Marie Grubbe. Jens Peter Jacobsen
Hornsignal erscholl vom Westertor und ward aus den andern Stadtecken beantwortet. Die einsamen Schildwachen längs des Walles begannen schneller auf ihren Posten hin und her zu gehen, schüttelten die Mäntel und richteten an ihrer Kopfbedeckung: jetzt kam ja die Ablösung.
Draußen auf der nördlichen Station vor dem Westertor stand Ulrik Frederik Gyldenlöve und sah den weißen Möwen nach, die in segelndem Fluge über der blanken Wasserfläche des Wallgrabens auf und nieder strichen.
Flüchtig und leicht, bald matt, bald nebelhaft, bald farbenreich, stark, glühend, lebendig und klar jagten seine zwanzigjährigen Erinnerungen ihm an der Seele vorüber. Sie kamen im Duft starker Rosen und im Duft frischer, grüner Wälder; sie kamen im Klang von Jägerhallo, zum Ton von Geigen und im Rauschen knisternder Seide. Das Kindheitsleben da unten in der holsteinischen Stadt mit den roten Dächern zog fern, aber sonnenbeleuchtet vorüber; er sah die hohe Gestalt seiner Mutter, der Frau Margrete Pappen, ihr schwarzes Gesangbuch und ihre weißen Hände; die sommersprossige Kammerzofe mit den dünnen Knöcheln sah er, und den aufgedunsenen Fechtmeister mit dem rotblauen Gesicht und den schiefen Beinen. Der Garten von Gottorp zog vorüber und die Wiesen mit den frischen Heuschobern unten an der Förde, und da stand des Jägers täppischer Heinrich, der wie ein Hahn krähen und so prächtig flache Steine auf der Wasserfläche dahintanzen lassen konnte. Die Kirche kam mit ihrem wunderlichen Halbdunkel, ihrer stöhnenden Orgel, mit dem geheimnisvollen eisernen Gitter der Kapelle und dem mageren Christus, der die rote Fahne in der Hand hatte.
Vom Westertor erscholl wieder ein Hornsignal, und im selben Augenblick brach das Sonnenlicht hervor, grell und warm, und verjagte alle Nebel und dunstigen Töne.
Und dann war da die Jagd, wo er seinen ersten Hirsch schoß und der alte von Dettmer ihm die Stirn mit dem Blut des Tieres zeichnete, während die armen Jägerburschen wildschmetternde Fanfaren bliesen. Und dann war da der Blumenstrauß für des Schloßvogts Malene und die ernste Szene mit dem Hofmeister, und dann war da die Reise ins Ausland mit dem ersten Duell im taufrischen Morgen, mit Annettens Kaskaden von klingendem Gelächter, mit dem Ball beim Kurfürsten und der einsamen Wanderung vor die Tore der Stadt, da sein Kopf von dem ersten Rausch schmerzte. Dann kam ein goldener Nebel mit dem Klang von Bechern und dem Duft von Wein, und da war Lieschen, und da war Lotte, und da waren Marthas weißer Nacken und Adelaidens runde Arme. Endlich die Reise nach Kopenhagen, der gnädige Empfang seines königlichen Vaters, das geschäftig langweilige Hofleben der Tage und wilde Nächte, wo der Wein in Strömen floß und der Kuß raste, unterbrochen von dem lustigen Lärm prachtvoller Jagdfeste und dem zärtlichen Geflüster nächtlicher Stelldicheins im Jbstrupschen Garten oder in den goldenen Sälen des Hilleröder Schlosses.
Aber weit klarer als dies alles sah er Sofie Urnes brennend-schwarze Augen, weit mehr hingerissen lauschte er in der Erinnerung ihrer wollustweichen, schönen Stimme, die einen gedämpft wie mit weichen Armen an sich lockte und erhoben entfloh wie ein Vogel, der aufsteigt und einen mit übermütigen Trillern verspottet, während er davonfliegt...
Ein Rascheln unten im Buschwerk des Wallabhanges erweckte ihn aus seinen Träumen.
»Wer da!« rief er.
»Es ist bloß Daniel, Herr Gyldenlöve, Daniel Knopf,« kam die Antwort, und ein kleiner, gichtbrüchiger Mann kam aus dem Gebüsch heraus und verbeugte sich.
»Was! ›Die leibhaftige Kürze‹? Was tausend Seuchen macht Er da?«
Der Mann sah betrübt vor sich nieder.
»Daniel, Daniel!« sagte Ulrik Frederik und lächelte, »Er ist diese Nacht nicht ungeschädigt aus dem »feurigen Ofen« hervorgegangen; der deutsche Brauer hat Ihm wohl zu stark eingeheizt.«
Der Gichtbrüchige schickte sich an, den Wallabhang hinaufzuklimmen. Daniel Knopf, auf Grund seiner Natur auch ›die leibhaftige Kürze‹ genannt, war ein reicher Großkaufmann von einigen zwanzig Jahren und war ebenso bekannt wegen seines Reichtums wie seiner scharfen Zunge und seiner Fechtkunst halber. Er pflegte viel Umgang mit dem jungen Adel, das heißt mit einem bestimmten Kreis, der unter dem Namen »le cercle des mourants« bekannt war und insonderheit aus jüngeren, dem Hofe zunächststehenden Leuten bestand. Ulrik Frederik war die Seele in diesem Kreis, der mehr lebenslustig als intelligent, mehr berüchtigt als beliebt, aber eigentlich ebenso bewundert und beneidet wie berüchtigt war.
