Diaula und das Dorf am Hang. Maya Grischin

Diaula und das Dorf am Hang - Maya Grischin


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mit großen Augen, wie der Koboldmaki, in ihr den Wunsch erweckt hatten, ein solches Kind zu haben … Die andere junge Frau, noch fast ein Kind, schwärmte von einem zweiten Baby mit Katzenpelz. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Damit also beschäftigt sich Huggentobler!

      Chur, im Hotel Rebleuten, vier Tage später

      Ich folgte Monsieur Teilhards Rat und habe Luzi Comminoth in seinem engen Büro in der Nikolaigasse in Chur besucht. Ich wollte ihn eigentlich über die Machenschaften Huggentoblers befragen, aber der Kommissar hatte heute kaum Zeit für mich; er war gestresst, rutschte dauernd auf seinem Stahlrohrsessel und schaltete den Ventilator an und aus. Ein heißer Tag! Papiere wirbelten durch die Luft. Luzi hatte gerade einen Anruf von einer großen Geflügelfarm bekommen. Hühner sind ausgebrochen und die Hilfe der Kriminalpolizei war nötig, denn es könnte sich um einen groß angelegten Überfall von jungen Tierschützern handeln. Die besagte Hühnerfarm liegt unterhalb der Ringstraße, in den Rheinwiesen. (Auf dem Gelände stand einst eine Ziegelei.) Die Farm ist bei vielen jungen Churern verpönt. Tierschützer haben schon mehrmals gegen die unmenschliche Hühnerhaltung demonstriert und randaliert, und die Medien haben mitgemischt. Aber da es um sehr viel Geld geht, hat es bisher kaum Verbesserung in der Tierhaltung gegeben. Einzig Alarmanlagen sind installiert worden, um die Besitzer gegen Übergriffe zu schützen.

      Es ist eine dieser riesigen Geflügelfabriken. Die Hahnküken sind längst durch den Fleischwolf gedreht und zu Katzenfutter geworden. Die Hühner hocken zusammengepfercht auf Gittern, damit der Kot durchfallen kann. Sie können kaum stehen und sich bewegen. Ihre Flügel sind gestutzt. Auch die Schnabelspitzen werden abgeschnitten, sonst würden sie ihre Artgenossen zu Tode hacken.

      Das Kommissariat hat eben erfahren, dass alles mit dem Überfall zweier verschlagener Füchse angefangen hat. Die Schlauberger haben irgendwie zwei Drahttüren geöffnet und sind über das Federvieh im Gehege hergefallen. Panik ist ausgebrochen.

      „Die Hennen drängen zum offenen Gatter“, so wird dem Kommissar rapportiert, „um dem tödlichen Biss durch die Eindringlinge zu entkommen, klettern übereinander in wildem Durcheinander und suchen die Freiheit. Sie gackern und schreien und flattern durchs Wiesental, versammeln sich auf der Turnerwiese. Auf dem Ottoplatz sind bereits einige gesichtet und vom Hund des Tierarztes Bisaz verscheucht worden.“

      Erst sind es ein paar Hundert, die sich spontan aus ihrer Hölle aufmachen, bald sind es Tausende, und nach einer guten Stunde ein paar Millionen von weißen Hühnern, die das Weite suchen.

      „Ich bin Zeugin einer Demonstration von geschundenen, wütenden Kreaturen, die mit ihren kaputten Schnäbeln auf alles picken, was ihnen in die Quere kommt!“, schrie eine Kindergärtnerin ins Telefon. „Die sonst friedliche Turnerwiese ist zum Bersten voller Hühner! Die Kinder müssen drinnenbleiben und machen Unfug! Immer mehr zuckende, schmutzige, verkotete weiße Vogelleiber wälzen und schieben sich flatternd weiter, der Innenstadt zu und legen hier und dort hysterisch gackernd ein Ei!“

      Ich begleitete Luzi und zwei Polizisten zum nahen Postplatz. Von hier konnten wir den Geflügelaufstand am besten beobachten. Die Luft war trübe von fliegenden Federn und Kot, Staub und Hühnerflöhen. In der Altstadt – es ist Freitagnachmittag – flanierten Touristen und einkaufende Churer durch die Obere Gasse und begafften und fotografierten den chaotischen Hühnerzug, der sich vom Postplatz her auf das Regierungsgebäude und den Martinsplatz zu wälzte.

      Dann brach Panik bei den Hühnern sowie auch bei den Passanten aus. Die Hennen, und auch viele aufgeschreckte Churer, liefen, schrien, rannten kreuz und quer, schneller und schneller, durch Straßen und Bürgersteige. Die Hühner gackerten aufgebracht, legten in ihrer Qual Hunderte von Eiern, die von den vorbeistürmenden Artgenossen zerpickt und zerbrochen, geschlürft oder zertreten wurden. Überall Federvieh. Es stank unbeschreiblich in der sommerlichen Hitze, die Straßen waren schlüpfrig, gelb und und klebrig von Ei und Hühnerkot und viele, besonders ältere Menschen, rutschten aus. Die Leute ließen ihre Einkaufstaschen fallen und flohen ebenso kopflos wie die Vögel. Kleine Kinder, die von Hühnern angegriffen wurden, weinten und schrien wie am Spieß, und kleine Hunde jaulten und große bellten. Die Hühner drangen durch offene Türen in Läden ein, als ob eine wilde Armee von Vandalen die Altstadt eingenommen hätte und nun plünderte und brandschatzte. Mehrere Personen fielen in Ohnmacht.

