Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans

Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans


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häufiger quollen die Figürchen aus dem übervollen Behälter.

      Anna löst sich aus meiner Umarmung, beugt sich vor, streicht mit den Händen über den Marmor, pickt Steinchen vom Boden und sammelt sie in ihrer Hand. Dann beginnt sie die Kiesel ins Wasser zu werfen. Die meisten Würfe schaffen es nicht über die unterste Stufe hinaus, ich weiss nicht, ob sie nicht kräftig genug wirft, oder ob die Steine einfach zu klein sind.

      «Ich habe das Bild immer noch vor Augen, wie sie Chang abgeholt haben», höre ich Anna sagen, «es war schrecklich. Das Ambulanz-Boot, die unheimlichen blauen Lichter, die Ärzte mit ihren Schutzmasken, das Entsetzen und der Ekel der Leute.»

      Ich weiss genau, was sie meint, es gab einen Augenblick, in welchem die bildlichen Eindrücke derart stark waren, dass ich plötzlich nichts mehr hörte, ich war einen Moment lang absolut taub. Meine Augen beherrschten mein Empfinden, Signale drängelten von der Netzhaut durch den Sehnerv ins Gehirn und reihten sich ein in den Stau vor den Synapsen, es waren einfach zu viele Reize aufs Mal. Irgendein uralter Teil meines Gehirns beschloss wohl, es mache Sinn, die Ohren abzuschalten, doch ich hätte mir gewünscht, er hätte mir diese Bilder erspart, die mich im Schlaf einholen, seit vier Nächten nun schon. Das erste, was ich dann wieder hörte, war Luciano, der mich an der Schulter packte, mich schüttelte und fragte: «Alles okay?»

      Ich weiss nicht, wo Anna in diesem Moment war, wir hatten uns im Durcheinander aus den Augen verloren. Ich glaube, sie war unten am Ufer mit Filiberto. Auch die Herren der Insel wirkten verstört, Filiberto und Maurizio liefen hin und her wie aufgescheuchte Hühner.

      Als dann das Boot mit Chang langsam in der Lagune verschwand, machte sich eine Art Lähmung breit, die Leute bewegten sich kaum noch, niemand sprach, alle standen da, starrten mit geöffneten Mündern in die Nacht. Ich musste mich setzen, damit ich nicht umkippte, Luciano neben mir blieb stehen, die Hand auf meiner Schulter.

      «Ich muss immer daran denken, was sein wird, wenn es mich erwischt. Ich will nicht so abgeholt werden», sagt Anna.

      Ich lege wieder den Arm um sie, sie lässt die restlichen Steine aus der Hand fallen. «Was redest du denn für einen Unsinn», versuche ich sie zu beruhigen, «uns wird schon nichts passieren, du wirst sehen.»

      «Vielleicht haben wir die Krankheit schon in uns. Von der Ansteckung bis zum Ausbruch kann es lange gehen. Es sind erst fünf Tage vorbei.»

      «Du siehst nicht krank aus, du siehst wunderschön aus», will ich sie aufmuntern, doch sie geht nicht auf meine Worte ein.

      «Ich weiss, wie es sich anfühlt, keine Luft zu bekommen», sagt sie gepresst, «ich hatte als Kind Asthma. Es ist, als ob dir ein Elefant auf der Brust sässe. Sein Gewicht droht dich zu ersticken. Und du hast nicht die Kraft ihn wegzudrücken, du hast nicht den Hauch einer Chance.»

      Ich versuche mir auszumalen, wie sie ausgesehen hat als Kind. Sie hat erzählt, dass sie ein dickes Mädchen war. Wenn man sie heute sieht, kann man sich das kaum vorstellen. In der Nacht sei sie manchmal aus dem Zimmer geschlichen, um ihr Kopfkissen ins Gefrierfach zu legen, das töte die Milben – eine Nacht in der Kälte und alle seien tot. Soll gut sein gegen Asthma. Einmal habe ihr Vater sie erwischt bei ihrem nächtlichen Tun, er sah sein Töchterlein, mit ihren dicken Beinchen und ihren Wurstfingerchen, wie sie ihr Kissen zwischen den Eiswürfeln verstaute, und als er vorwurfsvoll ihren Namen ins Dunkel der Küche gerufen habe, habe sie in seiner Stimme tiefe Verachtung gehört. Vaters Liebling sei die Schwester gewesen, die alles immer richtig gemacht habe und dabei natürlich auch noch toll ausgesehen habe.

      Sie streckt ihre Beine in den Männerhosen von sich, an den Füssen trägt sie ein paar Schuhe von Maurizio. Sie sind sicher drei Nummern zu gross, ich wundere mich, wie sie in den Dingern laufen kann. Die Hose reicht ihr nur knapp bis übers Knie, auf ihren Unterschenkeln bildet sich Hühnerhaut, ihr unsichtbares Fell stellt sich auf, sie hat ganz feine Härchen an den Beinen.

      Ich lege meine Hand auf ihre Haut, um sie etwas zu wärmen, sie dankt es mir, indem sie sich noch enger an mich schmiegt.

