Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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oft ängstlich, nie aufgebracht oder zornig, aber immer hilfsbereit und zu allen überaus freundlich. Das Auffällige jedoch war, dass diese kleine Person deshalb nicht nur von allen, auch den Erwachsenen, geliebt wurde, sondern dass sie, die so gar kein Aufheben von sich machte, mit allem, was sie sagte, sofort Gehör fand. Gerade weil sie nur wenig sprach, aber das Wenige mit einer klaren, wenn auch eher leisen Stimme und stets in geordneten Sätzen hervorbrachte, wurde sie beachtet, ja respektiert wie kaum einmal ein Kind diesen Alters. ‚Eine echte Autorität!‘, hatte der Konsul neulich spöttisch, aber gleichwohl anerkennend gesagt, als sich Bienchen nach kurzem Spiel kritisch, aber durchaus besonnen über die Fähigkeiten des Klavierstimmers geäußert hatte. Bienchen war in der Tat ein merkwürdiges, oder besser gesagt, ein bemerkenswertes Kind.

      Sollte Ludwig in den Ferien allzu ausgelassen werden oder allzu verwegene Streiche aushecken, dachte Viktor, so würde sie sicherlich auf meiner Seite sein. Sie war für ihn in allem das Gegenstück zu Ludwig. Aber auch dann, wenn sie einmal in einem Streit Ludwig recht gäbe, so nahm er sich vor, würde er sich fügen. –

      Für einen Augenblick war Viktor überrascht, als Onkel Xaver mit einer Kutsche ankam, aber eigentlich hätte er sich das denken können. Es war eine sehr elegante Kutsche, deren Verdeck Onkel Xaver in der Morgensonne zurückgeklappt hatte, sodass sie noch leichter und eleganter wirkte. Sie war dunkelbraun lackiert und mit feinen goldenen Zierlinien versehen. Auch die schlanken Speichen der Räder trugen solche Zierlinien, kein Vergleich mit den wuchtigen gelben Eichenholzspeichen bei ihrem Buick, die kraftvoll, aber plump dagegen waren. ‚Chaisenbau Wilhelm Wimpff & Sohn, Stuttgart‘ entdeckte Viktor auf einem gegossenen Bronzeschildchen.

      Die Kutsche sei sehr alt, und sie sei wertvoller als manches Auto, sagte Onkel Xaver mit bedeutungsvollem Nicken, heute könne man so etwas gar nicht mehr machen und erst recht nicht bezahlen, und die zarten goldenen Zierlinien, genauso wie die winzigen Blumenbukette an den Ecken und den Enden der Linien, seien alle per Hand mit einem feinen Pinsel gezogen. Rechne man die beiden Pferde noch dazu, dann bekäme man sicher für das gleiche Geld sogar zwei Autos. Etwas kleinere vielleicht. Es waren sehr schöne Pferde, fand Viktor, schlank und mit einem ganz ebenmäßigen, glänzenden Fell, aber so groß hatte er sich die Pferde, die er ja aus seinen Bilderbüchern kannte, doch nicht vorgestellt. Trotzdem wollte Ludwig, anstatt gefälligst neben Onkel Xaver Platz zu nehmen, unbedingt während der Fahrt auf einem der Pferde sitzen, was aber viel zu gefährlich sei, wie Onkel Xaver, sonst ein gutmütiger Kinderfreund, fast barsch erklärte.

      Zur Abfahrt waren dann alle, das Kindermädchen und Ludwigs Eltern, aber auch das Zimmermädchen und sogar die Köchin, an den Wagen gekommen. Der Konsul war nicht erschienen, aber Viktor sah oben seine Mutter hinter einem Fenster stehen. Als die Pferde anzogen, ging ein großes Winken los, und nur Bienchen, die wie eine kleine Prinzessin hinten in den Polstern versunken war, grämte sich, weil man da viel tiefer saß als vorne auf dem Bock und sie wegen des hohen zurückgeklappten Verdecks nicht nach hinten hinauswinken konnte.

      „Die stinken aber!“, raunte Ludwig mit dem Blick auf die Pferde Viktor ins Ohr, und dieser, obwohl er noch nichts wusste vom vielfältigen Duft des Abenteuers und der Ferne, sog mit erhobener Nase die Luft ein, schüttelte den Kopf und sagte nur streng: „Sie duften.“

      Er war verzaubert von der Leichtigkeit dieses Fahrens, vom Dahingleiten des kommod gefederten Wagens, den die Pferde gar nicht zu spüren schienen, und er lauschte auf das Klackern der Hufe und das Geräusch der Räder, die ihm jede Veränderung im Straßenbelag mitteilten. So mächtig hatte er sich die Pferde wirklich nicht vorgestellt! Umso erstaunlicher, wie sie, fast schwerelos, über der Straße schwebten – es sah aus, als hingen ihre schlanken Beine nur locker vom Rumpf herab und als verwendeten sie ihre Hufe nur dazu, den Takt ihres Trabs klack-klack, klack-klack, klack-klack auf das Pflaster zu wirbeln.

      Im munteren Trab, der auch den Pferden am meisten Freude zu machen schien, war Viktor am glücklichsten. Er spürte, dass der Takt der Hufe ein ganz bestimmtes Tempo haben musste, wenn es wirklich mühelos und flüssig vorangehen sollte, nicht schneller, aber auch keinesfalls langsamer, und es erstaunte ihn, dass es den Pferden gelang, auch über eine weite Strecke hinweg diesen Takt unverändert einzuhalten. Ob das wirklicher Gleichschritt war? Viktor versuchte, diesen schnellen Hufschlag mit den Fingern auf dem Polster mitzutrommeln, vergeblich, es waren acht Hufe, die da über das Pflaster klackerten.