Halb als Hofmeister, halb als Hofnarr lebte Daniel mit diesen Menschen. Er verkehrte nicht mit ihnen auf öffentlicher Straße oder in adeligen Häusern, aber auf dem Fechtboden, in Weinhäusern und in Herbergen war er ihnen ganz unentbehrlich. Keiner konnte so wissenschaftlich über Ballspiel und Hundedressur oder so salbungsvoll über Finten und Paraden reden. Keiner kannte den Wein wie er. Er hatte tiefsinnige Theorien über Würfelspiel und Liebeskunst und konnte lange und gelehrt über das Verwerfliche reden, die inländischen Stuten mit Salzburger Hengsten zu kreuzen. Er wußte endlich Anekdoten über alles, und was den andern jungen Leuten außerordentlich imponierte, er hatte seine bestimmten Ansichten über alles.
Dann war er in hohem Grade fügsam und dienstwillig, vergaß niemals den Unterschied zwischen sich und dem Adel und hatte ein so fabelhaft lächerliches Aussehen, wenn sie ihn aus Übermut und Trunkenheit auf irgendeine tolle Art ausstaffierten. Er ließ sich uzen und ausschelten, ohne böse zu werden, und war überhaupt so gutmütig, daß er sich manch liebes Mal selber preisgab, wenn er dadurch einem Gespräch Einhalt tun konnte, das für den Frieden in der Gesellschaft eine gefährliche Wendung zu nehmen begann.
Das war es auch, was es ihm möglich machte, mit diesen Leuten Umgang zu pflegen, und er mußte mit ihnen umgehen; für ihn, den bürgerlichen Krüppel, waren die Adeligen Halbgötter; nur sie lebten, nur ihre Freimaurersprache war menschliche Rede; über ihrem Dasein lag ein Tag von Licht und ein Meer von Luft, während die anderen Stände das Leben in farbenarmem Dunkel und qualmiger Luft verbrachten. Er verwünschte, daß er bürgerlich geboren war, als ein weit größeres Unglück denn seine Mißgestalt und grämte sich darüber, wenn er allein war, mit einer Bitterkeit und Heftigkeit, die dem Wahnwitz ziemlich nahe kam.
»Nun, Daniel,« sagte Ulrik Frederik, als der Kleine zu ihm heraufgekommen war, »es ist keineswegs ein geringer Nebel gewesen, so Er heute nacht vor den Augen gehabt hat, sintemal Er sich hier auf dem Westerwall festgesegelt hat; oder stieg der Kräuterwein gestern abend so hoch, sintemal ich Ihn hier sicher und trocken liegend antreffe, wie die Arche Noä auf dem Berge Ararat?«
»Prinz von Kanarien, Ihr redet irre, wenn Ihr meinet, ich sei heut nacht mit Euch beim Gelage gewesen!«
»Aber was zu allen Teufeln ist es denn mit Ihm?« rief Ulrik Frederik ungeduldig.
»Herr Gyldenleu,« antwortete Daniel ernsthaft und sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf, »ich bin ein elendiger Mensch!«
»Er ist ein Krämerhund, das ist Er! Ist Ihm bange um eine Heringsschute, daß der Schwed Ihm die wegnimmt? Oder jammert Er darüber, daß ein Stillstand in Seinem Handel eintreten kann, und meint Er, daß Sein Safran die Kraft verliere und der Schimmel in Seinen Pfeffer und Sein Paradieskorn fallen könnt? Krämerseele, die Er ist! Als hätt ein guter Bürger sich nichts weiter zu Herzen zu nehmen, wie daß Sein schäbiger Kram zum Teufel geht, jetzt, wo es für König und Reich nach Untergang aussieht!«
»Herr Gyldenleu!«
»Ach, scher Er sich zum Teufel mit Seinem Geflenn!«
»Nein, Herr Gyldenleu,« sagte Daniel feierlich und trat einen Schritt zurück; »denn weder klage ich um Geschäftsabbruch noch über den Verlust von Geld oder Geldeswert; ich scher mich den Düwel und ein Deut um Heringe und Safran, aber weggeschickt werden wie ein Aussätziger oder Landes-Unehrlicher von Offizieren und Gemeinen, das ist ein Sündenunrecht wider mich, Herr Gyldenleu; – deswegen hab ich heut nacht im Gras gelegen und gewinselt wie ein räudiger Hund, der ausgeschlossen ist; deswegen hab ich mich gekrümmt und gewunden wie das elendigste kriechende Tier und zu dem Gott des Himmelreichs geschrien in meiner Kümmernis und Ohnmacht, und bin mit ihm ins Gericht gegangen, warum ich allein soll platterdings verworfen sein, warum mein