüne Glasflaschen gefunden, an denen kein Stückchen fehlte, und war sehr stolz auf sich gewesen. Sie hatte die Flaschen gegen das Sonnenlicht gehalten und das Grün bewundert und war ihren Cousinen nachgetrottet, die sich über ihre wachsenden Brüste und einen Jungen namens Jonah unterhielten, der in dem Dorf Pelikan wohnte, das näher am Meer lag als die anderen. Comfrey starrte über das weitläufige Sumpfgebiet jenseits der Straße, auf die steilen, mit vielen Büschen bewachsenen Berge, die dahinter lagen. Das Gebiet des Wilden Volkes erstreckte sich auf der anderen Seite des Bergkamms und war von dieser Stelle aus nicht einsehbar. Aber Comfrey faszinierte es trotzdem, sich auszumalen, was hinter dem Bergkamm wohl alles lag.

      Plötzlich landete ihr Blick auf dem Gesicht eines Mädchens, das hinter dicht beieinanderstehenden Kojotenbüschen und Goldmohn verborgen war. Das Mädchen trat aus den Büschen hervor. Comfrey stellte erschrocken fest, dass das Mädchen die spitzen Pinselohren eines Luchses und leichte Streifen im Gesicht hatte. Ihr Kleid war ein Stück grünes Tuch, ihre Beine waren pelzig, und sie hatte Pfoten. Als die Sonnenstrahlen und der Wind über die Berge strichen, schien sich die Linie, wo der Luchs endete und das Mädchen begann, zu verschieben. Das Mädchen trug eine Krone aus schwarz getupften Ammerfedern und eine Kette aus Knochen.

      Einen Moment lang sahen sich das Luchs-Mädchen und Comfrey an. Comfrey war bisher noch niemandem mit so verschmitzten und lebhaften Augen begegnet. Sie glitzerten regelrecht.

      »Hallo, Comfrey«, sagte das Luchs-Mädchen.

      Eigenartigerweise konnte Comfrey ihre Worte selbst über die Straße und den Sumpf hinweg genau verstehen. Comfrey schluckte und flüsterte heiser »Hallo«.

      Der verbotene Nervenkitzel und das zarte Gefühl von Freundschaft ließen Comfrey zittern. Aber es geschah nichts. Weder stürzte sich das Luchs-Mädchen mit scharfen Krallen auf sie, noch bebte die Erde. Das Luchs-Mädchen lächelte einfach nur, mit blitzenden Zähnen. Dann machte sie kehrt und lief zurück ins Gestrüpp. Aus dem grünen Flickenkleid ragte ihr kurzer, gestreifter Schwanz hervor. Er bewegte sich, als würde er Comfrey zu sich winken. Sie schaute sich noch einmal um, aber nicht so, wie eine Katze einen Vogel ansieht, sondern einladend, wie ein Mädchen, das ihrer neuen Freundin etwas Wunderbares und Geheimnisvolles zeigen will.

      Plötzlich rief Comfreys Mutter, sie solle sich beeilen und nicht so trödeln, und im selben Augenblick war das Luchs-Mädchen verschwunden. Seitdem hatte Comfrey fast jeden Tag nachgesehen – auch den zeitigen Winter über, als es tagsüber noch immer um die zwölf Grad warm wurde, die Nachttemperatur selten unter fünf Grad fiel, die Pilze im Wald sprossen und es so richtig zu regnen anfing. Trotzdem war nicht die geringste Spur von dem geheimnisvollen Mädchen aus dem Wilden Volk zu entdecken gewesen. Woher sie wohl ihren Namen gewusst hatte?

      Comfrey war schon immer ein wissensdurstiges, selbstständiges Kind gewesen, das gerne unter Steinen nach Salamandern suchte und Gäste beim Abendessen ständig unbefangen nach dem Wilden Volk ausfragte. Aber seit jenem Tag im Dezember verspürte sie eine geradezu unbändige Neugier. Maxines Auskünfte über das Wilde Volk waren nie ausführlich genug, genauso wenig wie die der alten Frauen auf dem Dorfplatz. Ganz zu schweigen von den Erzählungen der alten Männer, die sich unten am Fluss bei den Brennnesseln über ihre Fischernetze beugten und ihre Holzpfeifen pafften. Comfrey traute sich nicht, jemandem ihr Geheimnis anzuvertrauen. Vielleicht hieße es dann, sie wäre verflucht – oder sie wäre schuld daran, wenn alle verflucht würden. Trotzdem stahl sie sich immer wieder davon, mal morgens vor dem gemeinsamen Weben oder nachmittags vor dem Pilzesammeln. Dann spähte sie vom Wegesrand aus über das Sumpfgebiet, wo hinter den Bergen das Land des Wilden Volkes begann.

