Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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wurde ihm klar, dass er nicht mehr verstand als damals – weder wusste er, wie Spinnenseide entstand, noch, was es mit all den anderen Geheimnissen der Tiere auf sich hatte. Ganz zu schweigen davon, was mit dem verunglimpften Hinterland außerhalb der Stadtmauern los war. Die ernüchternde Realität seines Lebens holte ihn wieder ein: Er war ein Waisenkind und gehörte seit seiner Geburt den Brüdern des Fünften Klosters der Gnade und des Fortschritts. Ganz egal, was er tat, was er erfand oder entdeckte, er würde wahrscheinlich nie frei sein. Selbst dann nicht, wenn ihm gelänge, wonach alle täglich strebten, und er herausbekäme, wie man Altmetall in Sternengold verwandelte. Würde er jemals sein eigener Herr sein und nicht ihr Eigentum?

      Täglich mussten die Waisenjungen und -mädchen der fünf Stadtklöster sich anhören, dass sie weniger wert waren als der letzte Rest Sternengold, der die Stadt mit Strom versorgte. Dass ihre Körper nutzlos und entbehrlich waren. Wohl auch deswegen zwangen die Brüder Kinder, mit giftigen Stoffen zu arbeiten, um neues Gold zu erschaffen. Einige starben bei dem Versuch, doch das nahmen sie in Kauf. Erst letzte Woche war eine Phiole voll flüssigem Quecksilber explodiert und hatte zwei Jungen, die in der Schicht vor Tin gearbeitet hatten, getötet. Vater Ralstein hatte eine kurze Ansprache gehalten und lobend erwähnt, die Jungen hätten sich dem höheren Ziel der Stadt, nämlich dem Fortschritt und der Perfektion, geopfert. Es gab keine Trauerfeier. Solche Dinge passierten häufig, weshalb Tin während der Rede nur ein frostiger Schauer über den Rücken gelaufen war. Viele Jungen waren abgestumpft und mutlos, und nur eine einzige Sache hielt Tin davon ab, genauso zu werden: Er erfand Geschichten oder erschuf mit seinen eigenen Händen kleine Apparate. Sonst wäre das Gefühl, gegen die Brüder, ja, sogar gegen die Steinmauern kämpfen zu wollen, übermächtig geworden und das Leben im Kloster vollkommen unerträglich.

      Eine plötzliche Bewegung ließ Tin aus seinen Gedanken hochschrecken. Das Licht der Öllampe schien durch den dunklen Raum zu tanzen. Und drehten sich da nicht auch gut geölte Räder? Beinahe hätte er überrascht aufgeschrien. Die Einsiedlerspinne bewegte sich! Sie rollte vorwärts und beugte dabei leicht die Beine.

      Instinktiv umklammerte Tin das Lenkrad, damit die Spinne nicht gegen die Wand lief. Unter seiner Berührung leuchtete das Metallrad golden auf. Und jedes andere Metallteil in der Fahrerkabine auch, und zwar in der Farbe von Sternengold! Jetzt schrie Tin wirklich. Dann sprang er mit einem Satz durch die Tür des Fahrerhauses und fiel auf den Steinboden, wobei beinahe seine Lampe zerbrach. Die Einsiedlerspinne kam sofort zum Stehen, und das Leuchten erlosch.

      Tin setzte sich benommen auf und keuchte. Er begann zu zittern. Was war da eben passiert? War das Zauberei? War das echtes Sternengold, oder sah es nur so aus? Er stand auf und legte vorsichtig einen Zeigefinger auf seine Erfindung. Nichts geschah. Tin holte tief Luft, kletterte wieder in die Fahrerkabine zurück und setzte sich. Diesmal war er nicht mehr ängstlich, sondern vollkommen konzentriert und behielt alles – jeden Draht und jedes noch so kleine Stück Metall – im Auge, falls sich die unglaubliche Verwandlung noch einmal vollzog. Ihn überkam ein eigenartiges Gefühl. Es war, als würde sich in ihm bis in die Mitte seines Körpers ein warmes Licht ausbreiten. Ein goldener Stern. Und dann bewegte sich die Einsiedlerspinne wieder, genau wie eben. Der Motor unter den Sitzen schnurrte leise. Die Räder an den flexiblen Beinen drehten sich. Tin packte das Lenkrad und beobachtete, wie es zusammen mit dem Rest der Einsiedlerspinne erneut den goldenen Farbton annahm.

      Die nächste Stunde sauste und flitzte Tin in der dunklen Steinkammer umher und probierte aus, wie schnell die Einsiedlerspinne werden konnte oder welche Richtungswechsel möglich waren. Er lernte, die acht Beine gleichzeitig zu steuern, und war erstaunt, wie geschmeidig und naturgetreu seine Schöpfung war und wie gut sie funktionierte. In diesem Moment spielte das Wie und Warum dieser wunderbaren Lebenskraft keine Rolle. Tin wusste lediglich, dass er noch nie so glücklich gewesen war. Über alles andere würde er später nachdenken, morgen in den Alchemie-Werkstätten, während er das Quecksilber zerkleinerte, das sie nun schon über ein halbes Jahr für die neuen Experimente der Brüder benutzten.

