Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
Zimmer.
Die Episode scheint ansonsten keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Die Leute essen weiter, lachen, lassen die Gläser klingen. Anna redet eifrig mit meinem Bruder, ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen. Ich schlendere durch die Räume und Gänge; die Stimmung ist gut, die Leute vergnügen sich. Im Eckraum des ersten Stocks lässt sich eine Frau von drei Männern gleichzeitig bewundern, sie hat ihre Brüste entblösst und die Typen fingern abwechselnd an ihr herum. Auch die Schwulen sind guter Laune, im Korridor, der zur Küche führt, geben sie mir freundschaftliche Klapse auf den Hintern. Die Türe zum Badezimmer ist offen. Als ich eintrete sehe ich zwei Männer, sie sind nackt und küssen sich. Beide haben ein Piercing in der Eichel, breite Stahlringe, die Dinger schlagen metallen aneinander. Sie lassen sich nicht von mir stören, doch ich denke es ist besser, ich gehe ein Zimmer weiter. Ich muss wieder durch den Korridor zurück ans andere Ende, dort befindet sich noch ein Klo. Ich bin nicht der einzige mit diesem Vorhaben, sechs oder sieben Leuten stehen bereits in einer Warteschlange an. Das kann ein Weilchen dauern, ich setze mich im Flur auf den Boden. Ich lasse mich neben einer wunderschönen, braunhaarigen Frau nieder, die ebenfalls wartet. Sie zündet sich eine Zigarette an, ich frage sie, ob sie für mich auch eine habe, sie beugt sich zu mir und entschuldigt sich, sie verstehe mich leider nicht. Sie spreche nur katalanisch, sie komme aus Barcelona. Filiberto habe sie vor ein paar Tagen im Caffè Florian gesehen, zusammen mit ein paar Freundinnen, und habe sie eingeladen, so viel entnehme ich ihren wortreichen Schilderungen.
Ein Grossteil der Gäste hat auf ähnliche Weise den Weg hierher auf die Insel gefunden. In den ersten Tagen des Karnevals sammeln Filiberto und Maurizio – modernen Rattenfängern gleich –, die Jeunesse dorée Europas ein, in den Cafés der Stadt aber auch an den Festen in den Prunkpalazzi am Canal Grande.
Filiberto und Maurizio entstammen der altehrwürdigen venezianischen Patrizierfamilie Bertozzi – das öffnet ihnen viele Türen. Ihre Vorfahren waren mehrere hundert Jahre lang für die Verwaltung der griechischen Lehen der Republik Venedig zuständig. Ursprünglich stammt der Clan aus Torcello bei Burano. Doch der frühmittelalterliche Bischofssitz versumpfte nach und nach und wurde von den Bewohnern verlassen. Die Bertozzis zogen daraufhin nach Venedig selbst, überzogen aber die nahen Inseln in der Palude della Centrega und der Palude della Rosa mit zusätzlichen Prunkpalästen und Verwaltungsgebäuden. Heute ist davon eigentlich nur noch der Herrschaftssitz auf dieser Insel verblieben – und auch der wirkt etwas verfallen. An den Wänden hier im Flur lösen sich sogar schon die Seidentapeten von den Wänden, an der Decke hängen Fetzen herab – mit dem Reichtum der Familie kann es nicht mehr allzu weit her sein.
Die Spanierin leckt sich mit der Zunge über die Schneidezähne, streicht sich mit den Fingern durchs Haar und schaut dabei den Typen an der Spitze der Warteschlange an, einen wirklich gutaussehenden Mann mit schulterlangen, dunklen Haaren. Filiberto hat ein Auge für die Mischung aus Schönheit und Erlebnishunger, die den perfekten Gast für ihn ausmacht. Vielleicht ist es die Erfahrung aus vielen Jahren, die ihn die Leute so treffsicher auswählen lässt, er wittert die Getriebenheit, sieht es in ihren Augen, in den abwechselnd hetzenden und gehetzten Blicken. Leute aus Italien, Frankreich, Deutschland, England, Holland, der Schweiz, Ungarn oder Serbien – ihr gemeinsamer Pass ist der des Königreichs der Abgründe.
Ich stelle mich auf eine lange Wartezeit vor dem Klo ein. Die Leute in der Schlange vertreiben sich die Zeit, indem sie etwas zum Takt der Musik aus den Lautsprechern über uns tanzen, «This is my church, this is where I heal my hurts», gibt Faithless-Sänger Maxwell Fraser das Motto im gerade laufenden Song «God is a DJ» durch, und bald beginnen einige in die monotonen Wiederholungen der Liedzeile einzustimmen und mitzusingen. So vergeht die Zeit recht angenehm und bald ist die Spanierin an der Reihe, ihre Notdurft zu verrichten. Sie ist allerdings erstaunlich schnell wieder draussen, ihre Augen und Lippen zieht sie im Gang vor einem Spiegel nach.
