Das Wilde Volk (Bd. 1). Sylvia V. Linsteadt

Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt


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Verglichen mit diesem Ort? Ihr ahnungslosen Menschen, was haben sie euch nur erzählt? Das Hinterland ist der schönste Ort auf der Welt. Im Frühling sind die Berge voller köstlicher Blumen – habt ihr jemals Blumen gesehen? Vermutlich nicht … Oh, bei den Sternen, was für arme Geschöpfe ihr doch seid! Seit hundertfünfzig Jahren hat es keine schweren Krankheiten mehr gegeben, und die Flüsse sind so klar wie der Regen!« Malve dachte an den leckeren Rotklee, an seine Schwester und an sein Zuhause.

      Die beiden Jungen blickten sich an, ihnen schlug das Herz bis zum Hals.

      Tin tat so, als hätte er das alles längst gewusst. »Siehst du! Es ist wahr«, wisperte er seinem Freund zu. »Und jetzt lass uns aufbrechen. Ich kann dir das im Augenblick nicht genauer erklären. Wir müssen zu den Tunneln, schnell.«

      So leise wie möglich stand Seb auf, zog seine graue Hose und den Pullover mit den löchrigen Ellbogen an und klemmte sich seine abgerissenen Schuhe unter den Arm. Er verstand zwar kein Wort, vertraute Tin aber voll und ganz. Aus den Schlafsaalfenstern sah man durch den Regen die weißen Stromblitze auf der Stadtmauer.

      »Wir kommen nicht wieder«, sagte Tin, dessen Gesicht vom Wetterleuchten erhellt wurde, und versuchte, überzeugend zu klingen. »Also pack ein, was dir wichtig ist, aber beeil dich. Sie wollen mir bei Tagesanbruch meine Einsiedlerspinne wegnehmen.«

      »Deine was?« Seb stopfte gerade Socken, seine Zahnbürste und eine kurze Halskette aus glänzenden Kupferpfennigen, die ihm das Küchenmädchen Sophie eingewickelt in ein blaues Tuch geschenkt hatte, in den Rucksack. Doch nun hielt er mitten in der Bewegung inne.

      »Psst! Ist jetzt egal. Erzähle ich dir auf dem Weg.«

      Malve zwickte Seb in die Wade, damit er sich beeilte.

      Sie schafften es ohne große Probleme bis zur Tür, nur ein paar Jungen bewegten sich im Schlaf. Tin und Seb hatten jahrelange Übung darin, sich beinahe lautlos fortzubewegen und zu unterhalten. Sie waren Meister darin, die Zeichensprache des anderen zu verstehen und Worte von den Lippen abzulesen. Aber die ganze Aufregung zehrte an Tin. Er war jetzt schon seit fast vierundzwanzig Stunden wach, und eine Verfolgungsjagd und das Zusammentreffen mit Malve, ganz zu schweigen von dem goldenen Aufleuchten der Einsiedlerspinne, lagen hinter ihm. Als Tin die selbstverriegelnde Tür mit seinem kleinen Dietrich öffnen wollte, flatterten seine Hände. Der Dietrich fiel hinunter und landete klirrend auf dem kalten Steinboden.

      Seb zuckte zusammen.

      Da! Bettfedern quietschten, jemand rührte sich und setzte sich auf.

      Malve blieb ruhig stehen und zitterte leicht.

      »Du schon wieder, Tin«, drang eine Stimme zu ihnen herüber.

      Im Halbdunkel erkannten die beiden Jungen Thomas, dessen Haare wie Federn abstanden.

      »Wenn du nicht den Mund hältst, Thomas, dann werde ich heißes Quecksilber in dein Bett schütten«, zischte Tin nach einem Moment angespannter Stille.

      »Ach, ja, wirklich?«, knurrte Thomas laut und weckte dadurch ein paar weitere Jungen auf.

      »Raus, raus!«, flüsterte Malve. Er sprang Tin mit einem großen Satz in die Arme.

      »Was zum Teufel ist das?«, fragte Thomas. »Diesmal bist du wirklich zu weit gegangen, Tin. Ein Tier

      »Ein Tier?«, fragte nun jemand anderes.

      Jetzt erwachte der halbe Schlafsaal, noch mehr Decken raschelten, noch mehr Sprungfedern quietschten, und Hälse wurden gereckt.

      »Beeilt euch!«, drängte Malve und drückte seine Pfoten gegen Tins Brust.

      Seb hob den Dietrich auf und reichte ihn seinem Freund.

      Tin ruckelte mit dem Dietrich ein wenig im Schloss herum, und dann ging die Tür endlich auf. Die Jungen rannten auf Strümpfen los, ihre Schuhe, die sie mit den Schnürsenkeln an die Rucksäcke gebunden hatten, schlugen dagegen. Malve war aus Tins Armen gehüpft und sprang vorneweg.