      Ein Geräusch von draußen ließ ihn unvermittelt innehalten. Die Einsiedlerspinne blieb lautlos stehen, ihr schwach schimmerndes Licht fiel auf die Wände. Tin spitzte die Ohren. Hatte das nicht wie ein unterdrücktes Husten geklungen? Und war jetzt hinter der Steintür nicht das Scharren von Stiefeln zu hören? Tin atmete nur flach. Aber inzwischen war es in den Katakomben wieder ganz still, so still, dass es in seinen Ohren rauschte. Vielleicht hatte er sich das Geräusch ja nur eingebildet. Oder es war von der Einsiedlerspinne gekommen und hing mit den Bremsen oder einem Rad zusammen. Eine Weile saß er noch regungslos da und lauschte angestrengt. Doch außer seinem eigenen Atem hörte er nichts. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass die Einsiedlerspinne von den Brüdern entdeckt wurde. Was auch immer die Einsiedlerspinne zum Laufen brachte, hatte etwas mit Sternengold zu tun; dem Sternengold, das die Brüder um jeden Preis haben wollten. Tin verstand nicht, warum sich seine Erfindung plötzlich bewegte, aber wenn die Brüder sie in ihre Finger bekämen, wäre ihre Schönheit und Rätselhaftigkeit bestimmt für alle Zeit verloren.

      Doch das Geräusch hatte sicher nichts zu bedeuten, hier unten war niemand. Er achtete schließlich stets darauf, sich unbemerkt in die Katakomben zu schleichen. Trotzdem stieg er nun lieber aus der Einsiedlerspinne, schob sie zurück in die Ecke und zog die Teppiche und ein wenig von der Plane darüber. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis das goldene Leuchten verblasste. Kurz meinte Tin, dass auch seine Hände leuchteten. Aber wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, denn es war schon sehr spät, und er zitterte vor Müdigkeit und Aufregung. Er musste das alles unbedingt Sebastian erzählen! Bis jetzt hatte er die Einsiedlerspinne auch vor ihm geheim gehalten, doch er brauchte jemanden, mit dem er dieses Wunder teilen konnte, und Sebastian war sein bester Freund.

      »Bis morgen Abend dann«, flüsterte er der Einsiedlerspinne zu und erwartete fast, dass sie antwortete. Aber sie saß einfach nur schweigend unter ihren Teppichen.

      Der Weg zurück schlängelte sich durch die Kellerküchen, verlief unter der Bibliothek, den Alchemie-Werkstätten und der Metallwerkstatt entlang und ging dann im Zickzack durch verlassene und staubige Gänge. Leise kroch Tin hinter alten Weinfässern vorbei, die die Brüder mit niemandem teilten. Und er huschte an Bohnensäcken und Wannen voller geschmackloser Haferflocken vorüber, die sie täglich zu essen bekamen. Der Hafer stammte aus dem Landwirtschaftsbetrieb von Albion, wo auch sämtliche Düngemittel und Pestizide produziert wurden, damit Jahr für Jahr ausreichend Nahrungsmittel für die Bürger der Stadt angebaut werden konnten, und Raps, aus dessen Samen das Laternenöl stammte.

      Tin näherte sich der Falltür, die er normalerweise als Ein- und Ausstiegsluke benutzte, und zog einen raffinierten Dietrich aus seiner Tasche, den er und Seb angefertigt hatten. Diese Falltür lag dem Flügel mit den Schlafsälen am nächsten. Sie befand sich neben einem abgetretenen roten Teppich in einem der Nebenräume, die sich an den Versammlungssaal anschlossen, wo Vater Ralstein wöchentlich seine Predigt hielt. Mitten im Raum stand ein großer Tisch, der von einigen riesigen Leuchtern gesäumt wurde, aber soweit Tin wusste, hielt sich hier nur selten jemand auf.

      Er stieg die Kellertreppe hinauf, und als er die letzte Stufe erreicht hatte und die Hand schon nach der Falltür ausstreckte, hörte er die Stimmen zweier Männer. Stuhlbeine quietschten, irgendwer hatte sein Gewicht verlagert. Aber es war doch bereits weit nach Mitternacht. Warum waren die Brüder noch wach? Tin war schon Dutzende Male zu so später Uhrzeit durch genau dieses Zimmer gegangen, und es war bisher immer leer gewesen. Dann hörte er, wie sein Name fiel, und ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. Reglos kauerte er sich unter der Luke zusammen.

      »Martin Hyde heißt er also? Nun, möglicherweise hat es sich ja tatsächlich gelohnt, mich zu dieser Geisterstunde aus dem Bett zu holen.« Der Sprecher brach in ein tiefes Gelächter aus.

      Ein anderer, der Stimme nach jüngerer Mann antwortete in einem weinerlichen Tonfall.

      Die Stimmen verrieten Tin noch nicht, wer die beiden Männer waren, aber der jüngere klang sehr angespannt, und Tin musste unwillkürlich an Bruder Warren denken, diesen schmächtigen stillen Zeitgenossen, der in der Bibliothek ständig Texte abschrieb. Tins Herz schlug so laut, dass er sich einen Moment lang nicht auf die Worte der beiden konzentrieren konnte. Sollte er lieber umdrehen und eine andere Falltür wählen,


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