      »Nun gut«, sagte Maxine nach kurzem Zögern, in dem sie versucht hatte, all die unausgesprochenen Worte in den Augen ihrer Tochter abzulesen. Durch das Küchenfenster strömte weiches Winterlicht und fiel auf Comfreys Füße, die in Kaninchenfellpantoffeln steckten, und auf ihre dünnen mädchenhaften Knöchel. Eigentlich verlangte Comfrey nichts Großes, und die Opferplätze lagen nicht weit hinter dem Ortsrand. Seit ihrem vierten Lebensjahr hatte sie Maxine an jedem Feiertag mit den Opfergaben geholfen, und den Text konnte sie auswendig. Normalerweise richteten die Mädchen die Gaben erst nach ihrer ersten Blutung allein her, aber diese Regel war schon alt und wurde nicht mehr oft erwähnt. Außerdem schien es Comfrey sehr wichtig zu sein, auch wenn Maxine nicht ganz verstand, warum.

      »Vater hätte mich bestimmt gehen lassen«, platzte es aus Comfrey heraus, die das Zögern ihrer Mutter missverstand. Sie bereute ihre Worte sofort, aber jetzt ließen sie sich nicht mehr zurücknehmen. Ihr Vater Doorn war der einzige Mensch, den sie kannte, der die Grenzen ihrer Welt hinter sich gelassen hatte. Angetrieben von der Vorahnung einer drohenden Katastrophe, die er verhindern wollte, war er aus ihrem friedlichen Dorf Erle zur Stadtmauer aufgebrochen. Damals war Comfrey vier Jahre alt gewesen. Eines Morgens war ihr Vater einfach verschwunden. Wahrscheinlich hatte Maxine von seinen Befürchtungen gewusst, aber sie sprach nie darüber. Comfrey war beigebracht worden, dass niemand aus dem Hinterland jemals in die Stadt gelassen wurde, aus der Stadt aber auch niemand jemals hinaus ins Hinterland gelangte. Der Weggang ihres Vaters war beispiellos.

      »Er will die Mauer niederreißen!«, sagten einige. Andere nannten ihn tollkühn. Und ein paar fanden ihn heldenhaft. Je nach Stimmung schloss sich Maxine einer dieser Meinungen an.

      Das alles lag nun schon acht Jahre zurück, und Doorn war nicht wiedergekommen. Nach einem Jahr ohne die geringste Nachricht hatten die Bewohner von Erle ihn für tot erklärt und eine Trauerfeier abgehalten. Comfrey zuliebe akzeptierte Maxine die offizielle Sichtweise des Dorfes. Aber sowohl in ihr als auch in ihrer Tochter schlummerte noch ein kleiner Funke Hoffnung. Comfrey und Maxine sprachen nie darüber, und doch hegten beide ihn auf ihre eigene stille Art und Weise. Ihr Doorn war einfach zu schlau und zu mutig, um zu sterben. Womöglich war das ein naiver Gedanke, denn niemand konnte den Tod bezwingen. Doch Comfrey war sich sicher, dass sie wüsste, wenn er wirklich gestorben wäre. Tief in ihrem Herzen wüsste sie es.

      Nun aber kämpfte Maxine gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen an. »Ich wollte gerade Ja sagen, Kind«, erklärte sie schließlich und versuchte, nicht zu streng zu klingen. Dabei hantierte sie an einem Einmachglas mit Holunderbeerentinktur herum, das abgeseiht werden musste. Sie war die Kräuterheilkundige von Erle, und einige Kinder waren erkältet. »Natürlich traue ich dir zu, die Opfergaben zu überbringen. Und natürlich bist du alt genug, mein Schatz. Dein Vater … du hast recht. Er wäre einverstanden. Er wäre so stolz auf die mutige junge Frau, zu der du herangewachsen bist.«

      Comfrey rannte zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie. Dann brach sie in Tränen aus – voller Schuldgefühle, weil sie ihr etwas verheimlichte, voller Trauer bei dem Gedanken an ihren Vater, aber auch voller Aufregung, weil sie ahnte, dass sich bald etwas ändern würde.

      Am nächsten Morgen, dem ersten Tag im Februar und dem Tag des Kerzenfestes, trat Comfrey in ihren robustesten Wanderschuhen aus Wildleder und ihrem blauen Lieblingswanderumhang, den sie nur zu besonderen Anlässen anzog, stolz aus ihrem Lehmhaus. Das rote Stoffbündel mit den Opfergaben war sorgsam in einem Weidenkorb verstaut. Comfrey war beim Gehen so vorsichtig, als würde sie einen Kuchen mit brennenden Kerzen tragen. In der anderen Hand hielt sie einen Eimer voller Küchenabfälle für die Graugänse, die in einem ordentlichen Pferch gleich neben ihrem Haus lebten.

      Nachdem Comfrey die Gänse gefüttert hatte, ließ sie den Eimer beim Tor stehen und lief weiter durch den Gemüsegarten, den sie und ihre Mutter hegten und pflegten und in dem jetzt aber nur noch die braunen Stängel der Sommerdisteln zwischen Reihen aus Grünkohl und Winterkartoffeln aufragten. Sie ging an den Rand des Gartens, wo Holzkästen in Rot und Gelb und Blau und Grün zwischen hochgeschossenen Rosmarinbüschen zu einem Kreis angeordnet standen. So wie jeden Tag blieb Comfrey inmitten der Bienenstöcke stehen und erzählte ihnen ihre Neuigkeiten.

      »Vielleicht träumt ihr ja vom Sommer«, begann sie


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