Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans

Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans


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Für mich hatte sein Vorhaben irgendwie etwas Erhabenes, was man von den meisten anderen Dingen in unserem von Krankheit und Tod beherrschten Palazzo nicht sagen kann. Doch jetzt, wo wir langsam auf die Friedhofsinsel San Michele zu rudern, packt mich die Angst.

      Vor uns strahlt Murano in spöttisch hellem Licht, wir müssen einen weiten Bogen nach Süden machen, um im Schutze der Dunkelheit zu bleiben. Kurz nach dem Canale di Marani, dem breiten Fahrwasser, das bis ins Meer hinausführt, kommen wir wieder in untiefe Gewässer. Hier, östlich von San Michele, ist es dunkel und still.

      Die Friedhofsinsel ist von einer hohen Mauer umgeben, von weitem sieht sie aus wie ein Kastell. Zierbögen schmücken die Mauern in gleichmässigen Abständen; zwei Türme ragen in den nächtlichen Himmel – sie gehören zum prunkvollen Haupteingang, der sich an der Venedig zugewandten, vorderen Seite befindet.

      Wie wir unserem Ziel näherkommen, gewinnt auch Filiberto seine Fassung wieder. Er lässt von seinem Bruder ab und setzt sich auf, mit dem Handrücken wischt er sich die Tränen vom Gesicht. Er befiehlt Gunther, leicht nach rechts zu drehen, um auf der dunklen Ostseite an die Insel heranzufahren. Luciano setzt sich neben Gunther und hilft ihm beim Rudern. Die letzten Meter bis zum Ufer scheinen endlos.

      Wir müssen vorsichtig navigieren, denn vor der Mauer liegen grosse, mit Algen bewachsene Steine, auf die wir sonst auflaufen würden. Nirgends gibt es eine Möglichkeit, mit dem Boot anzulegen, also beschliessen wir, es mit dem Anker zu befestigen. Gunther zurrt die Taue fest, wir steigen aus ins seichte Wasser.

      Die Mauer ist höher als wir dachten. Sicher sechs Meter weit ragt sie hinauf. Es dürfte schwierig sein, an ihr hoch zu klettern – die fein gemauerte Backsteinwand bietet kaum eine Möglichkeit sich festzuhalten. Etwas ratlos stehen wir vor dem Hindernis. Natürlich haben wir ein Seil mitgenommen, welches wir wie ein Lasso werfen können, doch wo sollen wir es befestigen?

      Filiberto macht im Wasser ein paar Schritte zurück und sucht mit zusammengekniffenen Augen die Mauer ab, als ob er nach etwas Ausschau halten würde. «Dort, seht doch, dort», sagt er auf einmal hastig und winkt mit dem Arm. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich jemals über den Anblick eines Kruzifixes erfreut sein würde, doch jetzt macht mein Herz einen Sprung: pechschwarz und mächtig ragt die Spitze eines Steinkreuzes über die Wand hinaus. Es muss wohl zu einem Grab dort irgendwo hinter der Mauer gehören.

      In nur zwei Versuchen schaffen wir es, das Seil über das Kreuz zu werfen. Luciano steigt als erster auf die Mauer, Gunther ist der nächste; gemeinsam ziehen die Beiden dann Maurizio hinauf, den wir mit seinem Gürtel am Seil befestigt haben. Es folgen Filiberto, Vitus und ich.

      Wie ich mich über den Rand der Mauer stemme, sehe ich, dass der Friedhof im Dunkeln liegt. Vor mir an den Wandgräbern brennen nur wenige, verlorene Kerzen und Grablichter. Zwischen den Gräbern verläuft ein Weg aus Kieselsteinen, auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt.

      Wir lassen uns langsam dem Seil entlang nach unten. Das Kreuz ist Teil eines Grabsteins, welcher in die Aussenwand eingelassen ist. Filiberto bedankt sich beim unbekannten Toten für den Hilfedienst, indem er mit dem Ärmel sorgfältig unsere Spuren vom Stein wischt.

      Zu viert schultern wir Maurizio. Dann laufen wir los, hetzen durch die Gräberlandschaft, ohne uns noch einmal umzusehen, weiter und immer weiter. Ich höre über uns ein Geräusch und befürchte, es könnte ein Hubschrauber sein. Sucht man uns bereits? Doch es ist nur ein Linienflugzeug, das bei Mestre, auf der anderen Seite des Wassers, gestartet ist.

      Ich schaue im Laufen einen Moment zu lange nach oben und stolpere über einen Mauervorsprung; es gelingt mir nicht, mich mit den Armen aufzufangen und ich knalle Brust voran auf den Boden. Die anderen traben unbeirrt weiter. Maurizios rechte Schulter, die ich zu stützen hätte, hängt schlapp nach unten, sein Arm streift fast den Boden.

