Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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langsamer gekaut und aufgehört zu schlucken. Aber Ludwig hatte ungerührt weitergemacht.

      „Zehn Bienen wiegen noch nicht einmal ein Gramm. Bienle – du bist zu fett!“

      Und schließlich hatte er in einer Art strenger Gelehrsamkeit noch obendrauf gesetzt: „Eine Arbeitsbiene hat sich im Sommer nach höchstens vier Wochen zu Tode gerackert, steht da. Also hast du bei dieser Plackerei hier auf dem Hof – wie lange sind wir schon da, Viktor, acht Tage? – allerhöchstens noch drei Wochen!“

      Bevor Bienchen hinten im Hof bei den Gänsen verschwand, sah sie noch einmal zu ihm her. Selbst der athletische Onkel Xaver hatte den Bulldog nie mit einem einzigen Ruck angeworfen, sondern drehte das eingesteckte Lenkrad immer wieder vor und zurück, vor und zurück. Das hatte Viktor, der beim Anwerfen stets gespannt zugeschaut hatte, genau beobachtet, und so würde er es jetzt auch machen. Er spürte, wie der Kolben im Zylinder gegen das Luftpolster lief, aber da durfte man nun, wenn der Schwung verbraucht war, nicht versuchen weiterzudrehen, sondern musste den Kolben abprallen lassen, sodass das Lenkrad rückwärts lief bis zur anderen Seite. Und dort ließ man den Kolben wieder abprallen, auf das erste Luftpolster zu. Man musste die Bewegung nur genügend unterstützen, das hat er bei Onkel Xaver gesehen, und wenn bei Onkel Xaver der Kolben vielleicht fünf oder sechs solcher immer schneller werdenden Bewegungen hin und her benötigte, so würden es bei ihm vielleicht zehn oder zwölf oder noch mehr sein. Aber das spielte keine Rolle, irgendwann würde der Kolben auch bei ihm genügend Schwung haben, um das Luftpolster so zusammenzupressen, dass er über den Totpunkt hinwegkam, und das bedeutete die erste Zündung!

      Und so war es dann auch. Mit einer Serie rasch schneller werdender Donnerschläge sprang der Bulldog an, mit jedem Schlag aus seinem Schornstein eine präzis geformte Rauchwolke in den Himmel puffend, während Viktor schleunigst das Gas zurücknahm. Im gleichen Augenblick kam Onkel Xaver, der gewiss alles beobachtet hatte, vergnügt lachend aus der Werkstatt herausgelaufen, und sogar Ludwig strahlte. –

      Am Morgen des Abreisetages wurde Viktor in aller Frühe von einem seltsamen Geräusch draußen geweckt, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis ihm klar wurde, dass das nur Onkel Xaver mit seinem Jagdhorn sein konnte. Der blies alle möglichen aufmunternden Signale aus der Jägerei und auch selbsterfundene, die man daran erkennen konnte, dass sie sich wiederholten und sich dabei rasch weiter verbesserten. Es war beachtlich, welche Vielfalt an Melodien er mit den wenigen Tönen seines Instruments zustande brachte. Viktor schaute aus dem Fenster, aber da sah die Welt gleich nicht mehr so fröhlich aus. Alles war düster und grau, der Tag kam nur mühsam auf die Beine, es regnete und regnete, der Hof war voller großer Pfützen, und es roch völlig anders als all die Tage – der erste Regentag seit Wochen.

      Als sie zum Frühstück runterkamen, blies Onkel Xaver noch immer, und Schorschett stöhnte: „Das Getute macht mich noch verrückt!“

      Dann riss sie das Fenster auf und rief auf den Hof hinaus:

      „Jetzt hör endlich mit deinem Gedudel auf, Xaver! Und komm zum Frühstück!“

      Tante Georgette blickte streng drein wie immer, ihr Blick kam Viktor richtig vorwurfsvoll vor, so als ob die Drei ja selbst schuld daran seien, dass sie jetzt wieder nach Hause fahren mussten. Die strenge Miene bedrückte Viktor, und auch Bienchen, zu dem er hinübersah, schien ihm noch stiller als sonst; vielleicht aber war sie auch nur betrübt darüber, dass nun die Ferien zu Ende gingen. Ludwig dagegen machte das alles nichts aus, er schwätzte laut und aß munter drauflos.

      Beim Einsteigen hatte Onkel Xaver, der mit einem Regenhut und einem Umhang vorne allein auf dem Bock saß, noch einmal ‚Sammeln!‘ geblasen, ‚Sammeln!‘, aber Schorschett hat ihn nur kurz angeblickt, und er steckte sein Horn wieder weg. Dann ging es los, die Bäuerin winkte ihnen noch ein paar Mal nach, aber nur matt, wie es Viktor schien, wohingegen Ludwig aus dem heruntergelassenen Fenster mit beiden Armen wie verrückt zurückwinkte und gar nicht mehr aufhören wollte damit. Viktor fand das ‚einfach unpassend‘, wie das Kindermädchen zu Hause alles Übertriebene zu nennen pflegte, obwohl er im Augenblick gar keinen Grund zu nennen wusste, wieso er Ludwigs Winken – doch nichts anderes wieder als eine typische Ludwig-Albernheit! – derart unangebracht fand.

