Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
den er haut.
Der Kauf der Bücher ist ein Luxus, den er sich als Bildhauer eigentlich gar nicht leisten kann. Seine Frauen- und Männertorsos, wild, roh und schön, verkauft er kaum. Sein Geld verdient er hauptsächlich damit, dass er für Luxushotels Schwäne aus Eis schnitzt. Vergängliche Schönheiten, die sich dafür zu schämen scheinen, nur als Zierde für opulente Buffets zu dienen und aus Protest besonders schnell schmelzen – Eistränen für gehobene Sommernachtsfeste.
Nach der Ausstellung schlendern wir zurück zur Wohnung. Lucianos Schwiegervater besitzt ein Appartement im Quartier Castello, nahe dem Arsenale. Er benutzt das Appartement selten und wenn, dann meist nur für wenige Tage – an Neujahr, um den Jahreswechsel auf dem Markusplatz zu feiern, im Sommer, um mit dem Boot aufs Meer hinauszufahren, im Herbst, um in den örtlichen Restaurants frische Trüffel zu speisen.
Die Wohnung hat er günstig erwerben können, weil die Stadtverwaltung am angrenzenden Platz eine Anlaufstelle für Drogensüchtige eröffnet hatte, wo diese sich saubere Spritzen holen konnten. Die Junkies lungerten im Quartier herum oder legten sich auf der Calle dei Furlani, der lang gezogenen Gasse, die vom Platz Richtung Zentrum führt, in den überall herumliegenden Hundekot zum Schlafen. Die Anwohner haben sich inzwischen erfolgreich gegen die Anlaufstelle gewehrt und den Fixerraum samt Junkies hinüber nach Mestre vertrieben – aus den Augen, aus dem Sinn.
Luciano ist eifrig in der Küche beschäftigt als wir eintreten. Auf den Fenstersims hat er einen Campinggrill gestellt, auf dem in Alufolie gehüllt drei Fische brutzeln. Wir fläzen uns in die Liegestühle auf der angrenzenden Terrasse und strecken die Beine von uns. Luciano ist besonders guter Stimmung und lässt es sich nicht nehmen, auch noch die Rolle des Kellners zu übernehmen: eine schöne Flasche Pinot Grigio bringt er uns, fachmännisch entkorkt und im Eiskübel serviert.
Das kalte Glas, das er mir in die Hand drückt, lässt mich frösteln. Noch schickt die Sonne zwar mutig ein paar letzte Strahlen, doch diese haben wenig Kraft – kein Wunder, es ist immer noch Februar. Ich stelle das halbvolle Glas auf den Boden und beschliesse, heiss duschen zu gehen, schliesslich haben wir vor, später noch auszugehen. Als ich zurückkomme haben Luciano und Vitus noch zwei weitere Flaschen geköpft und es darüber wohl etwas an Aufmerksamkeit für den Grill mangeln lassen. Zwei Fische sind verbrannt, sodass wir uns den Dritten teilen müssen. Der jedoch schmeckt hervorragend.
Nach dem Essen ziehen wir uns um. Der Besitzer des kleinen Hotels um die Ecke hat uns von einem Fest auf einem Schiff draussen in der Lagune erzählt, dem Carnevale degli Artisti, dort wollen wir hin.
Vitus hetzt uns voran durch die Gassen, er will nicht zu spät kommen. Er habe gehört, es werde jeweils proppenvoll auf dem Boot: «Die lassen dich die Beine in den Bauch stehen, eine Stunde in der Kälte, ihr werdet sehen», warnt er, doch Luciano dämpft seinen Eifer: «Man kann an einem Anlass nur einen Fehler machen, nämlich zu früh zu kommen.» Ich verlasse mich in solchen Situationen lieber auf den Freund als auf den Bruder, denn etwas muss man Luciano lassen: er hat ein Gefühl für Timing wie kein anderer. Nie riskiert man mit ihm die Peinlichkeit, zum ersten Dutzend verlorener Seelen zu gehören, die mühsam konversierend in zu grossen und zu leeren Zimmern herumstehen. Es sei wie bei einer chemischen Reaktion, meint Luciano, es brauche die genau richtige Dichte der Moleküle, damit der Prozess in Gang komme. Diesen Moment zu erwischen ist für ihn zu einer Manie geworden, doch ich verstehe ihn: Das Prickeln in der Luft, im Moment, wenn die Sache losgeht, ist fast physisch spürbar; wenn das Gemeinschaftswesen Mensch sich im Pfuhl seiner Artgenossen zu suhlen beginnt, sich öffnet mit allen Sinnesorganen. Das einzig wirkliche Abenteuer bleibt eben doch die Begegnung mit einem anderen Menschen, da kommen auch gewaltige Berggipfel und die schönsten Sonnenuntergänge nicht dagegen an. Wenn man Glück hat und die entscheidende Welle erwischt, kann man den ganzen Abend surfen auf dem Schwall von Geselligkeit, sein Brett immer wieder heraufziehen, den Blick Richtung Horizont und es einfach darauf ankommen lassen, wohin einen die Strömung trägt.
