Diaula und das Dorf am Hang. Maya Grischin

Diaula und das Dorf am Hang - Maya Grischin


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mit dem Berg, einer Liebesbeziehung. Sie ist die Dichterin der Berührung. Sie weiß zu beschreiben, wie Felsen oder der Wind im Gesicht sich anfühlen und kennt den Puls jeder Valsasser Bergwand. Sie schwärmt von einsamen kleinen Gletscherseen, in Karen versteckt, klaren Augen, worin sich heimlich nur eitle Sterne spiegeln; von Séracs, den blaugrünen Eistürmen, die beim Überqueren eines Gletschers jederzeit brechen oder einstürzen und sie verschlingen können – einer verführerischen, kalten Hölle. Ihr fällt aber auch eine seiden im Licht glänzende Schieferplatte ins Auge oder das kleinste, schüchterne Köpfchen einer auf schmalem Felsenband überlebenden Gletscheranemone.

      Wenn ich Margrets Bücher lese, werde ich froh und leicht wie eine Gämse. Ich sehne mich nach den Bündner Alpen, besonders nach dem Licht der Bernina.

      Stockholm, Ostern 89, die Schneeglöckchen haben

       auch hier den Frühling erobert

      Auf einer Arbeitsreise nach Berlin las ich in einem renommierten deutschen Wochenblatt einen Bericht über mein Dorf am Hang. Da war die Rede vom unaufgeklärten Mord an Völi Padrutt und das Verschwinden der schönen, wundertätigen Madonna, als eine Gondelbahn zum Wallfahrtsort Scalamain gebaut werden sollte. Devonn wird gebrandmarkt als ein Ort von Separatisten und unaufgeklärten Morden, von Korruption und Geldwäsche. Es wird über den illegalen Bau einer Privatklinik auf der Gemeinde-Allmend, verbotener Abholzung von Bannwald und dem Schwarzwerden der Gletscher berichtet. Der Artikel beschreibt auch die Halsstarrigkeit und die Unwilligkeit der Gemeinde, mit anderen Gemeinden zusammenzuarbeiten!

      Trotzdem habe ich Heimweh nach Devonn, obwohl ich weiß, dass dort oben nicht alles so sauber und eindeutig ist, wie ich früher gerne glauben wollte. Deshalb möchte ich hinfahren und mich der Wirklichkeit stellen: der Nachlässigkeit, der Boshaftigkeit und den Winkelgeschäften ebenso wie den versteckten, stinkenden Haufen von altem Fett und Plastikmüll, die illegal in Bergspalten entsorgt werden.

      Meine Tochter Meret möchte ihre Sommerferien mit ihrem Vater Atli verbringen. (Er hat ihr eine Schifffahrt zum Donaudelta versprochen.) So kann ich allein ins Valsass fahren. Ich erinnere mich der Worte Padrutts, seit Großvaters Tod zur Liga des „Goldenen Steinbocks“ zu gehören und will wissen, ob es das irdische Paradies auf Prada persa noch gibt. Vor allem aber möchte ich Kollegger wiedersehen. Aber ich brauche einen Reisebegleiter, der mir hilft, die verworrene Lage in Devonn und vor allem mich selber zu verstehen. Einer, der mir Ratschläge gibt, mich warnt und beschützt, denn meine eigene Rastlosigkeit, Prada persa und Huggentoblers gentechnische Vorhaben (von denen ich in durch die Presse erfahren habe), die verschwundene Madonna von Scalamain, die wachsenden Kehrichtberge sowie der unaufhaltsame Rückzug der Gletscher im Valsass und anderswo beunruhigen mich.

      Ich erinnerte mich an Herrn Parmenides, den ich auf Sbloc getroffen hatte; schrieb ihm, schilderte meinen Wunsch und bat ihn, nach Devonn zu kommen. Er antwortete, dass er mich wohl besuchen möchte, sich aber der Aufgabe eines spirituellen Guides nicht gewachsen fühle.

      Am liebsten hätte ich eigentlich eine Frau als Begleiterin gehabt. Ich dachte an Teresa von Avila, Maria Montessori, Rosa Luxemburg, Angela Davis oder etwa Camille Paglia, fünf Frauen, die ich bewundere und die auch meine Freundin Margret schätzt. Aber keine hatte Zeit, jede war mit viel größeren Aufgaben anderswo beschäftigt.

      Stockholm, Auffahrt 89. Der Flieder blüht!

      Ich hatte Inserate in großen Tageszeitungen mehrerer Länder aufgegeben und erhielt zu meinem Erstaunen Angebote von bekannten, von mir verehrten Schriftstellern wie Blaise Cendrars und Dante Alighieri, von Rilke, William Saroyan, Walter Benjamin, Joseph Roth, Curzio Malaparte, Kurban Said, Halldor Laxness und Thomas von Aquin. Alle nur sehr selbstbewusste Männer! Frauen waren leider keine dabei! Ich hatte sie um einen kurzen handschriftlichen Lebenslauf und die Darlegung ihrer Weltanschauung gebeten. Dante Alighieri zum Beispiel hat andere Interessen als ich –, die ich nicht darauf aspiriere, Gott sehen zu wollen wie er. Meine Wahl fiel schließlich auf Thomas von Aquin, aber seine Korpulenz schien mir schlussendlich doch nicht geeignet, um auf Ziegenpfaden in den Bergen zu klettern. Ich zögerte.

