Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
und hängenden Schultern, folgsam und stumm wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, neben seinem Vater hergegangen war, vorangehen.
Viktor horchte beklommen zur Werkzeugkammer hinüber. Es geschah nichts. Er trat langsam näher und lauschte. Nichts, kein Wort. Ab und zu ein paar unregelmäßige Schritte von Herkommer, hin und her, als ob er irgendwelche Vorbereitungen träfe.
Viktors Verhältnis zum Chauffeur Herkommer war schon immer merkwürdig gespalten. Gewiss, Herkommer, der ja mit Ludwig einen Sohn gleichen Alters hatte, bemühte sich meistens recht freundlich und mit hilfsbereiter Zuwendung um Viktor, gewiss wohl auch deshalb, weil er damit seinem Ansehen bei Viktors Vater, dem Konsul, aufzuhelfen hoffte; und Viktor erwiderte diese Freundlichkeiten durchaus, aber er blieb dennoch immer ein wenig auf Distanz, weil er Herkommer, ob er wollte oder nicht, stets mit einem Hauch von Misstrauen begegnete. Er wusste selbst nicht recht warum.
Der Grund war eine lächerliche Geschichte, die schon Jahre zurücklag und an die sich Viktor nur noch dunkel erinnern konnte. Herkommer war damals im Grünen Baum bei der Versammlung irgendeiner dieser Proletenparteien, wie Viktors Mutter das nannte, als Redner aufgetreten, nicht als der Hauptredner zwar, aber gesprochen hätte er eben doch länger, vielleicht hatte er sich auch nur zu Wort gemeldet, jedenfalls sei das alles ziemlich aufrührerisch gewesen und war seiner Mutter über die Hausschneiderin, die selbst empört schien, überbracht worden. Frau Zabener war beunruhigt gewesen und hatte ihrem Mann, dem Konsul, bei Tisch davon berichtet.
„Ach, dieser Herkommer, mach’ dir da mal keine Sorgen, das ist ein ordentlicher Kerl! Er war im Krieg einer meiner zuverlässigsten Unteroffiziere.“
„Aber wenn er auf die schiefe Bahn gekommen ist, ich meine politisch, und da aufwieglerische Reden führt? Das ist gefährlich, auch für uns!“
„Ach, auf den hört doch niemand“, hatte der Konsul abgewinkt, „der Herkommer, das ist doch ein ganz Kleiner!“
Das war der einzige Satz, den Viktor verstanden und noch lange behalten hatte. Was mochte das wohl bedeuten, ein ganz Kleiner zu sein? Herkommer war doch ein großer, kräftiger Mann, den sein Vater aber, der eher etwas zierlicher war, als einen ‚ganz Kleinen‘ bezeichnet hatte. Das musste etwas anderes bedeuten. Was ist das, ein Kleiner?
Der rätselhafte Satz war in einer Zeit gefallen, in der Viktor gerade zu lesen begonnen hatte; Schilder, Zeitungsüberschriften, noch keine ganzen Sätze; vor allem Großbuchstaben hatten es ihm angetan. Da war ihm auf der Rückseite der Zeitung, in der sein Vater gerade gelesen hatte, eine ganze Seite mit lauter Inseraten aufgefallen, und über die ganze Seitenbreite stand darüber in großen Versalien und so für ihn leicht zu entziffern:
K L E I N EA N Z E I G E N !
Nun, dass Leute, die Unrechtes getan haben, also Diebe, Räuber und Einbrecher, angezeigt gehören, das hatte er während der Spaziergänge vom Kindermädchen und auch auf Autofahrten von seinem Vater schon oft gehört. Aber nicht nur diese sollte man anzeigen, sondern eben auch die Kleinen, das hatte er von nun an gewusst. Auch von den Kleinen konnte also eine Gefahr ausgehen.
So hatte der Metteur, der diese Zeitungsseite eingerichtet hatte, durch seinen sorglosen Umgang mit dem Ausrufezeichen, das Viktor von gelegentlichen Fahrten mit der Eisenbahn (‚Nicht hinauslehnen!‘) ja auch schon kannte, dafür gesorgt, dass Viktor in dieser Überschrift eine Aufforderung sah, einen öffentlichen Befehl gewissermaßen, und so hatte der Metteur damit ungewollt den Chauffeur Herkommer auf Jahre hinaus bei Viktor ins Zwielicht gerückt und Viktors Verhältnis zu ihm auf lange Zeit getrübt. Eine solche Trübung, die man fast schon eine verborgene Vergiftung nennen kann, ist desto beständiger, je weniger sich der Betroffene an Ursprung und Herkunft erinnern kann.
Offenbar war es eben aus irgendeinem Grunde verwerflich, hatte Viktor damals gedacht, ein Kleiner zu sein, und wahrscheinlich war es sogar gänzlich verboten, sich als Kleiner zu betätigen. So musste es wohl sein. Seinen Vater, der doch mindestens ein Mitwisser gewesen zu sein schien, hatte er damals nicht fragen mögen und diese Geschichte inzwischen so gut wie vergessen.
