Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans

Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans


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nicht zu stören.

      «Komm, trink noch was mit uns», schlägt sie vor. Sie dreht sich um, ohne meine Antwort abzuwarten und läuft zu ihrem Tisch zurück. Ich laufe ihr hinterher, nicht zu schnell, versuche meine Schritte zu verlangsamen, will auf den fünf, sechs Metern meine Fassung wieder finden, die Schultern rauf, das Kinn etwas nach oben, mein Lächeln schön locker aus den Mundwinkeln ziehend.

      Ich glaube, der kurze Weg hat nicht gereicht, eine respektvolle Statur aufzubauen, jedenfalls begrüssen mich ihre Bekannten nur mit einem nachlässigen Kopfnicken. «Das sind Laura und Charlotte», sagt sie und zeigt auf die beiden dunkelhaarigen Frauen, die mit dem Rücken zu mir sitzen. «Und unser neuer Freund hier ist …», beginnt sie und schaut mich fragend an. «Vincent», antworte ich. «Vincent», wiederholt sie. «Und das sind», sagt sie und zeigt auf die beiden mich schweigend musternden Männer, «das sind Filiberto und sein Bruder Maurizio.»

      3.

      Von weitem sieht es aus, als ob die Insel brennen würde. Wie wir näherkommen, sehe ich, woher die Flammen stammen: Filiberto hat an der Uferböschung eine Reihe von ausgehöhlten Baumstämmen platziert, die im Innern lodern. Die Stämme sind mannshoch und sicher einen halben Meter dick.

      Sie beleuchten eine breite Treppe mit schmutzigweissen Marmorstufen, majestätisch zieht sie sich die Böschung hinauf, gegen oben schmaler werdend. Die Treppe führt auf einen gepflasterten Weg, der sich durch eine Wiese zieht. Der Palazzo im Hintergrund ist beleuchtet; aus den Fenstern dringt Musik und Lachen, das Haus prahlt in festlichem Stolz.

      Ob Anna am Ufer auf mich wartet? Ich glaube nicht, obwohl ich denke, dass es sich für sie lohnen würde. Sie würde drei Gestalten langsam über das Wasser gleiten sehen, in einem Motorboot aus edlem Holz, vom flackernden Licht des Feuers beleuchtet, drei Männer in dunklen Hüten und schwarzen Umhängen, im Gesicht die «Bauta», die traditionelle Maske des Carnevale. Die Männer sind etwa gleich gross, sie unterscheiden sich von weitem nur durch die Farbe ihrer Larven, weiss diejenige des Mannes links, schwarz diejenige des Mannes in der Mitte, golden diejenige des Mannes rechts. Ich weiss nicht, vielleicht könnte sie auch die Erwartung sehen, die heiss von uns abstrahlt, es würde mich nicht wundern, wir würden unter unseren Umhängen glimmen wie glühende Holzkohle.

      Anna hat mir Filibertos Adresse genau aufgeschrieben, ja sogar gezeichnet, wo sich die Insel in der Lagune befindet. Das wäre nicht nötig gewesen – dem Fahrer des Taxiboots genügte der Name. Der Weg vom Arsenale durch den Canale di Treporti, den Canale di Burano und dann an Torcello vorbei in die Palude della Centrega ist fast zwanzig Kilometer lang, und unser Schiffer hat den ganzen langen Weg geschwiegen, die Stirn in Falten gelegt, den Blick düster nach vorne gerichtet.

      Er sucht eine Stelle an der Balustrade vor der Treppe, an der er uns aussteigen lassen kann. Wir bezahlen ihn, er steckt das Geld wortlos ein und dreht ab.

      «Ich glaube, das wird ein guter Abend», sagt Luciano und beginnt die Stufen langsam hinauf zu stapfen. Vitus bückt sich und klopft mit den Knöcheln auf den Marmor, er kennt sich aus mit Steinen, staunend bleibt er einen Moment stehen, dann folgt er uns.

      Die Wiese ist ungepflegt, das Gras steht hoch, grobe Äste liegen herum. Auf der linken Seite, nahe beim Ufer, umrandet eine zerfallene Steinmauer einen ehemaligen Gemüse- oder Kräutergarten. Schön sind die Bäume, riesig prangen sie in den Himmel mit ihren knorrigen Ästen, Reste eines alten Waldbestandes, der einst die ganze Insel bedeckte. Aus einem der Stämme würde Vitus in ein paar Wochen eine Grabfigur schnitzen, doch das wissen wir in diesem Moment noch nicht, wie vieles andere, das uns hier erwarten wird.

      Das Seltsame an den Kostümen aus dem siebzehnten Jahrhundert ist, dass man darin automatisch langsamer zu gehen beginnt. Hetze passt nicht zum altertümlichen Stolz dieser Kleider und das ist gut so, denn es gibt uns die Gelegenheit, die Umgebung in uns aufzunehmen, oder besser noch, sie auf uns einwirken zu lassen. Sie gibt unserer Verkleidung den letzten Schliff, wie Chamäleons, die ihre Farben ändern, wechselt unser Gemüt die Flaggen. Es ist ein bisschen, als ob wir zu den Menschen werden, die einst vor dreihundert Jahren in diesen Kleidern steckten; es zwickt sogar in meinen Schultern, als ob sie in die Leerräume der etwas zu grossen Kostümjacke hineinwachsen wollten.

