Diaula und das Dorf am Hang. Maya Grischin

Diaula und das Dorf am Hang - Maya Grischin


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Gudmundursson, der Vulkanologe, ist Professor an derselben Uni und die beiden Freunde sind vehemente Umweltschützer. Sie werden von ihren Studenten scherzhaft Feuer und Eis genannt.) Ich traf Conradin Sinfjötli im Konsum. Er hatte wie immer seinen uralten Militärrucksack dabei und sich kaum verändert. Nur seine Gesichtszüge sind schärfer geworden. Conradin erzählte eifrig von seinem Forschungsprojekt: Er untersucht mit Kollegen seiner Uni den Zustand der Alpengletscher und die Verschmutzung der Alpengewässer und arbeitet Gegenmaßnahmen aus. Mein Freund wohnt wieder auf der Alp Sc und lebt sein veganes, asketisches Leben und geht dem alt gewordenen Sennen Cadruvi immer noch zur Hand. Conradin zog mich zur Seite und bat mich, ein Auge auf den Orchideenzüchter Vandemeer de Boer und vor allem auf Huggentobler zu haben. Mit Handschlag erneuerten wir unsere Freundschaft und verabredeten uns für eine Bergtour zur Prada persa.

      Die Bank bei der Kirche ist frisch gestrichen. Dort saß gestern wieder der seltsame Mann mit den brennenden Augen, dieser Wittgenstein, der mir schon als Kind aufgefallen ist. Er trug einen abgewetzten schwarzen Ledermantel, der ihn noch magerer erscheinen ließ. Als ich mich auf die Bank setzen wollte, rückte er unwillig zur Seite. Er hatte eine alte Schreibmaschine neben sich auf der Bank, tippte etwas und schüttelte verneinend den Kopf. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er winkte ab.

      „Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir ihn uns denken. Die Welt zerfällt in Tatsachen“, zischte er, und hämmerte dann die Worte mit zwei Zeigefingern in die Maschine. Dann starrte er mich an, ohne mich zu sehen. Ich zog es vor, zu schweigen und nickte nur, denn ich ahnte, dass Herr Wittgenstein Frauen nicht mitreden lässt. Jedenfalls nicht eine Köchin, die in ihrer Freizeit über die Hausdächer fliegt …

      „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, glaube ich gehört zu haben, und begann etwas an den Fingern abzuzählen.

      „Ja, so sehe ich das auch!“, nickte ich.

      Eigentlich gefiel mir der Sonderling. Was er sagte, macht Sinn; war sonnenklar und logisch. Die Schreibmaschine klingelte.

      „Die Welt und das Leben sind eins, funf Punkt 621“, sagte er zu sich selbst und tippte. Ich lächelte. Das klingt nach Parmenides mit einem Hauch Sufi-Mystiker. Spannend! Sollte ich mich philosophisch vielleicht an Herrn Wittgenstein orientieren? Ich nahm mir ein Herz und fragte ihn nach der Langeweile. Ich hätte allzu gerne etwas darüber vernommen. Aber der Philosoph gab keine Antwort. Er klemmte nur seine Schreibmaschine unter den linken Arm und entfernte sich, in der Rechten die Klarinette im grauen Strumpf. Ich schaute ihm nach. Ich sehnte mich nach Kollegger. Der kann zuhören.

      Wieder allein, wurde mir bald klar, dass die Langeweile noch nicht aus meinem Leben verschwunden ist. Immer wieder fällt sie über mich her und würgt mich. Ob Che oder Wittgenstein je mit der Langeweile kämpften? Auch der Philosoph Heidegger hat unter anderem über die Langeweile nachgedacht. Nach ihm verschlingt vor allem die grundlose, beziehungslose Langeweile das Selbst. Auch die Zeit verschwindet in der Lähmung der Langeweile, und es entsteht etwas wie eine Nicht-Zeit. Ein schwarzes Loch. So habe ich es schon in meiner Kindheit erlebt, als ich im Haselgebüsch hockte. Nur die kleinen Handlungen lassen die Zeit wieder fortschreiten. Es gibt also gar keine Zeit außer der Zeit unseres Tuns. Das Aufraffen dazu ist, mit Heideggers Worten zu sprechen, die existenzielle Freiheit.

      Bei mir ist die Langeweile ein Sog, aus dem immer eine unbändige Sehnsucht ins Unbekannte und Ungebundene entsteht. Dann muss ich reisen. Irgendwohin. Weit weg. Es gibt auch nur ganz wenige Menschen, die ich nach kurzer Zeit nicht leer und langweilig gefunden hätte. Einer davon ist Aurel Kollegger, die anderen sind Großvater, Hochwürden Teilhard, Conradin und Margret Prevost. (Atli Gudmundursson fand ich anfänglich spannend, aber nach einem Jahr Ehe hatte er mir nichts mehr zu sagen und ich langweilte mich endlos in seiner Gesellschaft.) In Gegenwart von Katzen empfinde ich nie Langeweile. Mittelalterliche Kunst kann meine Langeweile für geraume Zeit überwinden, ebenso die Bilder von Tiepolo, Segantini, Manet, Klimt und Klee. Gegenwärtige Kunst haut mich nicht vom Hocker. Die Alpen jedoch, mit ihren Felswänden und Gipfeln im sich ständig verändernden Licht, grünen Tälern und Wäldern, Seen, Flüssen und Staubbächen, an denen ich mich nicht sattsehen kann, sind neben dem Kochen, dem Schreiben und dem Flippern fast die einzige Medizin gegen die Umklammerung der Langeweile.