      Ich sehe sie rennen, Luciano, Gunther, Filiberto, in ihren Schnallenschuhen aus dem siebzehnten Jahrhundert, ihren Rüschenhemden, ihren Mänteln mit den bestickten Puffärmeln. Vitus hat sich sogar noch den dreieckigen Hut aufgesetzt, damit ihm sein langes, fettiges Haar nicht ins Gesicht fällt. Er läuft voran, die Holzfigur wie ein Totem vor sich hertragend, aus seinem Mund kommt dampfend der Atem, er sieht aus wie ein wahnsinniger Priester im Weihrauchnebel. Maurizios Kopf ist nach hinten geknickt, aus seinem Mund fällt im Takt der stampfenden Schritte der Träger Eiter auf die umliegenden Gräber.

      Was mache ich hier eigentlich? Wie bin ich in Gottes Namen hier gelandet?

      Ich drehe mich auf den Rücken und spreize die Arme. Der Boden ist kalt, Kieselsteine drücken schmerzhaft auf meine Kopfhaut. Über mir zieht Alitalia, Flug 1114, das Fahrwerk ein, die Flügel der Maschine bedecken für einen Moment den matt leuchtenden Mond.

      2.

      Alles begann mit Anna.

      Jedenfalls für mich ist das so. Luciano glaubt, dass es einfach das Schicksal war, das uns übel mitspielen wollte.

      Vielleicht ist ja auch der Kellner im Caffè Florian schuld, der ihr die Cioccolata calda in einer kaputten Tasse serviert hat. Am zersplitterten Rand hat sie sich den Mund verletzt, im Schmerz zieht sie die Lippen leicht nach oben, was ihr etwas Überhebliches, etwas Herausforderndes gibt. Dieser Mund war das Erste, was ich sah, als ich durch die Scheiben aus uraltem Murano-Glas äugte. Sie sass am Fenster, alleine auf dem antiken Sofa aus weinrotem Plüsch, völlig in sich versunken. Ist das wirklich erst vier Wochen her?

      Es war der zweite Sonntag des Carnevale. In der Karnevalszeit ist der Genuss einer Tasse Cioccolata calda bei Florian ein Ritual. Nach sechzehn Uhr am Nachmittag sind die Räumlichkeiten den kostümierten Gestalten vorbehalten – hinein kommt nur, wer verkleidet ist, am bestem in traditionellem Gewande. Die Tagestouristen aus aller Herren Länder stehen sich vor dem Eingang des 300 Jahre alten Cafés dann jeweils erfolglos die Füsse platt.

      Ich sehe den Moment noch genau vor mir: Sie sitzt da in Kleidern aus der Zeit der französischen Musketiere, weisses Hemd, braune Reiterhosen, hohe, bis weit über die Knie ragende Stiefel mit breiter Krempe. Auf dem Kopf trägt sie einen riesigen runden Hut, von fast einem Meter Durchmesser.

      Am Tisch ihr gegenüber sitzt eine alte Dame in einem Rokoko-Kostüm, stilgerecht schwitzend unter einer bepuderten Perücke. Die Frau hat ihre Brüste mit einem Korsett zusammengeschnürt, der Ausschnitt ist tief, eine reichlich selbstbewusste Auslage für zwei so schrumpelige Äpfel. Neben der Alten sitzt eine junge Person in einem Ballkleid, ich weiss nicht, ist es ein Mann oder eine Frau, ihre Enkeltochter vielleicht oder ein Lustknabe. Die beiden füttern sich gegenseitig mit den Silberlöffelchen; einmal lecken sie gleichzeitig die Schokolade vom Stiel, ihre Zungen berühren sich.

      Die Cioccolata calda im Florian hat einen legendären Ruf. Das Getränk kann, so erzählt man sich, Liebe und Leidenschaft erwecken. Ich glaube, der Gedanke daran hat mehr Wirkung als das Getränk selbst, aber das ist ja eigentlich egal. Die Schokolade schmeckt jedenfalls sehr gut, süss und kräftig. Die Magie des Getränks beruht vornehmlich auf dem hohen Gehalt an Theobromin im Kakao, man fühlt sich in der Tat aufgeweckt wie nach mehreren starken Espressi.

      Mein Bruder und ich hatten geplant, in den Palazzo Correr zu gehen, wo eine Ausstellung über den spanischen Maler Goya lockt. Vitus zieht mich am Arm, er hasst den Markusplatz, die Leute, den Rummel. Wir seien doch erst letzten Sonntag hier gewesen, drängelt er.

      Ich will wenigstens so lange vor dem Fenster stehen bleiben, bis sie mich ansieht, doch sie beugt sich nur noch tiefer über ihre Tasse, verschwindet unter ihrem Hut wie unter einem Sonnenschirm. Nur die Alte lächelt mir zu, mit Schokolade verschmierten Zähnen, ihr Pinocchio dreht sich ebenfalls um und schenkt mir einen Augenaufschlag. Ich lächle nett zurück und lasse mich dann von Vitus wegziehen.

      Irgendwie hat mich eine seltsame Euphorie erfasst, doch sie währt nicht lange – Goya verdirbt mir die Stimmung gründlich. Seine Bilder sind ein einziger Schicksalsschrei der Kreatur Mensch: Geplagte Gestalten in einem Irrenhaus, Gefangene in dunklen Gewölben, Schiffbrüchige zwischen todbringenden Klippen.

      Vitus kauft den Ausstellungskatalog, wie jedes Mal, wenn wir irgendwo ein Museum besuchen. Er schaut die


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