Borrowing Blue. Lucy Lennox
das sagen zu müssen, aber ich konnte Jeremy nie wirklich leiden.« Das war nichts Neues.
»Na ja, dann wirst du dich kaputtlachen, wenn du siehst, wen er zur Hochzeit mitbringt«, versprach ich.
Wir gingen zurück nach drinnen und ich sah meinen Bruder Jamie bei meinem ältesten Bruder Pete stehen. Ich umarmte beide und fragte Pete, wo seine Familie war. Er war verheiratet mit einem meiner Lieblingsmenschen. Ginger und ich waren in der Highschool enge Freunde gewesen. Als ich herausfand, dass sie auf dem College mit meinem Bruder ausging, hätte ich beinahe gekotzt. Für eine Weile war es schwierig zwischen uns gewesen, aber das war bald vorbei gewesen und wir waren uns wieder näher gekommen. Die beiden hatten Zwillingsmädchen, die sechs Jahre alt waren und ihren Onkel Blue anhimmelten. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Die Ladys haben auf dem Weg hierher eine Scheune gesehen und darauf bestanden, dass ich sie rauslasse, damit sie mit den Pferden flirten können. Sie werden irgendwann ankommen«, sagte er und zog Simone in eine Umarmung. »Kleine Schwester, du wirst eine wunderschöne Braut sein.«
»Danke, Petey. Tut mir leid, dass du die Show draußen eben verpasst hast. Es war herrlich.« Sie lachte. Ha ha, verdammt. War mir eine Freude, euch den Tag zu verschönern.
»Den anzüglichen Teil haben wir nicht verpasst«, sagte Jamie. »Pete und ich haben noch rechtzeitig rausgeschaut, um zu sehen, wie ein Kerl seine Zunge in Blues Rachen versenkt. Hätte ich nicht unbedingt sehen müssen. Obwohl der Kerl echt heiß ist.« Jamie grinste und offenbarte so seine Grübchen. »Haben die beiden noch andere heiße Brüder?«
Pete stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Das fühlt sich irgendwie nach Inzest an. Und hast du deine Entscheidung vergessen, vorübergehend enthaltsam zu leben?«
Jamie hielt inne. »Hab ich nicht vergessen. Aber Blues neuer Kerl könnte meine Libido wieder geweckt haben.« Er zwinkerte mir zu und ich sah ihn böse an.
»Ich dachte, du hättest dich in diesen Kerl bei der Arbeit verguckt«, sagte Pete zu Jamie. »Was ist mit dem passiert?«
»Frag nicht«, warnte Jamie. Ich warf Pete einen Blick zu, der sagte: Nein, ernsthaft, frag nicht. Er nickte zur Antwort.
»Wer will noch eine Tasse Kaffee?«, fragte Simone. »Ich glaub, ich könnte eine vertragen. John ist los, um Tante Tilly abzuholen. Vielleicht sollten wir stattdessen dann lieber zu Sekt mit Orangensaft wechseln.«
Tilly war die Tante unseres Vaters und hatte die Rolle der Familien-Matriarchin inne. Sie war zu einhundert Prozent der Grund für unsere Verrücktheit. Ihre Anwesenheit war in etwa vergleichbar mit der einer Comedytruppe. Ich konnte es nicht erwarten, sie zu sehen.
Wir nahmen uns frische Tassen und quatschten über belangloses Zeug. Ich fragte, wo Thad war, und Mom sagte mir, dass er seinen Flug verpasst hätte und erst am nächsten Tag ankommen würde. Er arbeitete an internationalen Hilfsprojekten und war die letzten beiden Wochen in Kenia gewesen. Der arme Kerl würde vollkommen erledigt sein, wenn er endlich ankommen würde.
Der letzte fehlende Bruder war Jude. Der Jude. Wie in »Jude and the Saints«. Dreimaliger Grammy-Gewinner und Countrymusik-Star und allseitig begehrt. Der Kerl, der Frauenunterwäsche zugeworfen bekam und große Bodyguards brauchte, die ihn überall hin begleiteten. Er beendete gerade eine Tour und würde am nächsten Tag nach seinem Konzert in Los Angeles ankommen.
Mein Bruder Jude und ich waren uns so ähnlich wie Zwillinge. Obwohl wir vier Jahre auseinander waren, mit Thad zwischen uns, waren wir Busenfreunde. Er war mein allerbester Freund und einer der besten Menschen, die ich kannte. Wir erzählten uns alles und schrieben uns mehrmals am Tag. Hier im Weingut zu stehen, Tristans Weingut, brachte plötzlich ein verzweifeltes Bedürfnis, mit ihm zu sprechen.