      Wir schreiten festen Schrittes voran, den Rücken gerade, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Die Schuhsohlen knirschen auf dem Weg, feine Steinchen bedecken den Pfad, eine dünne Schicht nur, sogar dieses Detail stimmt, wir riskieren nicht, unbeholfen seitlich weg zu knicken, wie auf den satt gefüllten Kieswegen der modernen Villen bei uns zuhause am See.

      Die Flügel der Eingangstüre sind einladend aufgeklappt, in den Fenstern stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen und locken uns, drei Motten auf dem Weg ins Licht. Der Palazzo ist gebaut im Stil der venezianischen Gotik – Schönheit als Selbstverständlichkeit – und so steht er auch da in seinem Kleid aus rostroten Backsteinen: ein alter Adliger, der weiss, dass sein Gewand ihm steht. Zentrale Fensterfront im ersten Stockwerk, acht verspielte Spitzbögen breit, mit marmornem Balkon. Links und rechts davon deuten ähnliche Fenster weitere Prunkräume an. Das Haus ist drei Stockwerke hoch. Im Gegensatz zu den Palazzi in Venedig kann man hier auch die unterste Etage benützen, denn das Haus steht auf festem Boden.

      Es scheint sogar unterkellert zu sein: um einzutreten muss man drei breite Treppenstufen nehmen. Auf der untersten Stufe sitzt ein Mann, die langen grauen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sein Hut liegt vor ihm am Boden, er hat eine Zigarre in der einen, einen Notizblock in der anderen Hand. Schräg hinter ihm stehen zwei Frauen in bauschigen Kostümen und versperren den Eingang. Sie reden mit einer halbnackten Schönheit, welche das Gesicht, den Oberkörper, die Arme und Beine mit grüner Körperfarbe bemalt hat, ansonsten aber nur einen grünen Rock und um den Hals eine Kette aus Muscheln trägt. Sie tippelt mit ihren nackten Füssen auf dem kalten Stein der Treppe, es zieht sie herein in die Wärme aber die Rokokodamen plaudern unbeirrt weiter auf sie ein. Neben ihr steht ein ebenfalls grün bemalter Hüne, auch er nackt bis auf eine kurze bauschige Hose, er hält einen Dreispitz in der Hand, eine eindrucksvolle Vertretung für den Meeresgott Neptun. Völlig ruhig steht er da, stolz blickt er uns ins Gesicht, ich sehe ihn durch die Löcher in meiner Pappmachémaske wie durch ein Fernrohr.

      Um an der Gruppe vorbei zu kommen, müssen wir unsere triumvirale Front aufbrechen und hintereinander weitergehen. Die Türschwelle ist morsch, das Holz hier draussen muss bei Stürmen einiges ertragen, mitunter gar, wenn der Wind das Wasser von Osten her in die Lagune treibt, der Mond sich in seinen vorgespurten Bahnen abwendet und die Flut kommen lässt, dann treibt das Wetter nasse, salzige Böen bis hier hin, der Ersatz-Neptun da hinter uns hätte seine Freude daran, wie prachtvoll das Meer dem Land seinen Hass zeigen kann, noch immer verärgert darüber, dass ein paar Kaufleute im Mittelalter der Lagune mit Aufschüttungen Landteile abgerungen haben. Hunderte, in Venedig selbst sogar tausende Holzpfähle wurden von den Menschen in den Boden gerammt, um das Land zu befestigen, Nägel im Fleisch des Meeresgottes.

      Der Eingangsraum ist sicher sechs Meter hoch. Die Wände sind weiss, oder besser gesagt, sie sind weiss unter einer Unzahl in schwarzer Farbe gemalter Wörter. Es sind offensichtlich Namen, nicht alphabetisch geordnet, aber säuberlich aufgelistet, von Wand zu Wand ziehen sich Zeile für Zeile einheitlich grosse Buchstaben.

      Aufgelockert wird das strenge Konzept nur durch die unterschiedliche Länge der Namen.

      Ein paar Wörter erkenne ich, Maurizio Bertozzi steht dort, nicht grösser als die anderen Namen, und ja, vorne an der Wand, ganz unten steht auch ihr Name, Anna, Anna van Landsmeer.

      «Filibertos Gästeliste. Vor zehn Jahren hat er damit angefangen, jetzt sind die Wände schon fast voll», sagt der Grauhaarige, den Hut inzwischen wieder auf dem Kopf, die Zigarre im Mund, und gibt uns die Hand: «Ich bin Pedro Juan, ich male die Buchstaben.»

      Wir müssen ihm unsere Namen nennen, er schaut auf der Liste kurz nach, dann geht er zum Tisch in der Ecke, nimmt einen der bereitstehenden Pinsel aus dem Glas, packt einen Farbtopf, verschiebt mit dem Fuss ein Kissen, das vor der Wand am Boden liegt, kniet nieder und listet unsere Namen fein säuberlich auf.

      Dann dürfen wir weitergehen, die Treppe hinauf in den ersten Stock.


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