      Wenn die Pferde doch einmal aus dem Takt fielen, dann, so schien es Viktor, blickte Imi kurz zu Persil hinüber, mindestens glaubte Viktor zu erkennen, wie sie ihren Kopf bewegte, und Augenblicke später waren sie wieder beisammen, und die Ordnung, die alles so wunderbar trug, hatte sich wieder eingestellt. Ihr Zusammenspiel beschäftigte Viktor lange; es konnte nicht anders sein, als dass sie sich, auch im wildesten Prasseln der Hufe, nach einander richteten.

      „Wenn ich mir das so anschaue“, sagte Viktor bei einem kurzen Zwischenhalt zu Ludwig, „dann ziehen die Pferde gar nicht, sondern sie drücken eigentlich eher. Natürlich ziehen sie den Wagen, das ist schon richtig, aber sie machen das durch Drücken. Sie drücken mit der Brust, siehst du, hier –“, wobei er auf das Brustblattgeschirr vorn deutete. Ludwig interessierte das aber nicht weiter, obwohl er ebenfalls das ganze Geschehen um die Pferde aufmerksam verfolgte. Auf der Weiterfahrt stieß er Viktor kurz an und machte in Richtung der Pferde eine Kopfbewegung, wie er das immer machte, wenn er auf etwas hinweisen wollte. Viktor sah nichts oder nur, dass Persil begann, den Schwanz zu heben, aber Ludwig schaute gespannt hin und lachte, als dann die Pferdeäpfel, einer nach dem anderen, auf die Straße fielen. Viktor wollte wegschauen. Es war ihm peinlich, mit Ludwig zusammen Persil bei seinem Geschäft zugesehen zu haben, und es störte ihn, dass ihn Ludwig sogar noch darauf aufmerksam gemacht hatte. Er blickte scheu nach hinten zu Bienchen, Bienchen aber schaute zufrieden in die vorbeiziehende Landschaft hinaus. –

      Das Vergnügen der drei auf dem Bauernhof war ohne Ende. Neue Abenteuer jeden Tag. Onkel Xaver spannte die Kinder geschickt ein; haben sie erst einmal Langweile, wusste er, dann ist auch das Heimweh bald da.

      Immer wieder Neues bei der Erkundung des Hofes. Die Buben waren schreibfaul, doch Bienchen schrieb begeisterte Berichte nach Hause: über die lustigen jungen Schweine hinter der Scheuer; über das Pumpwerk am Bach, das alle Gebäude des Hofes mit Wasser versorgte; über das Backhäuschen, in dem am Samstag richtiges Brot gebacken wurde! Sie berichtete aber auch getreulich über die düstere Schmiede, obwohl die ihr unheimlich war, und über das Beschlagen der Pferde und die rotglühenden Hufeisen in der Esse, die es vor allem den Jungs angetan hatte, wahrscheinlich, weil sie das Gebläse betätigen durften, während sie selbst den Gestank des verbrannten Horns der Hufe entsetzlich fand. Und dann erst die Pferdekoppel, die Pferdekoppel, ihr helles Entzücken!

      Am Abend nach dem Duschen, was stets unter der Aufsicht von Tante Georgette geschah, bekamen sie, kaum abgetrocknet, ganz kleine Augen und versanken in den tiefen Betten, und nichts mehr war von ihnen zu hören.

      Onkel Xaver strahlte schon am Morgen beim Frühstück und wann immer er die Drei sah und war glücklich, dass da Kinder auf dem Hof waren – wissbegierige und hilfsbereite Kinder, fleißig und vergnügt. Wie schön das war und wie zufrieden es ihn stimmte, wenn er sie zu einer einfachen Arbeit anleiten konnte, Schritt für Schritt! Und wie ernsthaft und umsichtig die Kinder dann die Arbeit aufnahmen und wie erfüllt sie waren, wenn sie zu einem guten Ende gebracht war. Tante Georgette dagegen machte am liebsten alles selbst und gab allenfalls mal leise ihre Befehle, oft eher missmutig und immer sehr streng.

      Später, als sie wieder zu Hause waren, wunderte sich Viktor, dass er nur noch eine arg durchlöcherte Erinnerung an diese Wochen auf dem Bauernhof hatte, und darüber wunderte er sich noch viele Jahre lang, weil er das sonst gar nicht kannte. Aber nicht nur durchlöchert war das Band, sondern schlimmer noch, es war in Stücke gerissen und ganze Teile fehlten, und so fand er oft gar keinen rechten Zusammenhang mehr. Einige Inseln aber waren unversehrt erhalten geblieben. So konnte er sich noch als erwachsener Mann an dieses ebenmäßige Gesicht von Tante Georgette erinnern, in dem sich so wenig widerspiegelte, und es schien ihm dabei manchmal, als würde es allmählich immer edlere Züge gewinnen und dabei immer mehr zum entrückten Gesicht eines Todesengels werden. Weil es streng war, war es schön, aber Viktor fürchtete sich vor dieser abweisenden Schönheit. Wenn Onkel Xaver bei Tisch seine Späße machte


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