Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt
ihre Schöpfung zu retten, so wie sie es zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs getan hat. Es ist sehr wichtig, dass ihr die Kinder findet. Ihr und die Kinder habt etwas mit der Ganzheit zu tun, mit der Überwindung von Mauern und Grenzen und all den anderen Dingen, die uns – Stadtvolk und Hinterlandvolk und Wildes Volk – die letzten zweihundert Jahre in Angst voreinander leben ließen. Deshalb müsst ihr uns vertrauen und eure Aufgabe erfüllen. Wir kennen nicht die Einzelheiten, wir sehen nur die größeren Zusammenhänge: Uns allen droht furchtbare Gefahr. Folgt den Kindern, wohin sie auch gehen, und helft ihnen auf all ihren Wegen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.
Myrte war zu einem Dorf im Hinterland gebracht worden. Wie sollte er sie jemals wiederfinden, ohne Tin dabei zu verlieren? Der junge Hase ließ die Ohren hängen.
»In Ordnung, niemand wird im Stich gelassen, Tin«, sagte Malve ernst. »Jetzt bist du mit einem Plan an der Reihe.« Er fasste wieder Mut und hielt schnuppernd die Nase in die Luft. »Nicht, dass am Ende noch rumerzählt wird, wir Hasen wären Feiglinge, nur weil wir schnell rennen können.«
Tin lächelte und sah gleich viel freundlicher aus. »Ich soll dich in meinen Plan einweihen? Deinen Plan hast du mir auch nicht verraten. Also gut, ich habe mir Folgendes überlegt: Wir wecken Sebastian, schleichen uns alle drei wieder runter zur Einsiedlerspinne, hüpfen hinein und dann … puff, verschwinden wir!« Er lachte.
»Das kann man ja wohl kaum einen Plan nennen!«, sagte Malve. »Für mich hört sich das eher nach keinem Plan an.«
»Seb fällt bestimmt etwas Besseres ein«, sagte Tin. »Er hat alle Karten, die wir gezeichnet haben. Erst neulich haben wir einen Tunnel entdeckt, der viel tiefer nach unten geht als die anderen und der bis zur anderen Seite des Klosters zu führen scheint. Irgendwann haben wir fast keine Luft mehr bekommen, aber das ist bestimmt der richtige Weg nach draußen.«
»Lebendig begraben werden oder sich in Luft auflösen, mehr hast du nicht zu bieten?«, fragte Malve mit einem verächtlichen Schnaufen. »Großartig. Die Grünzwillinge haben mich in eine Todesfalle geschickt! Na, dann lass uns wenigstens keine Zeit mehr verlieren und uns ins Verderben stürzen! Hopp, hopp!« Mit diesen Worten sprang der junge Hase flink den Gang entlang.
»Und lass uns hoffen, dass sie nicht schon hinter der Falltür auf uns warten«, murmelte Tin, als er Malve nachlief.
Malve führte sie geschickt durch Gänge, die Tin selbst noch gar nicht erkundet hatte, und die beiden gelangten ohne Zwischenfälle wieder ins Freie. Tin musste sich eingestehen, dass er ohne den Hasen, der sich auf seinen Geruchssinn verließ, in diesen dunklen, verwinkelten Katakomben vollkommen verloren gewesen wäre.
Zu Tins Überraschung gelangten sie am Fuß des Westglockenturms durch eine sehr kleine Holztür, die hinter einem abgewetzten Wandteppich versteckt lag. Auf dem Teppich waren Früchte abgebildet, die Tin noch nie gegessen hatte – Granatäpfel, Aprikosen, Trauben –, und ein paar ungeschälte Mandeln. Eine schmale Stiege aus Eisen führte spiralförmig zu der Bronzeglocke hinauf, die zwar schon alt war und einen großen Sprung hatte, aber trotzdem jeden Tag morgens, mittags und abends in einem eigenartigen Moll-Ton läutete. Sowohl diesen als auch den anderen Glockenturm kannte Tin nur von außen, und bis auf die schwindelerregend steile Wendeltreppe gab es hier drinnen ja auch nichts zu sehen.
Tin hielt seine kleine Lampe in die Höhe, in der inzwischen fast kein Öl mehr war, und schlich auf Zehenspitzen durch den Raum zu der Tür, die in Richtung der Schlafsäle führte. Im Schloss steckte ein schwerer Schlüssel. Malve hoppelte dicht hinter ihm her.
»Warte«, sagte der Hase plötzlich und wandte seine Ohren zur Tür.
Tins Hand schwebte kurz über dem Schlüssel in der Luft.
»Dreh ihn zur Sicherheit ganz langsam um. Ich kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden. So eine gruselige Höhle. Wer kommt bloß auf die Idee, in so einem fürchterlich dunklen und kalten Steinbau zu wohnen?«
Tin überhörte das Murren des Hasen. Das Schloss knackte leise, und er öffnete vorsichtig die Tür, damit sie nicht knarzte. Jetzt standen sie im großen Versammlungssaal, auf der Seite, wo es zu den Schlafsälen ging.