Ich verstehe wieso: Die Toilette stinkt fürchterlich, es hat sich wohl kürzlich jemand übergeben. Ich beeile mich meine Blase zu entleeren, ich wasche die Hände und gehe wieder hinaus. In der Küche brennt Licht, leere Wein- und Wasserflaschen stehen zwischen Tellern mit Essensresten. Ich erblicke Luciano, bin erfreut, denn ich habe ihn vor Stunden aus den Augen verloren. Er hat eine der herumstehenden Flaschen an den Mund gesetzt und trinkt den Rest Wasser, der sich noch darin befindet. «Ich habe einen etwas trockenen Mund», sagt er. Er scheint mir ziemlich betrunken, seine Augen sind rot unterlaufen.
Filiberto kommt hinzu, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. Er ist überrascht, jemanden in der Küche anzutreffen, doch er scheint erfreut, seine Miene klart auf, er packt Luciano bei der Schulter und sagt: «Komm mit!»
Er führt ihn aus der Küche, ich eile hinterher, will meinen wieder gefundenen Freund nicht sogleich wieder verlieren.
«Du bist doch Arzt?», fragt er.
«Ja», sagt Luciano.
«Ich fürchte, der Mann stirbt», sagt Filiberto.
«Wer?»
«Einer meiner Gäste. Er kommt aus Singapur. Er ist der Freund eines Freundes.»
«Was fehlt ihm?»
«Er hat Fieber und ist völlig geschwächt. Und er hustet immerzu, er bekommt fast keine Luft.»
«Mit Lungen kenne ich mich nicht so gut aus», sagt Luciano zögernd.
«Was ist denn dein Gebiet?»
«Orthopädie. Ich arbeite in einer Privatklinik, die spezialisiert ist auf Handchirurgie.»
Filiberto nimmt abrupt seinen Arm von Lucianos Schulter: «Was ist denn das für ein Scheiss?», herrscht er ihn an, «wer braucht schon einen gottverdammten Orthopäden?»
«Lass mich den Mann einmal anschauen, mal sehen was sich tun lässt», erwidert Luciano erstaunlich ruhig.
Filiberto nimmt ihn wieder bei der Schulter und zieht ihn mit. Luciano blickt nach hinten und winkt mir zu. Ich schlurfe weiter hinterher. Wir steigen eine Treppe hinauf in den zweiten Stock. Am Ende des Ganges steht eine Türe offen, Licht fällt heraus, ich höre Stimmen.
Unter den Duvets eines Doppelbetts liegt ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen, die Augen immer noch vor Schreck geweitet. Sein Atem geht in kurzen, asthmatischen Stössen. Auf dem Bettrand sitzt ein anderer Asiat und hält dem Kranken die Hand. Im Hintergrund, an die Wand gelehnt, steht Pedro Juan, er redet mit zwei gross gewachsenen Männern in Kostümen, ich glaube es sind die beiden, die den Kranken aus dem Festsaal getragen haben.
Filiberto setzt sich zum Kranken aufs Bett. «Ein Arzt ist gekommen», sagt er und winkt Luciano heran. Ich laufe langsam zu Pedro Juan, er und seine beiden Gesprächspartner nicken mir zu, dann drehen wir uns alle vier dem Bett zu.
Luciano hat sich neben den Kranken gesetzt, gibt ihm die Hand, stellt sich ihm auf Englisch vor.
«Was hast du?», fragt er.
«Ich bekomme keine Luft», japst der Angesprochene, «ich fühle mich so elend, ich kann kaum auf den Beinen stehen.»
Die eine Gesichtshälfte des Kranken ist geschwollen und violett-rot, sein Haar nass geschwitzt.
Luciano nimmt seinen Unterarm, um den Puls zu messen: «Leidest du an Asthma?»
«Nein», stammelt der Kranke.
«Allergien?»
Er schüttelt den Kopf.
«Hast du einen Fiebermesser?», fragt Luciano.
«Dort, auf dem Tisch», sagt Filiberto, «aber wir haben schon gemessen. Über 40 Grad.»
Luciano befiehlt dem Asiaten, das Hemd auszuziehen. Er setzt sein Ohr an die verschwitzte Brust, der Kranke muss auf seinen Befehl hin tief einatmen, er schafft es kaum, er hustet, japst, röchelt. Luciano schaut ihm in den Mund, unter die Augenlider.
«Du hast eine starke Infektion der Lungen oder Bronchien», sagt Luciano und streicht dem Kranken übers nasse Haar, «aber ich bin kein Spezialist. Es ist besser, die Sache genauer abklären zu lassen.»
Er steht auf und wendet sich an Filiberto: «Ich