      Einige wehrbare Churer holten eilig ihre Sturmgewehre aus den Kleiderschränken zu Hause, rannten mutig die Poststraße hoch und schossen ins wogende Hühnermeer. Es war wie einst im Wilden Westen. Immer mehr Hühner folgten nach, mehr und mehr Schüsse fielen. Das in die Enge getriebene Federvieh fiel auch Hunde und Passanten auf den Gehsteigen an, Millionen von schmutzig-weißen und einigen braunen Hühnern, eine Invasion von flatternden und schreienden, zuckenden Körpern, fliegenden Federn und Schmutz. Der apokalyptische Lärm war unbeschreiblich.

      Luzi rief den Notstand aus. Die Polizei kam vom Obertor her mit Blaulicht angerast, aus Lautsprechern wurde den Churern geraten, in den Häusern zu bleiben. Verletzte wurden von den endlich anrückenden Sanitätern versorgt. Die Polizei überfuhr knirschend hunderte von Hennen, und hellrotes Hühnerblut spritzte durch die Poststrasse und färbte auch den Martinsplatz rot noch für viele Wochen danach. Die Feuerwehr kam mit zwei neuen, auf Hochglanz polierten roten Ungetümen und wusste sich kaum zu helfen. Langsam beruhigte sich die Lage; und das nur, weil der kluge Kommissar Comminoth der Feuerwehr geraten hatte, sofort einen Hahn zu holen. Der Feuerwehrkommandant Chrigel Schocher hatte ratlos die Hände verworfen:

      „Wo gibt es heutzutage noch Güggel?“

      Einer seiner Feuerwehrmänner, mit Namen Tancredi Spadini, wusste Rat. Per Helikopter wurde eiligst ein Gockel von einem Biohof im nahen Zizers geholt. Man stellte das braune Prachtexemplar aufs Dach eines Feuerwehrautos, und siehe da, der Hahn krähte! Die überlebenden Hennen, ein paar Hundert an der Zahl, beruhigten sich und konnten schließlich wieder eingefangen werden.

      Die Stadtreinigung war verzweifelt. Sie vermochte das Chaos nicht allein zu bewältigen. Auch die in Chur stationierten Rekruten der Schweizer Armee wurden zum Mithelfen abkommandiert. Auch am Wochenende wurde mithilfe von Freiwilligen Tag und Nacht gearbeitet, um die Straßen zu säubern von Hühnerkörpern, Kot und zerbrochenen Eierschalen, verklebtem Eiweiß und Dottern, Knochen und Federn. Hunde, Katzen, Marder und Stadtfüchse fraßen sich satt. Es wurden mehrere Millionen tote Vögel gezählt, viele ohne Kopf oder Beine. Deren Ausbruch in die Freiheit hatte verheerende Folgen. Die Bilanz des mutwilligen Aufstands und der Zerstörung ging in die Millionen Schweizer Franken. Der Preis von Hühnerfleisch wird um das Doppelte steigen. Man wusste noch nicht, ob die Gesundheit der Bevölkerung unter dem Hühner-Überfall leiden wird. In einer Baugrube im nahen Landquart wurde viel Hühnerfleisch entsorgt, ein Großteil aber in Schiffscontainer gefüllt und wahrscheinlich zum Südpol verfrachtet.

      Wieder zurück in Devonn, mit vielen Fragen

      Das Dorf ist abends still und wie ausgestorben. Die alten Frauen helfen in den Küchen Gemüse rüsten und Kartoffeln schälen, die Greise sitzen mümmelnd vor dem Fernseher, sehen immer wieder dieselben Filme und vergessen sie gleich wieder. Sie haben kaum mehr Zeit, wie früher auf der Bank vor dem Haus miteinander über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen, jungen Frauen unter die Röcke zu schauen und einander beim Kartenspiel zu betrügen.

      Bei meinem Flug in der Dämmerung habe ich etwas entdeckt. In der verlassenen Mühle brannte Licht. Was geht dort vor? Ist Wettstein zurückgekommen? Ich habe mehrere menschliche Schatten beobachtet, Stimmen und eine Tür zuschlagen gehört. (Oder war es doch der Wind, der Wind, das himmlische Kind?) Wahrscheinlich halten sich hier Guerillakämpfer versteckt. Mir scheint, ich habe für einen ganz kurzen Augenblick Che Guevara gesehen, wie immer mit der schwarzen Baskenmütze mit dem Stern des Comandante auf dem Kopf und bei ihm, in Uniform und mit angelegtem Gewehr, die schöne Tamara Bunke, die Übersetzerin und Abenteurerin, die sich für die Operation Fantasma in Boliven vorbereitet. Warum ist sie dort und nicht ich? Es wäre doch mein Platz! Ich werde das Gesehene für mich behalten, heute Nacht hingehen und fragen, ob die Guerillos auch mich brauchen können.

      Conradin ist wieder auf der Alp Sc. Ich hörte es von seinem dementen Vater, den ich beim Briefkasten traf. Siggi Padrutt erzählte stolz, dass sein


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