Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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er einfach auf der Treppe abwarten, bis sie gegangen waren? Warum sprachen sie überhaupt über ihn?

      Tin achtete auf die Stimme des Älteren, und ihm wurde klar, warum er ihn nicht gleich erkannt hatte: Es war Vater Ralstein höchstpersönlich! Mit dem Abt des Klosters hatten die Jungen nie etwas zu tun, außer wenn sie seinen wöchentlichen Predigten über Gnade und Fortschritt lauschten, die er mit dröhnender Stimme vortrug. Jetzt aber unterhielt er sich in ganz normaler Lautstärke, und Tin wusste nur wegen des tiefen Lachens, um wen es sich handelte. Es war ein furchtbares Lachen. Tin lauschte angestrengt.

      »Und du behauptest also, dass dieses Ding, das er gemacht hat – dieser Apparat –, wie eine Spinne geformt ist? Und dass er eine Möglichkeit gefunden hat, sie in Gold zu verwandeln?«, fragte Vater Ralstein.

      Bei seinen Worten lief Tin der Schweiß über die Stirn, und er bekam einen ganz trockenen Mund. Woher wussten sie von seiner Einsiedlerspinne? Hatte er sich das Geräusch vorhin also doch nicht eingebildet? Wie lange hatten sie ihn beobachtet? Und warum war ihm das nicht aufgefallen? Seine Einsiedlerspinne! Sie war sein Geheimnis, und das Einzige auf dieser Welt, das wirklich ihm gehörte. Wenn er sich vorstellte, dass die Brüder sie in ihre Finger bekämen und dieses wundersame Gold an sich rissen, hätte er fast vor Wut platzen können.

      »Ja, Vater, ja!«, sagte Bruder Warren mit erhobener Stimme. »Das hört sich unglaublich an, ich weiß, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Wenn der Junge darinsitzt, verwandelt sich das Ding in pures Gold, und es bewegt sich vorwärts, genau wie eine Spinne auf acht Beinen. Es ist unglaublich!«

      »Deine Aufregung ist verständlich, Bruder«, sagte Vater Ralstein. »Doch woher weißt du, dass es wirklich Sternengold ist, das wir selbst seit Hunderten von Jahren vergeblich herzustellen versuchen? Erinnere dich an die unzähligen Male, als ein Junge in den Alchemie-Werkstätten irgendetwas Sternenähnliches erschaffen hat. Der goldene Schimmer hielt nie länger als eine Woche an und schmolz im Sternenbrecher zu einem Nichts zusammen. Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

      »Ja, Vater. Aber die Maschine läuft, verstehst du? Von irgendetwas muss sie ja angetrieben werden, und das ist bestimmt kein gewöhnlicher Treibstoff. Der Junge hat eine sehr wichtige Entdeckung gemacht, er hat das Geheimnis gelüftet, welche Kräfte dem Sternengold innewohnen. Wir wussten schon immer, dass er außerordentlich schlau ist. Deswegen habe ich ihn auch ständig im Auge behalten«, sagte Bruder Warren nicht ohne Stolz.

      Tin wurde ganz bange. Er hatte seine Einsiedlerspinne nicht als Werkzeug für die Brüder gebaut, sie war einfach nur seiner Fantasie entsprungen. Und jetzt wollten sie ihm die Einsiedlerspinne wegnehmen und sie so lange untersuchen, bis alle Wunder verschwunden waren, so wie sie es mit sämtlichen Dingen machten. Sein ganzes Leben lang hatte er zu hören bekommen, dass seine Bemühungen, Gold herzustellen, der Gemeinschaft dienten, dem Wohl der Stadt, damit sie wieder so prachtvoll wurde wie früher. Aber so froh und glücklich wie heute Nacht hatte er sich in all den Jahren nicht gefühlt. Er würde ihnen den Zauber der Einsiedlerspinne nicht einfach verraten!

      »Weißt du, Bruder Warren, wie bedenklich niedrig unsere Sternengold-Reserven inzwischen sind?«, fragte Vater Ralstein düster. »Bei den jetzigen Verbrauchsmengen werden sie nicht mal mehr ein Jahr reichen. Womöglich nicht einmal mehr über den Frühling, es sei denn, wir schränken den Verbrauch in der Stadt drastisch ein. Und ich spreche vom letzten Sternengold der ganzen Stadt. Inklusive dem, was wir von den Fassaden und aus den Schmuckschatullen der Frauen zusammenkratzen konnten.«

      »Ja, Vater, ja! Daher …«

      Doch Vater Ralstein ignorierte die Schmeicheleien des Bruders. »Ich erinnere mich an die Geschichten, die mir mein Urgroßvater erzählt hat, als ich ein kleiner Junge war, über die Kindheit seines eigenen Urgroßvaters in der Zeit vor dem Zusammenbruch. Damals strahlte die Stadt wie ein großer goldener Stern, sogar heller als die Sonne und noch vollkommener. Nun sieh dir an, wie heruntergekommen die Stadt inzwischen ist. In was für entwürdigenden Zuständen wir leben. Die ungepflegten Bedürftigen, die unsere Generatoren betreiben und Tag und Nacht die Wasserräder drehen, nur damit unsere Laternen brennen. Das ist erbärmlich!«