      Sie schafften es unbehelligt bis zu der Falltür neben dem roten Teppich im Sitzungssaal, wo Vater Ralstein und Bruder Warren vorhin auf der Lauer gelegen hatten. Jetzt war der Raum leer, und die Jungen rasten im Dunkeln die aus Erde gestampften Stufen hinunter. Über ihnen schlug die Tür zu.

      Erst als sie die Kellerküchen erreichten, blieben sie stehen, um durchzuatmen.

      »Bestimmt sind die Hausväter inzwischen wach, und Thomas hat ihnen alles erzählt«, sagte Seb keuchend. »Ich hoffe, du hast einen verdammt guten Plan, Tin. Wie stellst du dir das überhaupt vor? Na klar, wir haben uns oft darüber unterhalten, wegzulaufen. Aber wir stecken jetzt schon im Schlamassel, dabei haben wir gerade einmal die Schlafsäle hinter uns gelassen!«

      »Endlich ein kluges Kind!«, seufzte Malve. »Ich habe auch schon versucht, ihm das zu erklären. Nur leider ist der Junge dickköpfig und leichtsinnig und glaubt, kein Plan wäre der richtige Weg.«

      Seb war kleiner als Tin, doch von breiterer Statur, hatte sehnige dunkle Arme und dicke Augenbrauen, die sich hoben, wenn er so wie jetzt lächelte. »Ja, das ist typisch für unseren Tin. Er ist immer guten Mutes und findet für alles irgendeinen Ausweg – im Zweifel erzählt er einfach eine Geschichte. Also wird uns hoffentlich überhaupt nichts passieren.« Nachdenklich betrachtete er die Wände des Tunnels. »Und du, Tin, verrätst mir jetzt besser, was du vorhast. Fang mit der Einsiedlerspinne an.«

      »Wir haben keine Zeit«, sagte Tin und zog Seb am Arm. »Sie sind uns bestimmt schon auf den Fersen und werden die Einsiedlerspinne holen, bevor wir sie retten können! Ich erkläre dir alles, wenn wir drinnen sind.«

      »Drinnen? Worin denn?«, rief Seb.

      Aber da waren Tin und Malve schon längst wieder losgespurtet.

      5

      Myrte

      Kurz nachdem Comfrey vom Opferaltar nach Hau- se gekommen war, setzte der Regen ein und ließ die ganze Nacht über nicht nach. Es peitschte und stürmte, und der Donner grollte. Sämtliche Kerzen auf den Altären entlang des Grenzlandes erloschen zischend. Comfrey erzählte ihrer Mutter nichts von den Korb-Hexen. Sie tat so, als sei alles in Ordnung, und flüchtete in ihr Zimmer. Dann zog sie das Stück Filz vor ihrem Fenster zurück, das die Feuchtigkeit abhielt, und starrte nach draußen in den Sturm. Es regnete hinein, und die Tropfen spritzten ihr ins Gesicht.

      In Gedanken war sie wieder auf der Lichtung bei der Frau mit den dunklen Augen und dem senfgelben Kleid, die sie angesprochen hatte. Warum hatte sie so seltsam gelächelt, warm und grimmig zugleich? Und der Korb, den die Frau geflochten hatte – noch nie hatte Comfrey etwas derartig Zartes, fein Verarbeitetes, etwas so Wundervolles gesehen.

      »Der Korb meines Schicksals. Meine Bestimmung suchen«, flüsterte sie und streckte ihre Hände aus dem Fenster, um den Regen zu spüren. Was bedeutete das? Hatte das irgendetwas mit dem Luchs-Mädchen zu tun, das ihren Namen gekannt hatte? War das Schicksal wirklich etwas, was man gestalten konnte wie einen Korb?

      Plötzlich flatterte eine weiße Gestalt direkt auf ihre Fensterbank zu. Erschrocken zog Comfrey die Hände zurück. Ihr blieb nicht einmal mehr Zeit, aufzuschreien, denn im nächsten Moment flog die nasse Schleiereule bereits so nah an ihr vorbei, dass sie Comfrey mit den Flügeln an den Haaren streifte. Der Vogel setzte einen quietschenden und zappelnden Hasen aufs Fensterbrett, schüttelte empört seine Flügel und flog auch schon wieder davon.

      »So wahr mir die Hasengötter helfen, hoffentlich hat sich das gelohnt!« Vor Schreck schüttelte sich nun auch der junge Hase, wobei die Regentropfen aus seinem Fell spritzten.

      Feine Tropfen, die nach feuchter Wolle und Gras dufteten, bedeckten Comfreys Gesicht. Sie wischte sich über die Augen und starrte den Hasen an, der sich anmutig das weiße Stück Fell um seine Nase herum putzte. Dann hüpfte er auf den Fußboden.

      Comfrey


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