      Devonn, spät nachts, 20. Juli 89

      Gegen Mitternacht, als das Dorf schlief und nur irgendwo ein Hund den Mond anbellte, schlich ich mit einer Taschenlampe durchs Dorf. Alexas uralter Tigerkater Mausi war auch in irgendeiner Mission unterwegs und folgte mir. Ich wollte an der Kirche vorbei zur alten Mühle, den Guerillos meinen Dienst anbieten. Beim Eingangstor zum Friedhof lehnte eine dunkle Gestalt und rauchte. Eine Baskenmütze beschattete das halbe Gesicht. Ich konnte den süßen Pfeifentabak von ferne riechen. Es muss Che Guevara gewesen sein. Ich wagte mich näher. Er schlug sein Gewehr an und sagte mit unterdrückter Stimme:

      „Halt! Halt! Keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Bleib, wo du bist! Abstand bewahren …!“

      Der Mond, ein blasser Eidotter, flutschte in eine Wolke und es wurde dunkel. Als er wieder auftauchte, war die Gestalt bereits verschwunden. Ich ging mit klopfendem Herzen, unverrichteter Dinge, wieder zurück nach Hause, ohne bei der alten Mühle herumgeschnüffelt zu haben. Ich nehme mir vor, bald Huonder zu fragen, was bei der alten Mühle vor sich geht, vielleicht weiß er ja etwas.

      Die Tage vergehen wie im Flug. Heute ist Mariä Himmelfahrt, der Tag von Maria Schnee, der verschollenen Patronin von Scalamain. Letzte Nacht hat es in der Höhe geschneit. Ein frischer Wind weht. Der Morgenhimmel ist eine Postkarte: tiefblau, und die Berggipfel haben einen weissen Zuckerguß.

      Die Kapelle in Scalamain oben wird morgen für den Winter geschlossen. Es ist höchste Zeit, dorthin zu wandern. Es kommen heute wohl kaum mehr Wallfahrer an den einsamen Ort, wo einst die Mutter Gottes, in einen weißen Schleier gehüllt, einem Hirtenmädchen erschienen ist und das Dorf eindringlich zu Umkehr, Buße und zur Wallfahrt aufgerufen hatte. Jahre später wurde dort auf den Wunsch der Madonna eine Kapelle gebaut und ihr Bildnis aufgestellt. Seit dem Verschwinden der wundertätigen Lieben Frau vom Schnee ist die kleine, schmucklose Kirche leer geblieben. Bald wird Schnee fallen, viel Schnee.

      Bei Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg, im Rucksack Salsiz (lokale Wurst), Bergkäse, Brot, Wein und eine Thermosflasche Tee und erreichte den Lärchenwald oberhalb des Dorfes. Ich schaute mich überall nach Felix um, fand aber keine Spur von ihm. Rote und gelbe Frühlichtstreifen leuchteten am Firmament. Zwischen dem Lärchenwald und dem Hochwald von alten Arven ist eine sehr steile, von Erlengestrüpp gesäumte Wegstrecke, wo man wenig Übersicht über das Gelände hat. Dort klopfte mein Herz von den Mühen des Aufstiegs und mein Atem ging schwer.

      Das bucklige Männlein aus dem Kinderlied stellte sich mir plötzlich in den Weg. Ich hatte mich schon früher vor ihm gefürchtet. Jetzt aber sah es wirklich bedrohlich aus. Sein ungutes Gesicht zierte ein grauer Spitzbart, die Augen waren in ihren Höhlen eingesunken. Er redete leise auf mich ein und forderte einen Schluck aus meiner Weinflasche, den ich ihm versagte. Er eröffnete mir, dass ich mich nirgends verstecken kann ohne seine Hilfe, und dass ich den Löwen bei der Polizei melden muss.

      „Es ist nutzlos, zur Kapelle hochzusteigen, die Madonna ist ja weg, alles Unsinn“, knurrte er. „Es wird auch kalt heute. Es kann jederzeit schneien. Wölfe machen die Gegend unsicher und bewaffnete Partisanen sind unterwegs!“

      Der Gnom lachte schallend, zeigte auf mich mit seinem langen Spinnenzeigefinger, verschwand im knackenden Gehölz. Ein eisiger Wind kam auf und warf mir eine Handvoll Schnee ins Gesicht.

      Die kleine Kapelle duckte einsam unter einem überhängenden Felsen. Tau lag auf dem Gras und funkelte in den Strahlen der Morgensonne wie Tausende von Diamanten in den Kelchen der runden, gezackten Blätter der Frauenmäntelchen, der Alchemilla vulgaris. Ich sammelte einen Armvoll Blumen und Gräser auf der feuchten Wiese; violette Flockenblumen, Flughafer, Zittergras, Schafgarbe und Habichtskraut, mit denen ich die leere Nische der Madonna vom Schnee schmücken wollte. Ich drückte die schwere Klinke und die Tür sprang auf! Ich drehte mich um. Der Zwerg stand bereits hinter mir. Er war mir heimlich gefolgt. Ich suchte das Taschenmesser in meiner


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