Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
Als wir vorbeigehen packen sie ihre Weingläser, damit wir sie mit unseren Umhängen nicht versehentlich umstossen. Sie sind barfuss, drei Paar hochhackige Gucci-Pumps stehen auf der Treppe, auch sie werden festgehalten, um sie vor unseren langen Mänteln zu schützen.
Schräg gegenüber umarmt ein grossgewachsener Mann mit platinblond gefärbten Haaren einen jungen Asiaten, küsst ihn auf den Hals, streichelt ihm das Haar. Der Umworbene hat wunderschöne Mandelaugen, leicht geschminkt hat er sich, mit einem Kajalstift die Augenlider umrandet, er ist sehr attraktiv. Etwas Weibliches in die Augen zu zaubern kann auch einem Mann ganz gut gelingen. Nur die typischen Bewegungen einer Frau bekommen Männer kaum je hin – was sie aufführen, ist bestenfalls eine Karikatur weiblicher Eleganz. Auch der mandeläugige Bursche beherrscht es nicht, er kichert verstohlen, als ihm der Blonde die Zunge ins Ohr streckt, verkrampft hat er die Arme an den Körper gedrückt, die Hände flattern auf und ab wie bei einem jungen Vögelchen. Vor ihm am Boden sitzt ein anderer Asiat, er weint und sieht elend aus, als ob er sich bald übergeben müsste.
Am Treppenende kommen wir nicht weiter, der Korridor ist gefüllt mit dutzenden Kostümierten, die herumstehen, trinken, lachen. Eine Frau hat sich als menschliche Früchteschale verkleidet, vier Männer versuchen, sie auf einem grossen Tablett über die Menge zu tragen, sie hat sich unzählige grüne Ballone angeklebt, welche wohl Trauben darstellen sollen. Mit jedem Schritt fallen Äpfel, Birnen oder Orangen vom Tablett und werden von den drängelnden Füssen am Boden zu Brei getreten.
Wir bahnen uns einen Weg ins Zimmer seitlich des Ganges, dort scheint es etwas ruhiger zu sein, antike Sofas mit Holztischen davor stehen herum. Ich will weitergehen und drehe mich zu den anderen um, doch Vitus und Luciano folgen mir nicht. Sie befinden sich im eifrigen Gespräch mit zwei maskierten Frauen in aufgeplusterten Röcken, die Damen machen betont theatralisch höfliche Knickse, mein Bruder zieht den Hut und schüttelt seine lange Mähne, Luciano streckt die Brust raus und beugt sich näher zu den Mädchen hin, um sie mit geflüsterten Schmeicheleien einzudecken.
Ich gehe alleine weiter in den nächsten Raum, es muss ein Eckzimmer sein, denn sowohl vorne wie an der Seite befinden sich Fenster. Auf dem Boden stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen, der Wachs tropft auf den Boden. Ich sehe Filiberto, er ist umringt von einer Gruppe von Gästen, die ihm aufmerksam zuhören. Die Leute lachen, strecken die Gläser in die Höhe. Filiberto packt jemanden am Arm und schüttelt ihn. Das Glas in der Hand des Mannes schwankt bedrohlich, der Wein schwappt über den Rand und begiesst zwei Frauen, die neben ihm stehen. Diese zucken erschreckt zusammen, doch dann lachen sie und frotzeln den Unglücklichen, heben den Kopf und strecken die Zunge weit hinaus. Der Mann muss den Rest des Weines in ihre Münder tropfen lassen.
Das nächste Zimmer ist ähnlich gross aber nur dämmrig beleuchtet. Auch hier stehen Plüschfauteuils. Die Fenster stehen weit offen und geben den Blick aufs Wasser frei, irgendwo im Hintergrund muss Torcello liegen.
Auf einer der Fensterbänke sitzt Anna. Sie befindet sich im eifrigen Gespräch mit Maurizio, er scheint mir ziemlich betrunken, denn er schwankt selbst im Sitzen. Er stützt sich auf einen Arm, mit dem anderen streichelt er weinselig über Annas Haare. Sie schaut nur kurz auf zu mir und wendet sich dann wieder Maurizio zu. Ich bin verwirrt, ja erschreckt, doch dann realisiere ich, dass sie mich ja gar nicht erkennen kann hinter meiner Maske.
Ich setze mich auf eines der Sofas und beobachte sie. Hut und Musketierhemd hat sie gegen ein schlichtes schwarzes Kleid getauscht. Wie schön ihr Mund ist. Von ihren Schneidezähnen zur Unterlippe zieht sich ein dünner Speichelfaden, ein kleiner Tropfen gleitet daran entlang nach unten. Ihr dunkles Haar ist glatt und glänzend, ich verstehe, dass Maurizio seine Finger nicht von ihr lassen kann.
Ihre Bewegungen sind langsam und kontrolliert. Irgendwann wird sie mir erzählen, dass sie als kleines Mädchen Woche für Woche Ballettstunden über sich ergehen lassen musste und dass sie es hasste. Doch die Grazie, mit der sie jetzt ihren schmalen Fuss nach vorne streckt in ihrem eleganten Schuh, die Zehen unter den schmalen Lederriemen sanft bewegt und den Absatz leicht wippen lässt, ist beste Reklame für das Institut.
