5 Prozent. Matthias Merdan

5 Prozent - Matthias Merdan


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wird das linke Subjekt dann aktiv, weil tagsüber ausgeruht, und versucht so, eine nächtliche Parallelkultur in den illegal besetzten Häusern Zürichs zu etablieren. Lichtscheu und feige ist er. Er weigert sich, nationalen Heiligtümern, wie dem Opernhaus, zu huldigen, und verachtet sakrale Räume, wie neonlichtdurchflutete, klimatisierte Grossraumbüros. Eine Schande.

      Trotzdem erfüllt auch diese Spezies einen wichtigen Zweck, nämlich die Aufwertung schrottreifer Wohnquartiere. Wenn der Stadtrat irgendein Quartier von vergammelten Industriebauten befreit hat und dort wieder Homo sapiens ansiedeln möchte, pflanzt er zunächst linkes Milieu und Künstler an. Die machen aus dem Schandfleck urplötzlich ein schickes aufstrebendes Künstlerquartier. So verbessert sich der Ruf des vormaligen Slums. Es hypt – die Mieten steigen. Juhu! Das Milieu verbessert sich nun von Unterschicht mit Schäferhund zur Mittelschicht mit lauten Kindern, hin zu Doppelverdienenden-Paaren-ohne-Kinder-Oberschicht. Und wenn die Herde dummer Künstler sich die Wohnungen nicht mehr leisten kann, hat sie ihren Zweck erfüllt. Zürich sagt seinen Linken danke. Ethnische Säuberung …»

      Der Vortrag ihres Flashback-Comedians endete abrupt, als Fiona den sich im Fenster spiegelnden, quadratischen Aufnäher am rechten Ärmel des Seniorrebellen entdeckte. Ein Walt-Disney-Schneewittchen, bewaffnet mit einem halbautomatischen Maschinengewehr; FIGHT LOOKISM wurde Schneewittchen in den Mund gelegt.

      Ihr starker Drang, sich optisch in das Gegenüber zu vertiefen, fiel ihr auf. Und sie wusste, was sie verdrängte:

      Diese, ihr gegenübersitzende, Kreatur würde in einigen Stunden noch eine Heimat haben.

      Sie nicht mehr.

      Fiona widersetzte sich der Frage, wo sie denn in wenigen Stunden enden würde. Gefühle einer früheren Lebensepoche wurden stattdessen unerwartet stark lebendig. Zu ihrer Entspannung. Zu ihrer Motivation.

      Fiona Rosenwiler. Sie sah sich plötzlich wieder deutlich als «linkes Luder». Sie genoss im Tram Nummer 4 ihre lang zurückliegende Weigerung, sich einer noblen Gesellschaft anzuschliessen und stattdessen lustvoll ihre Sabotage- und Guerillazeit zu durchleben.

      Nichts war ihr damals peinlich gewesen, weder vor noch nach dem Ersten Mai. Reclaim the Streets – diesem hehren Ziel diente sie, beispielsweise bei einem Scharmützel in Fabrikgebäuden des Zürcher Binz-Areals oder bei Pflastersteinattacken in der Bahnhofstrasse auf Schaufenster von Rolex, Prada und Louis Vuitton. Des Weiteren befürwortete sie das Abfackeln getunter Porsche Cayenne Turbos. So war Fiona Rosenwiler leidenschaftliche Mitverursacherin von jährlichen Millionenverlusten der Versicherungswirtschaft und des Kantons.

      Sie liess es in Auseinandersetzungen mit ihren immer distanzierteren Familienmitgliedern nie gelten, dass linke Gewalttäter fehlgeleitete Personen seien, denn ihre Absichten fühlten sich für sie stets äusserst edel an. Ohne jede Scham, wie in Trance, blickte Fiona Rosenwiler, auch Rosi genannt, mittlerweile ihrem Gegenüber lächelnd ins Gesicht, innerlich freudig über ihre damalige Entscheidung und den daraufhin geborenen Erfolgsweg.

      Ihr Sitzplatzgegenüber weckte in «Rosi» nun auch Sentimentales. Sie erinnerte sich an die gemeinsam gesungenen Lieder; der deutsche Punkrocksong «Deutschland muss sterben, damit wir leben können!» wurde zu «Zürich muss sterben, damit wir leben können!». In den Zeilen dieses Liedes steckte alles drin, was für sie Wahrheit war: das niederträchtige Kapital, das Protektorat des Faschismus, die zerstörte Umwelt und der korrumpierte Mensch. Zu Bass und Melodie liess sie es regelmässig, im alkoholisierten und durch nicht nur weiche Drogen beeinflussten Zustand, in vernebelten und stickigen Privatkellern krachen.

      Ihr Körper wurde zu ihrer Waffe.

      Der Aspekt der psychischen und physischen Körperertüchtigung als Linksautonome hatte Vielversprechendes: Fit durch Flucht und Schlägerei. Dabei cool bleiben, sein Ding durchziehen und sich nicht provozieren lassen. Eine klasse Zeit, damals, mit einem sich bis heute auszahlenden Trainingseffekt. «Die Schickimicki-Gören rennen in die staubfreien Pilates-Center und verrenken sich in peinlichen Bewegungen. Und degenerieren dabei charakterlich. Wohlstand züchtet nicht nur feige Schweine, sondern auch unbewegliche Grossraumbüroinsassen», meinte Fiona seinerzeit mit beschwingter, ideeller, verächtlicher, sich vom Geldadel distanzierender, Ausdrucksweise.