      In der Kutsche war es dunkel und es tropfte herein. Draußen stimmte Onkel Xaver ein Kutscherlied an. Bienchen merkte, wie sehr er sich bemühte, Frohsinn zu verbreiten, und sie spürte auch, als er allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte, wie verzweifelt er war.

      Keiner sprach mehr. Der Regen prasselte auf das Verdeck. Im Dunkel der Kutsche, die sanft dahinschaukelte, ließ sich gut träumen. Bienchen schien zu schlafen. Dann fiel Viktor plötzlich die Geschichte mit dem Marmeladebrot neulich ein – auch wieder so etwas mit Tante Georgette, was er gänzlich vergessen hatte! Jetzt wusste er auf einmal wieder, warum er vorhin Ludwigs Winken so übertrieben fand. Jeden Morgen nämlich hatte es zum Frühstück Marmeladebrot gegeben, wie Bienchen und er das nannten, während Tante Georgette von Musbrot sprach und Ludwig Musebrot dazu sagte; so hatte er es auch zu Hause drunten bei Herkommers gehört. Damit ist jedes Mal das Gleiche gemeint, aber bei Herkommers hatte er damals noch geglaubt, Musebrot bezöge sich irgendwie auf den Teig des Brotes, denn der enthielt, wie er später herausfand, Kümmel, und deshalb schmeckte das Brot bei Herkommers ganz anders als das Brot bei ihnen. Das war seine erste Erfahrung mit andrer Leuts Küche gewesen. Mit dem Brot hatte es angefangen, aber bei Herkommers schmeckte alles anders, roch anders, fühlte sich anders an. Und nun war auf dem Bauernhof noch einmal etwas Neues dazugekommen: In Tante Georgettes Brot war Anis, was er nur von Bonbons kannte. Da war wieder eine ganz andere Küchenwelt entstanden, und obwohl ihnen das Brot schmeckte, so hatten sie sich alle drei doch erst daran gewöhnen müssen, und freilich nicht nur an das Brot.

      Ob Kümmel oder Anis, jedenfalls hatten sie beim Frühstücken wie immer ihre Brotscheiben Tante Georgette entgegengestreckt, denn um ein allzu großes Geklecker und Geschmiere zu vermeiden, wurden stets alle Brote von Tante Georgette mit Marmelade bestrichen. Neulich aber – und das war es! – hatte der schlaue Ludwig, der als Erster an die Reihe gekommen war, sein Brot anschließend umgedreht und dann als Letzter noch einmal die Unterseite zum Bestreichen hingehalten. Schorschett hatte das erst bemerkt, als sie zum besseren Verstreichen die Brotscheibe mit der freien Hand von unten etwas abstützen wollte. Ganz gegen ihre stille Art war sie sehr zornig geworden, fast wütend, und hat fürchterlich auf Ludwig eingeschimpft. Und als sie sich nach ein paar Sätzen genügend in Rage geredet und die Marmelade von den Fingern abgewischt hatte, haute sie ihm sogar noch ein paar Mal kräftig hinter die Löffel. Noch lauter als Schorschett hatte Ludwig geschrien, wahrscheinlich deshalb so laut, weil er sich doch arg ungerecht behandelt fühlte, denn das war ja nicht aus einer Art betrügerischer Verfressenheit heraus geschehen, zu der er allerdings manchmal neigte, sondern er hatte eigentlich nur eines seiner übermütigen Späßchen machen wollen.

      Ob Ludwig vorhin vielleicht gerade deshalb so heftig zurückgewinkt hat, weil er von Schorschett so derb verhauen worden war? Oder ob das mit den Katzen zu tun hat? – Mit den Katzen? Mit welchen Katzen, um Himmels willen? – Er konnte sich nicht mehr erinnern, aber er fühlte, dass da noch etwas ganz Wichtiges gewesen war. Dann schlief er ein. Er träumte, es stecke ihm etwas im Hals, etwas viel zu Großes, das er weder hinauswürgen noch herunterschlucken konnte. –

      Nachdem sie, zu Hause angekommen, ihr Gepäck unter dem Beistand von Onkel Xaver vom hohen Wagen abgeladen hatten, war Ludwig augenblicklich und ohne sich von Onkel Xaver recht zu verabschieden im Souterrain hinten verschwunden, wo Herkommers wohnten. Viktor läutete oben am Besuchereingang, aber da eine ganze Weile nichts geschah, setzte sich Bienchen mit einem leisen Seufzer auf ihren Koffer, und während sie noch immer warteten, dass sie jemand hineinlasse und in Empfang nähme, genau in diesem Augenblick, da die Ferien auf dem Lande endgültig vorüber waren, aber das städtische Leben zu Hause noch nicht wieder begonnen hatte, sagte Bienchen: „Weißt du, Viktor, was so schön war? Es war alles so beisammen. Alles wie unter einem großen Dach! Spielen und arbeiten – und wir haben immer fleißig mitgeholfen! Kaputtmachen und reparieren – weißt du noch, wie dem Ludwig die Gabel von Bodos Fahrrad abgebrochen ist und Onkel Xaver alles wieder selbst zusammengeschweißt hat – wie neu? Alles selber machen und dann selber aufbrauchen. Man musste gar nicht erst den weiten Weg zum Dorf zu machen, um irgendwas zu beschaffen,


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