Jemand muss hinter mir irgendwo eine Lampe angeknipst haben, mit einem Mal fällt grelles Licht ins Zimmer. Es stört Anna offenbar nicht, nur Maurizio zuckt etwas zusammen, blinzelt, schüttelt den Kopf und fährt dann fort, ihr Haar zu streicheln, etwas zu mechanisch wohl, denn sie drückt seine Hand sanft weg, rutscht mit dem Po etwas nach vorne und lehnt sich mit dem Rücken an den Fensterrahmen. Sie dreht den Kopf weg, blickt hinaus ins Dunkel.
Der Lichtkegel zeichnet die Konturen meines Körpers auf die Wand neben ihr. Wenn ich mich ein wenig bewege, verdecke ich sie mit meinem Schatten. Ich strecke meine Finger ins Licht, meine überdimensionale Schattenhand verdunkelt ihren Nacken. Ich gehe mit der Hand nach vorn, meine Finger werden kleiner.
Als ich klein war, liebte ich Schattenspiele; gruslige Figuren projizierten Vitus und ich auf die Wand in unserem Kinderzimmer. Jetzt muss ihr Körper als Leinwand hinhalten: Ich taste mit meinen Schattenfingern ihren Hals herunter, führe die dunklen Gesandten zu ihren Brüsten, seitlich dem Becken entlang gleiten sie nach unten, über den Aussenschenkel ihres Beins zu ihrem Fuss, wo sie verweilen, ihre Fesseln und Zehen streichelnd. Den Innenschenkel des anderen Beines entlang lasse ich den Schatten wieder hinaufwandern zu ihrem Gesicht.
Plötzlich dreht sie sich. Blickt mich direkt an und sieht meine Hand dort oben in der Luft seltsame Verrenkungen machen. Ich zucke innerlich und ziehe dadurch meine Finger etwas zusammen, ein ungewollter Gruss entsteht, den sie freundlich erwidert, ihre Hand schnellt in die Luft, sie winkt mir zu.
Sie steht auf und kommt auf mich zu, ihr Blick ist skeptisch, wahrscheinlich ist sie sich nicht sicher, wer der Mann hinter der goldenen Maske ist. Sie vermutet aber richtig, «Vincent?», fragt sie, und ich will nicken, doch sie sagt: «Nein, warte», kniet sich vor mich hin und schliesst die Augen. Mit zugekniffenen Lidern nimmt sie mir den Hut ab, dann die Maske. Ihre Finger ertasten mein Gesicht, ein Spiel nur, das weiss ich, denn vielleicht kann ein Blinder das Gesicht eines Menschen nur mit dem Tastsinn erkennen, doch Anna dürfte dafür kaum die nötige Übung haben. Was solls – auch ich schliesse die Augen und taste nach ihren Wangen, was die Schattenhände schon taten darf jetzt auch meine Haut, sie anfassen, sie spüren. Sie lacht, streichelt meine Schläfen, die Maske hat dort tiefe Furchen gezeichnet. Das Ding drückt an vielen Stellen im Gesicht, doch dort besonders.
Sie muss inzwischen ihre Augen wieder geöffnet haben, jedenfalls küsst sie mich treffsicher auf die Augenlider, auch ich gebe das Spiel auf, sehe sie an. Ich ziehe ihren Körper an mich, wir küssen uns. Ich kann nicht sagen, dass der Kuss besser ist als unser erster, vor dem Hotel Danieli, aber dort fing ich draussen in der Kälte an zu zittern, na ja, nicht nur vor Kälte, ich war völlig durcheinander, jedenfalls zitterte ich und meine Zähne kratzten auf ihren. Doch dieser Kuss hier ist wärmer und dies nicht nur wegen der gut aufgedrehten Heizung in diesem Haus, nein, ihr Körper hat allerlei Säfte für mich gekocht und ist immer noch warm davon. Als Vorspeise gibt es ihren Speichel und, als ich ihren Hals küsse, ihren Schweiss; und natürlich bekomme ich Lust, sie auch zwischen den Beinen zu lecken, zu kosten was sonst noch in ihren Hormon- oder Drüsenpfännchen vorgegart wurde. Wer weiss, vielleicht habe ich ja Glück und der kalte Februarwind wird ihr, wenn wir später hinausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, eine Träne aus dem Auge treiben und über ihre Wange rollen lassen, kristallen und salzig, damit ich auch diese kosten kann.
4.
Mitten im Saal steht ein Tisch, er füllt die ganze Länge des Raums, und das Zimmer ist gross, mit Abstand das grösste im Haus. «Portego» nennen die Einheimischen den zentralen Prunksaal eines Palazzos, der sich durch die ganze Gebäudetiefe zieht und sich meist im ersten Stockwerk befindet.
Als Eingänge zum Saal dienen die beiden Portale an der Seite, vor denen punktgenau die geschwungenen Treppen enden. Ein abgewetzter Perserteppich, von verbogenen Messingstangen hoffnungsvoll am Boden gehalten, weist den Weg.
Der Saal ist bereits gerammelt voll, ein Teil der Gäste hat am Tisch Platz genommen, doch die meisten stehen herum, schwatzen und lachen.
Beleuchtet wird das Zimmer von einem riesigen Kronleuchter, der hoch über