      Als Oberschichttochter teilte sie ordentlich gegen uniformierte Mitglieder der Mittelschicht (zum Beispiel Polizisten aller Couleur) aus. Fiona lernte dabei das Einstecken von gesellschaftlicher Ablehnung und Gummigeschosstreffern. Bei den meisten Demonstrationen gegen irgendwas Kapitalistisches trafen sie, bei zum Teil von ihr nach der Taktik Rotieren – Heisslaufen – Siegen selbst orchestrierten Ausschreitungen, Plastikprojektile, Schlagstöcke und Wasserwerfer. Hierbei entwickelte Fiona Rosenwiler echte Nehmerqualitäten, so, wie ein Boxer beim Sparring oder im Wettkampf sein Schmerzempfinden reduziert.

      Sie ergötzte sich im Hass auf multinationale Konzerne und imperialistische Staaten, die wie am Fliessband Kriege auf der ganzen Welt verursachten, verantwortlich waren für Hungersnöte und globale Fluchtbewegungen. Jede von ihr angewendete Form der Gewalt empfand sie als Notwehr. Sie fütterte ihr Gehirn mit den Schriften von Marx und war begeistert davon, dass Gewalt und ein alternativer Lebensstil Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft sein könnten; einer Gesellschaft, die klassenlos und somit gerechter wäre. Gegenwärtig würde man in einer Phase leben, in der Gewalt zum festen Instrument gehöre und diese von den Entschiedensten praktiziert werden müsse. Diese Gesellschaft müsse durch Revolution aufgerüttelt werden. Die Bedingungen, durch herkömmliche Kommunikation, schnöde Demokratie und öffentliche Diskussionen die Gesellschaft verändern zu können, schienen ihr meilenweit entfernt.

      Fiona Rosenwilers Skrupellosigkeit verschärfte sich zunehmend durch den Austausch mit Linken in Deutschland. Fiona lebte jahrelang als Pilgerin zwischen den Grossstädten Deutschlands, Hamburg, Berlin und Frankfurt; gab es dort Aufstände gegen das Establishment, scheute sie keine Reisekosten.

      Einige Zeit arbeitete sie in Hamburg in der Roten Flora, das die Presse «Rückzugszentrum für Chaoten» nannte. Für das linke Sozialzentrum, wie sie und ihre Mitstreitenden es nannten, arbeitete Fiona am Widerstand – dem Widerstand gegen die devote gesellschaftliche Einfältigkeit, zum Beispiel durch die Welcome-to-Hell-Demonstration. Mit Erfolg.

      Sie leitete die Siebdruckwerkstatt und diskutierte auf Leitungsebene, dem sogenannten Plenum, die Renovierung der Toilettenanlagen und die Zukunft des Kommunismus. Sie war beseelt vom Kampf gegen die neoliberale Politik, die überall in der Welt die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher machte.

      Dagegen bereitete ihr der Widerstand gegen die sinkende Motivation der Altgedienten (also der über Fünfundzwanzigjährigen) und gegen Aussteigerprogramme des Bundesamtes für Verfassungsschutz mehr Sorgen.

      Während knapp zehn Jahren hatte sich Fiona Rosenwiler in der linksextremen, gewaltbereiten Szene in Hamburg, Berlin und Frankfurt bewegt. Vor Gericht verantworten musste sie sich wegen neun Brandanschlägen. Als Protest gegen die europäische Aussen- und Rüstungspolitik entzündete sie eine selbst hergestellte Explosionsvorrichtung am Gebäude des Deutschen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen in Berlin.

      Ein andermal setzte sie in Hamburg Altona sechs Luxusautos in Brand, um so gegen die Inhaftierung von Gesinnungsgenossen aus der Roten Flora zu protestieren. Die Straftaten wurden auf Antrag Deutschlands rechtshilfeweise von den Schweizer Strafverfolgungsbehörden ermittelt. Rosenwiler wohnte zwar in Deutschland, besass aber für sie glücklicherweise den Schweizer Pass und konnte in ihr Stammland fliehen. Nachdem sie wieder in die Schweiz übergesiedelt war, konnte sie nicht mehr nach Deutschland ausgeliefert werden.

      Aber irgendwann, an einem sonnigen und überdurchschnittlich warmen Montag im März, hatte Fiona «Rosi» Rosenwiler einfach die Schnauze voll von der Riesenscheisse und warf alle Milieuutensilien in den Müll.

      Fertig.

      Raus aus der Sekte!

      Sie vollzog eine Kehrtwende um exakt hundertachtzig Grad. Die zunehmende Laschheit der Gruppe kotzte sie an.

      Die Linken in Zürich vegetierten längst nur noch in Reservaten der Stadtkreise 4 und 5 und genossen ihre bedingungslose Kapitulation.

      Ausserdem


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