Ich entschuldigte mich bei meiner Familie und ging nach draußen auf die Terrasse. Piper klebte an mir wie Leim und ging mit mir in die Sonne. Ich zog mein Handy heraus und setzte mich wieder auf die Stufen. Piper setzte sich direkt neben mich und lehnte sich an meine Seite. Ich streckte einen Arm aus, um sie näher heranzuziehen, und genoss die Wärme, die von ihrem schwarzweißen Fell ausging. Ihre Zunge fand mein Ohr, als ich mit meiner freien Hand Judes Nummer wählte.
Es war recht früh am Morgen und ich hoffte, ich würde ihn nicht wecken.
»Hallo?«, antwortete er mit schlaftrunkener Stimme.
»Hey, ich bin’s«, sagte ich. »Sorry, dass ich dich wecke. Willst du lieber weiterschlafen?«
»Nee, is’ schon okay. Was ist denn los?«
»Ich hab jemanden getroffen«, platzte ich heraus. Im Hintergrund konnte ich das Rascheln von Bettzeug hören, als ich mir vorstellte, wie er herumrollte, um sich aufzusetzen.
»Erzähl’s mir.«
Und das tat ich. Ich erzählte ihm alles. Wie gewohnt hörte er zu, ohne mich zu unterbrechen. Bis ich ihm von dem Familien-Wiedervereinigung-T-Shirt erzählte. Da brach er in lautes Gelächter aus.
»Er klingt nett«, sagte Jude. »Aber du sagtest, er ist irgendwie hetero? Das ist ein Problem.«
»Nein echt? Das ist ein Problem? Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß. Aber er sagte, er ist auf dem College auch mit Kerlen ausgegangen und es klang, als ob etwas passiert wäre, das ihn davon abgebracht hat.«
Das Geräusch von laufendem Wasser kam durch die Leitung und ich hörte, wie er seine Zähne putzte.
»Musst ihn fragen«; murmelte er mit der Zahnbürste im Mund.
»Ich weiß. Aber ist das verrückt? Ich meine, bin ich verrückt, dass ich bei diesem Streich mitmache?«
Ich hörte, wie er das Wasser abstellte und mit der Zunge schnalzte. »Kommt drauf an, wie nahe dir das geht. Ein Teil von mir sagt, entspann dich und hab Spaß. Warum auch nicht? Wenn der Kerl etwas experimentieren will, lass ihn. Er ist schon groß. Außerdem wird es dir helfen, mit der Sache mit Jeremy klarzukommen. Ich würde nichts lieber sehen, als dass der Kerl sich windet.«
Kein Scherz. Ging mir genauso.
Jude fuhr fort: »Aber wenn du glaubst, dass du dich wirklich in ihn verlieben könntest, dann sei vorsichtig. Ich würde es hassen, wenn du dich Hals über Kopf in einen Kerl verliebst, der nach einer Woche experimentieren dann doch nicht mehr will. Vertrau mir, ich hab das schon durch. Es ist nicht schön.«
Ich war der Einzige in unserer Familie, der um Judes Geheimnis wusste. Die ganze Welt ging davon aus, dass er hetero war, und wegen der Countrymusik-Industrie verstand ich, warum er sich partout nicht outen wollte. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihn die Täuschung belastete, aber ich wusste, dass er alles getan hätte, um zumindest zu unserer Familie ehrlich zu sein.
Aber Jude hatte sich schon einmal verbrannt. Er hatte unserer Familie vertrauliche Informationen gegeben und diese hatten irgendwie den Weg an die Öffentlichkeit und in die Medien gefunden. Es war eine Sache, wenn das wegen strapazierter Stimmbänder geschah, aber eine andere, wenn es darum ging, die eigene Homosexualität vor Millionen von potenziell homophoben Countrymusik-Fans zu offenbaren.
»Ich bin nicht in der Position, mich zu verlieben, Jude. Nächste Woche fliege ich nach London, erinnerst du dich?«
Sein sanftes Schmunzeln erreichte mich durch die Leitung. »Richtig. Als ob es eine Wahl wäre, wenn man sich verliebt. Aber wenn du wirklich nach London fliegst, dann ja. Genieß die kurze Zeit mit ihm und bring Jeremy dazu, sich zu winden. Du verdienst es.«
»Danke. Ich dachte nur, ich müsste mit jemandem darüber sprechen. Wie ist es in LA?«
»Schön. Aber ich bin verdammt erschöpft. Kann es gar nicht erwarten, zu euch zu kommen und etwas abzuschalten. Ich hoffe, Mom nörgelt nicht schon wieder, weil ich nicht so viel Lust auf Gesellschaft habe, aber ich muss unbedingt etwas Schlaf nachholen.«
»Das wird sie verstehen. Niemand will, dass du krank wirst, und wir haben eine ganze Woche. Genieß die Hollywood Bowl Show heute Abend. Ich wünschte wirklich, ich könnte da sein.«
»Ich auch. Bis morgen.«
Ich