      Stockholm, Pfingsten 89, verregnet

      Schließlich hat sich, verspätet, auch der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin gemeldet! Ich habe mich sofort für ihn entschieden. Als Paläontologe ist er gewiss berggewohnt und hat sich auf seinen Forschungsreisen in China viel in den Bergen umgesehen. Als Franzose wird er sicher schnell Rätoromanisch können. Auch hat er eine überaus helle Einstellung zum Leben. Hochwürden teilte mir in seinem Brief unter anderem mit, „… dass nicht nur Menschen, sondern auch allen Dingen geistige Eigenschaften innewohnen. Die Materie“, so ungefähr schrieb er, „müsse, um Geist hervorzubringen, als Urmaterie bereits beseelt gewesen sein.“

      Teilhard behauptete allerdings nicht, dass unbelebte Dinge Bewusstsein haben und zum Beispiel Schmerzen erleben können. Vielmehr betonte er, dass bei allen Lebewesen entsprechende Formen bewusster Geistigkeit anzutreffen sind.

      „Aber“, wie er ungefähr sagte, „nur ein ausreichend entwickeltes Lebewesen kann entsprechende, reich ausgebildete geistige Züge aufweisen. Die Entwicklung aller Wesen strebt in Richtung Omega, wo Geist und Materie eins werden. Omega ist Christus selbst, der die Dinge an sich zieht. Wir sollten alles, was geschieht, in diesem Lichte sehen!“

      Ich fand Teilhards Darlegung gewagt, aber seine klare, bejahende Weltanschauung überzeugte mich. Wir wurden uns per Fax einig. Ich beschloss, mich vor dem Treffen mit meinem Mentor noch mit einem Packen Bücher über Quantenmechanik, Stringtheorie und Ähnlichem einzudecken.

      Stockholm, kurz vor Mittsommer 89; die Stadt ist bereits entvölkert, alle sind auf dem Land und am Meer

      Teilhard hat mir geraten, nach meiner Ankunft in Devonn zuerst konzise Listen zu erstellen über die Dinge, die sich im Dorf im Laufe der Jahre verändert haben, die Häuser die gebaut, renoviert oder abgerissen worden sind. Auch sollte ich untersuchen, was auf den Feldern und in den Gärten angebaut wird, welche Berufe die Leute im Dorf heutzutage haben, welchen politischen Parteien sie angehören, was sie verdienen, wer im Dorf wen geheiratet hat, die Anzahl Kinder pro Familie und wie sie heißen, wie viele Kühe, Ziegen, Hunde, Katzen und Hühner es dort gibt und und vieles andere mehr. Erst sollte ich mich nur um die Statistik kümmern, die äußere Wirklichkeit. Alles mit klarem Kopf untersuchen, auf keine Mutmaßungen eingehen. Etwas Ähnliches hat ja einst schon Marie-Louise von Kaschnitz in den „Beschreibungen eines Dorfes“ unternommen. Ihr Versuch endete meines Erachtens in Nostalgie und Gefühlsduseleien. Deshalb hatte mein Mentor weitergedacht: Ich sollte als zweite Aufgabe das Netz der Beziehungen in den Familien und in der Gemeinde untersuchen. Das war bedeutend schwieriger. Teilhard empfahl mir dringend, auch mit Vater Vonmoos und mit Luzi Comminoth, dem Kommissar in Chur, zu sprechen über die Spannungen im Dorf zwischen Reichen und Armen, Alteingesessenen und Zugezogenen, Katholiken und den wenigen Reformierten, sowie auch über zerstrittene Geschwister, sexuelle Vorlieben und Nachbarn, die einander nicht riechen können.

      Eine dritte Art von Zuständen, die Teilhard mir zu ergründen auftrug, nämlich meine eigenen Träume, Vorbilder, Ziele und Ängste mit denen der Einwohner von Devonn zu vergleichen. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe! Da könnte mir vielleicht Kollegger, der intuitive Beobachter, weiterhelfen. Also auf nach Devonn.

      Devonn, einen Tag nach meiner Ankunft, in der Crousch alva

      So bin ich denn, an einem strahlenden Sommertag in alller Herrgottsfrühe, wieder in Chur in die Rhätische Bahn gestiegen, den Zug, der mich bis nach Castelava brachte.

      Süßer, melancholischer Heugeruch wehte durch die offenen Fenster. Zu meinem Leidwesen sind Mohnblumen und Kornblumenblau an den Feldrändern fast ausgestorben, es gibt kaum mehr Unkraut auf den wenigen noch bebauten Äckern. Die blauen Kerzen der Lupinen und die weißen Ackerwinden wucherten keck an den Bahndämmen. Heckenrosen dazwischen. Aber auch sie werden bald der chemischen Schädlingsbekämpfung zum Opfer fallen und in ein paar Jahren ausgerottet sein. An Straßenrändern staubbedeckte Wiesensalbei in der schläfrigen Langeweile des Sommers, zusammen mit den letzten nickenden Akeleien und Margeriten. Die Spitzenköpfchen des Wiesenkerbels schüttelten sich eitel und Butterblumen glänzten auf der Vorbeifahrt,


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