      «Du hast schöne Hände», sagt sie und streichelt mit ihren Fingern meinen Handrücken. Sie legt ihre Hand in meine und drückt sie fest, ich schliesse meine Finger um ihre Knöchel und spüre wie sie ihre Nägel in meine Handballen gräbt, sie drückt mich ganz fest, fast verzweifelt. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie weint, nicht nur ein paar stille Tränchen, sondern richtiggehend schluchzt. Ich löse meine Hand von ihrem Schenkel und nehme sie in die Arme, und sie sagt: «Vincent, ich will weg von hier». Dann merke ich, dass auch ich anfange zu weinen. Ich beisse die Zähne zusammen – das genügt, um das aufkommende Gefühl zu unterdrücken. Gott sei Dank, ich ziehe den sich lösenden Rotz meine Nase hinauf, ich hätte Lust ihn jetzt so richtig schön aggressiv auszuspucken, doch ich schlucke das Zeug hinunter, denn sie hat den Kopf zu mir gedreht und setzt ihre Lippen auf meine. Ich packe sie am Hinterkopf und drücke sie an mich, das Zittern nimmt ab. Abrupt löst sie sich dann und bedeckt mein Gesicht mit Küssen, nicht zart, sondern wild, ja ungestüm, sie schlägt ihre Zähne an meine Backenknochen, an meine Lippen.

      Dann senkt sie den Kopf und putzt ihre Tränen am Stoff meiner Jacke ab. Ich suche irgendwo in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch und finde ein Päckchen Tempo-Tücher, Relikt aus der Welt des Alltags. Es tut gut, das schön eingepackte Produkt zu sehen – die Vereinigten Papierwerke Nürnberg retten mich in diesem Augenblick, auch Anna hilft das vertraute Tüchlein, die Contenance wiederzuerlangen, indem es sie an die hunderten Male erinnert, an denen sie unnötigerweise geweint hat.

      Sie schnäuzt ins Taschentuch und streckt es mir dann hin. Ich weiss auch nicht, was ich damit soll, nass wie es ist stecke ich es in meine Brusttasche. Sie zieht die Beine an den Körper, macht sich ganz klein. Wie sie aufs Wasser hinausschaut, sehe ich sie von der Seite her lange an, will mir jede ihrer Züge merken, ihre Ohrläppchen, ihre hohen Wangenknochen, ihre langen Wimpern. Ein paar Minuten sitzen wir so da, anfangs atmet sie noch schnell und ruckartig, doch das Schluchzen verebbt nach einer Weile, und sie wird ruhig. Ich sehe ihren Mund sich öffnen, an der Seite bildet sich eine lange, dünne Falte.

      «Fische», sagt sie, «schau dort, Fische.»

      In der Tat sieht man im Wasser deutlich einen ganzen Schwarm der Tiere, riesige Exemplare.

      «Als Kind hatten wir ein Aquarium», sagt sie, «wir hatten Zierfische drin. Ich sass gern davor und schaute den Tieren zu. Es war irgendwie beruhigend.»

      «Ganz schön langweilig», sage ich und sie lacht: «Ja, so kann man das auch sehen.»

      «Wir hatten eine Katze», sage ich nach einer Weile, «einen mächtig grossen, stolzen Kater. Es war unumstritten der Herr unseres Viertels. Manchmal kam er zerkratzt und mit blutigen Wunden im Fell aus dem Kampf, aber immer mit erhobenem Haupt. Mit allen nahm er es auf, mit den Hunden der Nachbarn, mit dem fetten Kater, den die neuen Bewohner unserer Mietskaserne mitbrachten. Ich habe selten ein Lebewesen mit so viel Stil gesehen.»

      «Dein Vorbild ist ein Kater, das kann ja heiter für mich werden», frotzelt sie.

      «Na ja», werfe ich schmunzelnd ein, «aber vielleicht stimmt das mit dem Vorbild sogar. Alle andern in unserem Haus, mein Vater, mein Bruder, waren vorsichtig, ja geradezu feige. Nur dieses Tier hatte wirklich Mut.»

      «Was ist mit ihm geschehen?»

      «Er kam eines Tages einfach nicht mehr zurück. Ich habe mir als Knabe eingeredet, er sei weiter gezogen durch die Wälder in die Berge, um sich ein noch grösseres Reich zu unterwerfen. Doch wahrscheinlich wurde er einfach von einem Auto überfahren oder so.»

      «Hm», sagt sie und nach einer Weile: «Ich hatte auch mal ein Kätzchen. Ein ganz kleines, unglaublich süss. Nach ein paar Wochen habe ich es aber wieder weggegeben.»

      «Warum?»

      «Mark, mein damaliger Freud, hat mich dazu überredet. Die Tierhaare seien doch nicht gut für meine Allergien. Er denke dabei vor allem an meine Gesundheit, und so weiter. Heute ist mir klar, dass er das Tier ganz einfach nicht mochte und es aus dem Haus haben wollte.»

      «Nicht eben einfühlsam.»

      «Er war ein Arschloch.»


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