      »In der Tat, das ist eine Schande!«, bekräftigte Bruder Warren. »Aber vielleicht ist das jetzt bald Vergangenheit, Vater?«

      »Oh, mein lieber Bruder Warren, wie wenig du doch weißt!« Vater Ralstein hörte sich allerdings keineswegs niedergeschlagen an, seine Stimme strotzte nur so vor Zufriedenheit. »Ich werde dir etwas verraten, Bruder. Es gibt eine geheime Verfügung, die seit der Zeit des Zusammenbruchs von Klostervater zu Klostervater weitergegeben wurde – nämlich an uns, die wir die Reste des Sternenpriester-Wissens in uns tragen. Aufgeschrieben wurde sie von Solomon Pierce, einem der letzten Männer, der Sternenbilder deuten konnte. Er ist an einer Seuche gestorben, aber vorher hat er noch zwei Botschaften hinterlassen.

      Die erste besagt, dass der Fluss Lutea an seinem zweihundertsten Todestag wieder sauberes Wasser mit sich führen wird und dass wir an diesem Tag einige Brüder ausschicken sollen, um es auf Verunreinigungen und Keime hin zu untersuchen.

      Die zweite Botschaft hörte sich eher wie das wirre Gerede eines Fieberkranken auf seinem Sterbebett an. Trotzdem wurde sie niedergeschrieben, auch wenn bisher niemand wusste, was sie bedeutet. Doch heute Abend ist mir ein Licht aufgegangen.« Vater Ralstein hielt inne und lächelte selbstgefällig. »Wenn die Spinne Gold webt, das Land dereinst erlebt, wie das Alte sich erhebt. Solomon Pierce war sicher ein wenig verrückt. Aber er prophezeite den Zusammenbruch, verstehst du? Und wie es scheint, sah er auch unsere Wiedergeburt voraus. Doch den Teil mit der Spinne hat, wie gesagt, niemand je verstanden. Und mit der Zeit vermuteten wir, der Schreiber habe sich am Sterbebett womöglich verhört. Manche glaubten, es müsse etwas mit dem legendären Spinnentier zu tun haben, das von den ersten Sternenpriestern, die hier vor fünfhundert Jahren ankamen, erschlagen wurde: dieses Monster, das so groß wie ein Pferd war und das sie tief unten im Herzen der Stadt entdeckt haben, wo wir heute nach Grundwasser bohren. Wirklich Sinn ergab das alles trotzdem nicht. Erst jetzt, Bruder Warren, hat es den Anschein, als fügten sich seine beiden Botschaften zusammen.

      In vierzehn Tagen ist der zweihundertste Todestag von Solomon Pierce. Ein kleiner Trupp der städtischen Privatgarde wurde eingeweiht und bereitet sich auf eine Geheimmission vor«, fuhr Vater Ralstein fort. »Der Fluss Lutea soll auf seine Wasserqualität und das Hinterland auf seine Bewohnbarkeit überprüft werden. Das alles ist natürlich strengstens geheim. Wo kämen wir denn hin, wenn gewöhnliche Stadtbewohner davon erführen und sich auf einmal irgendwelche Flausen über Freiheit in ihren Köpfen breitmachten? Oder schlimmer noch, wenn sie die Stadt verlassen wollten …

      Heute Abend nun hast du mir die Spinne gebracht. Du hast das Rätsel gelöst! Die Spinne, sie ist das Zeichen für unsere Wiedergeburt. Die Stadt wird auferstehen! Wir sind die alten Herrscher, die sich endlich erheben, um das Hinterland von seiner Barbarei zu befreien. Wir werden es erneut in das ertragreiche Paradies verwandeln, für das es sich so hervorragend eignet. Ohne unsere Eingriffe ist dieser Landstrich dort draußen zu einer bedeutungslosen, unzivilisierten und vergifteten Einöde verkommen. Er muss wieder perfektioniert werden!« Vater Ralsteins Stimme schwoll an, aber er zügelte sich sofort. »Bring mir den Jungen. Bring mir die Spinne«, verlangte er.

      Tin wollte so schnell und so weit wie möglich fortrennen. Aber er bekam kaum Luft, und sein Herz hämmerte dermaßen heftig, dass er zu hastig aufstand und benommen mit dem Kopf gegen die Falltür stieß.

      »Aha«, grollte Vater Ralstein. »Mir scheint, wir hatten einen Lauscher.«

      »Zweifellos dieser Martin«, antwortete Bruder Warren aalglatt. »Hier kommt er normalerweise heraus.«

      Die beiden Männer sprangen gleichzeitig zur Falltür und rissen sie auf.

      Aber es war niemand da.

      Tin war es trotz seines Schwindelgefühls gelungen, rechtzeitig wegzulaufen.

      Bruder Warren fluchte. »Widerspenstiger Bengel«, fauchte er. »Er überlässt uns seine Erfindung bestimmt nicht ohne Weiteres.«

      »Alle Schätze sind käuflich«, sagte Vater Ralstein


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