Dann endlich hörte Viktor aus der Werkzeugkammer die klatschenden Schläge eines Lederriemens auf Ludwig niedersausen. Doch es waren nicht Schläge in dichter Folge, sondern lauter einzelne, wenn auch mächtige Peitschenhiebe, zwischen denen immer wieder Pausen lagen, weil Herkommer zu jedem Schlag einen langsam gesprochenen und fast feierlichen Kommentar abgab, den Viktor draußen gut verstehen konnte.
Das war nicht heißer Zorn, das war kalte Grausamkeit. Viktor spürte sofort, schon nach dem zweiten oder dritten Schlag: Diese Pausen, das war die eigentliche Qual. Von Ludwig dagegen war nichts, nicht einmal ein Stöhnen oder auch nur ein Schnaufen zu hören. Herkommer zählte laut mit:
„V i e r ! – Bei dir ist es schade um jeden Schlag, der danebengeht!“
„F ü n f ! – Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!“
„S e c h s ! – Mir tun diese Schläge mehr weh als dir! Aber ich werde jedes Opfer bringen, um aus dir einen anständigen Menschen zu machen.“
„S i e b e n ! – Es ist meine Pflicht, das zu tun! Ich muss mich aufopfern dafür, aber dieses Opfer bringe ich gern.“
„A c h t ! – Du musst für deine Taten einstehen wie ein Mann! Jeder muss das!“
„N e u n ! – Und du musst einstehen auch für die Taten anderer.
Du hast die Verantwortung. Der Viktor hielt den Schlauch in der Hand – aber ihn kann ich nicht bestrafen.“
„Z e h n ! – Du wirst dich herrlich frei fühlen hinterher. Denn Sühne macht frei!“
Dann war nichts mehr zu hören, auch keiner dieser entsetzlichen Rechtfertigungskommentare mehr. Oh, wie grausam Ludwigs Vater doch sein konnte! Wie unbarmherzig und kalt! Dieser sonst so freundliche und hilfsbereite Mann, der seinen Vater jeden Morgen mit der Schirmmütze in der Hand und einer Verbeugung begrüßte; der ihm zum Einsteigen auf das Höflichste die Wagentür öffnete und sie wieder schloss, um sich dann im Eilschritt zur Fahrertür zu begeben; der Viktors Mutter, wenn sie einmal mitfuhr, beim Einladen und Einsteigen geradezu umschwänzelte.
Uns gegenüber – Viktor schlug sich plötzlich ganz auf die Seite seines Vaters – uns gegenüber ist er immer der aufmerksame, dienstbereite Mann, der sich stets unterordnet – Vater ahnte ja nicht, was für ein Tyrann sein Chauffeur sein konnte!
Nach einer Weile hörte Viktor, wie Herkommer seinen Sohn zu trösten begann. Er sprach jetzt in einem ungleich freundlicheren Ton, aber es war kein aufrichtiger Trost. Später ging dann, ohne ihn auch nur einen Augenblick anzusehen, Ludwig an ihm vorbei, mit einem Gesicht perfekter Verschlossenheit, in dem kein Bedauern oder gar Reue, kein Schmerz und erst recht keine Verzweiflung abzulesen war. Unnahbar kam er Viktor plötzlich vor, und als er sich beim Verlassen der Halle noch einmal zur Werkzeugkammer umwandte, war das nur noch ein kalter Blick voller Hass und Verachtung. Viktor erschrak vor diesem Blick, wie er schon manchmal vor Ludwig erschrocken war, und zugleich bewunderte er Ludwig fast. –
Mit der Anmeldung zum Gymnasium wurde Ludwigs Bindung an seinen Vater endgültig zerstört. Sein Vater war anfangs ganz gegen das Gymnasium gewesen und sagte etwas von einem ordentlichen Beruf, den er erlernen sollte. Bei Viktor sei das etwas anderes, tat er Ludwigs Einwände ab. Dabei war Ludwig doch in allen Fächern so gut wie Viktor und im Turnen sogar besser. Der alte Herkommer aber war störrisch und ließ sich nur zögernd von seiner Frau überreden. Letzten Ausschlag gab dann ein Wort des Konsuls, der dabei freilich auch daran dachte, dass es ganz nützlich sein könnte, wenn Viktor im Gymnasium seinen Milchbruder mit dabeihätte.
Also schnitt Herkommer schließlich dann doch von Ludwigs altem Schulranzen brummend die beiden Schultergurte ab und ließ vom Schuster oben einen Griff aus Kernleder drannähen, damit Ludwig eine Aktenmappe hätte.
„Das reicht so bis zur Quinta oder Quarta. Wer weiß, ob du es bis dahin überhaupt schaffst!“
Von mir aus bis zur Tertia, dachte Ludwig, der umgebaute Schulranzen machte ihm nichts aus. Hauptsache, man ließ ihn zusammen mit Viktor aufs Gymnasium gehen. Aber der verächtliche