»Gut«, seufzte er. Hier befand er sich wieder auf vertrautem Terrain – an diesen hohen, dunklen Wänden waren er und Sebastian schon unzählige Male vorbeigehuscht und hatten sich ihre Pläne zugeflüstert.
Hinter dem Rosettenfenster hatte das Unwetter einen Moment nachgelassen. Zwischen den Wolken schob sich die Mondsichel hervor und schickte einen langen weichen Lichtstrahl mitten über den Boden. Malve blieb stehen und betrachtete gebannt die Rosette mit den funkelnden Regentropfen, dem bunten Glas und dem Mondlicht. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Lass uns weitergehen«, flüsterte Tin und hielt die Tür zum Westflügel mit den Schlafsälen auf. Er zog seine abgenutzten Segeltuchschuhe aus und schlich fast so lautlos wie ein Hase die zwei steinernen Treppenabsätze hinauf. Malve folgte ihm. Im Flur herrschte eine Stille, wie sie wohl nur gegen drei Uhr in der Früh vorkam. Selbst die grauen Schatten schienen gedämpfter zu sein als sonst.
Tin machte sich mit seinem Dietrich an einem Schlüsselloch zu schaffen. Es kratzte, knackte, und gab dann nach. Sie waren in seinem Schlafsaal. Leise schloss Tin die Tür. Ihm schlug der vertraute Geruch nach frischen Bettlaken, die gewissenhaft jeden Sonntag gewaschen wurden, nach Schweiß und der muffigen Feuchtigkeit der Wände entgegen. Die Gerüche trösteten ihn auf sonderbare Weise; dieses überfüllte Zimmer kam für ihn einem Zuhause am nächsten.
In dem Schlafsaal standen vier Reihen aus jeweils acht schmalen Metallbetten. In der Mitte war ein Gang frei gelassen worden, der von der Tür zur Toilette führte. Am Fußende jedes Bettes befand sich eine kleine Holzkiste für Kleider, und neben jedem Bett gab es noch eine weitere Kiste, die als Nachttisch diente, auf dem man eine Kerze oder einen Wasserbecher abstellen konnte.
In der vorletzten Reihe stand Tins Bett, die Decke war zerknittert und um sein Kopfkissen geschlungen. Und direkt dahinter lag Sebastian. Seine dichten schwarzen Haare fielen ihm sanft ins Gesicht, als er sich im Schlaf bewegte. Tin packte schnell ein paar Dinge in seinen Rucksack und huschte dann leise zu Sebastian. Malve folgte ihm und bekam ganz große Augen. Der Hase musste sich sehr zusammennehmen, um beim Anblick so vieler Menschenkinder nicht zu zittern.
»Seb«, flüsterte Tin und rüttelte seinen Freund vorsichtig. »Seb, wach auf. Es geht los!«
Malve stellte seine Vorderpfoten auf die Bettkante und schnupperte an Sebs Kopf. Als der Junge sich plötzlich mit einem Ruck aufsetzte, wich der Hase erschrocken zurück.
»Was ist los? Ist was passiert?« Seb rieb sich die Augen.
»Pst, leise!«, wisperte Tin. »Wir verschwinden von hier, und zwar jetzt gleich!« Er war müde, verängstigt und aufgeregt. Und in dem Moment, wo er es aussprach, wurde ihm die ganze Tragweite seiner Worte bewusst. Inzwischen prasselte auch wieder der Regen aufs Dach.
Als Malve aufs Bett hüpfte, staunte Seb nicht schlecht.
»Was ist das denn, Tin?«, flüsterte er heiser. »Und wovon redest du?« Er schaute ungläubig zwischen dem Hasen und seinem Freund hin und her.
»Ich bin ein Schwarzschwanz-Hase«, sagte Malve. »Und kein das. Ich heiße Malve, und wir haben überhaupt keine Zeit für große Erklärungen. Tin hat darauf bestanden, dass wir dich holen. Ansonsten wären wir schon längst auf direktem Weg durch diese hasenverlassenen Straßen eurer finsteren Stadt zur Geheimtür in der Mauer.«
»Zur Geheimtür in der Mauer?«, flüsterten die Jungen gleichzeitig.
Tin hatte bisher nicht viel weiter als bis zu den Klostermauern gedacht, und Sebastian war noch damit beschäftigt, die vielen Wunder zu verarbeiten.
Der Hase blickte sie erstaunt an. »Was? Wollt ihr die Stadt etwa nicht verlassen?«
»Na ja … ist es auf der anderen Seite der Mauer denn nicht gefährlich? Und sind die Leute aus dem Hinterland nicht alle vergiftet und krank? Würden wir nicht … sterben?«, stotterte Seb, dem all