Als ich das Boot sehe, bin ich enttäuscht. Vor der Riva dei Sette Martiri, in der Nähe der Biennale, liegt ein langes flaches Schiff, wie es für Kreuzfahrten auf Flüssen verwendet wird. Mit solchen Booten tuckern sonst Rentner über den Rhein oder die Mosel. Wir schlurfen die Brücke hinauf. Oben steht ein in lächerliches Kapitänsweiss gekleideter Türsteher und streckt uns seine haarigen Hände entgegen, er sieht aus wie Spencer Tracy im Film «Arzt und Dämon».
Fünfzig Euro Eintritt will er, dafür seien aber auch die Getränke gratis.
Unseren Vorschlag, erst mal einen Blick hinein zu werfen, lehnt er ab. Luciano zahlt, Mister Hyde lässt uns durch, und wir stehen in einem Vorraum, in welchem dichtes Gedränge herrscht. Die Stimmung ist gut, die Leute sind aufgekratzt, meine Bedenken schwinden.
Links und rechts befinden sich mächtige Säle, aus denen Techno-Musik dröhnt. Wir entscheiden uns für den Raum zur Linken, dort finden die Aufführungen der Künstler statt. In der Mitte des Raumes stehen mehrere Leute vom Sicherheitsdienst; sie versuchen verzweifelt die Tanzfläche frei zu halten, indem sie die Leute an die Bar oder an die Tische an den Seiten dirigieren.
Zunächst wollen wir uns einen Drink ergattern, kein einfaches Unterfangen, denn am Tresen stehen die Gäste in mehreren Reihen. Luciano kämpft sich durch und bestellt zwei Flaschen Champagner und zehn Gläser. Ich denke, er hat sich etwas viel vorgenommen, aber ich täusche mich, denn eine Gruppe Engländerinnen, ermüdet vom Anstehen, ist dankbar für die Gläser. Als Gegenleistung lassen sie uns an ihrem Tisch sitzen. Eine gute Sache, denn von hier aus haben wir beste Sicht auf die Tanzfläche.
Manuel, der Hotelbesitzer, hat uns von den Auftritten auf diesem Boot erzählt – Laien aus allen möglichen Ländern haben einen Freipass, sich zu inszenieren, oft zu blamieren, manche Sachen seien toll, manche fürchterlich schlecht.
Eine Balletttänzerin aus Holland versucht ihr Glück. Das spindeldürre Wesen passt nicht so recht zur Opulenz von Richard Wagner, mit dessen Ouvertüren sie ihren Tanz unterlegt. Die Töne aus den Lautsprechern werden zudem sofort erschlagen von den Technobeats aus dem Saal gegenüber – ein musikalisches Kräftemessen, das nicht zugunsten des Klassikers ausgeht. Die Tänzerin leidet mit seltsamen Verrenkungen, Bewegungen wie von kranken Kühen, im Rhythmus des Rinderwahns, Bovine Spongiforme Enzephalopathie.
Mehr Stimmung kommt auf, als ein paar Drag Queens aus Milano die Tanzfläche betreten. Was heisst betreten, regelrecht hereingeweht kommen sie, begleitet von Gloria Gaynors Song «We will survive». Die Kerle sind alle mindestens zwei Meter gross, sie tanzen wild umher, das Publikum kommt in Stimmung, wir klatschen mit im Takt der Musik, die Jungs freut es und sie setzen noch einen drauf: Einen Cancan mit wehenden Röcken legen sie aufs Parkett, bei jedem Schwung ihre haarigen Beine zeigend.
Das Publikum tobt und ich nutze die Gelegenheit, um aufs Klo zu gehen. Die Toilette ist im Zwischenraum beim Eingang, der Türsteher hat inzwischen alle Hände voll zu tun, die Leute drängeln auf der Brücke. «Das Boot ist voll», schreit er in die Menge hinaus, «wenn ich mehr Leute hereinlasse, sinkt es.»
Das ist natürlich Unsinn, denn das Schiff liegt fest verankert am Ufer. Dennoch begrüsse ich seine strikte Haltung – die Luft wird jetzt schon knapp, gesättigt vom Schweiss der Tanzenden und vom Rauch unzähliger Zigaretten.
Ich beschliesse, etwas frische Luft zu schnappen und nehme die Treppe, die aufs Oberdeck führt. Ich staune, wie ruhig es hier oben ist, nur wenige Gäste haben sich hierhin verirrt, obwohl der Ausblick phantastisch ist. Vor mir liegt die Lagune, rechts im Hintergrund ragt stolz die Kirche San Giorgio Maggiore in den Himmel. Hinter mir liegt das Quartier Castello. Nicht prächtige Paläste wie am Canal Grande gibt es hier, sondern normale Wohnhäuser, wie man sie überall in Norditalien findet, mit gelber oder ockerfarbener Fassade und grünen Fensterläden.
Unzählige Fernsehantennen auf dem Dach wetteifern um die Signale der Fernsehstationen. Wer mag die Gunst der Bewohner wohl gerade gewinnen, Rai uno mit den Nachrichten, Rai due mit den Fussballpartien, oder, zu dieser späten Abendstunde, einer der Regionalsender mit den ewigen Telefonsex-Spots?
Vor den Häusern stehen Kinderfahrräder. Im Gegensatz zu den engen Gassen um den Markusplatz finden sich hier in der Nähe der Biennale breite Alleen und grosszügige Parkanlagen. Die Mütter gehen