5 Prozent. Matthias Merdan
eine Voraussetzung wäre, Nichtsnutz zu sein.
In einem einzigen Akt höchster Egozentrik begriff sie schlagartig und ohne jegliche Vorankündigung ihre neuen Bedürfnisse. Die Furcht in ihr, eines Tages so zu enden wie der ihr jetzt gerade gegenüber kauernde Typ – ein Kerl mit lachhaften Piercings im Gesicht, die durch seine altersbedingte Bindegewebsschwäche, durch Plug-Piercings verursachten peinlichen Löchern in den Ohren, mit einer aus schütterem Haar geformten pseudojugendlichen Frisur und verlegenem Anstaltslächeln –, verschaffte ihr die Energie, diese Wende zu vollziehen.
Eine perfekte Wende, denn ihr Gegenüber, ein Kampfgefährte aus alten Langstrasse-Zeiten, erkannte sie nicht mehr.
Sie verspürte nicht mehr den geringsten Drang, gegen die wirtschaftsliberale Gesellschaft und ihre Mechanismen zu fighten, sondern vernahm die erregende Lust, das «bösartige System» mit allen seinen Möglichkeiten für sich zu nutzen. Sie plante, die kommenden Lebensjahre nicht mehr gegen Prügel einzutauschen, sondern gegen den Mammon, egal, wie schnöde der wäre. Fiona beschloss, dem Uringestank in besetzten Häusern den Rücken zu kehren, die Loser ihres Milieus hinter sich zu lassen und den Zwang zum Hass ad acta zu legen. Sie hatte es satt, mit beschissenen antikapitalistischen Jobs, wie Möbel restaurieren, Fahrräder reparieren, als Grafikfreelancer für zahlungsunfähige Start-ups unbezahlte Überstunden abzusitzen und Plasma im Blutspendezentrum Zürich abzuliefern. Sie hatte die Nase voll von antifaschistischem Kampf, Diskussionen über die Krise des Kapitalismus, das Gelaber über die Diktatur des Proletariats und Trotzkismus als Lösung.
Fiona Rosenwiler hatte sich an all das gewöhnt, was an der Oberfläche der Stadt zu sehen war. Sogar an die Armada von 570-PS-Luxus-SUVs – vorzugsweise Porsche Cayenne Turbo –, deren Fahrer hinter den Windschutzscheiben mitleidig auf die immer seltener werdenden Nicht-Porsche-Fahrer der Stadt blickten.
«Was glotzt du so, Bänker-Nutte?»
Fiona zuckte ob der spontanen Dialogeröffnung ihres Gegenübers zusammen. Sie realisierte ihren hypnotischen, starrenden Blick in das Gesicht des Mannes.
«Banken-Nutte», korrigierte sie wie aus der Pistole geschossen, und wunderte sich selbst darüber, wie schnell sie diesen Begriff «Banken-Nutte» kreieren konnte.
«Wie?», fragte ihr Gegenüber verdutzt über den unerwarteten Verbalkonter.
Rosenwiler beugte ihren Oberkörper nach vorn, bis auf einen halben Meter vor das Gesicht des Mannes. «Banken-Nutte», repetierte sie schulmeisterlich. «Es muss Banken-Nutte heissen, da mich die Bank bezahlt und nicht ein Bänker. Also: Banken-Nutte, nicht Bänker-Nutte.»
Der Mann kratzte sich am Brustbein, auf dem «ss» des Wortes «Scheissen».
«Des Weiteren sind wir nicht per du. Klar?»
«Ja, ja», erwiderte er in einem plötzlich milderen Ton, als ob er auf der Suche nach seiner verlorenen Aggressivität wäre. «Also, wie muss dann die Beleidigung korrekt heissen?», fragte Fiona mit von Wort zu Wort ansteigender Lautstärke.
Der Mann schwieg.
«Was glotzen Sie so, Sie Banken-Nutte?», antwortete Rosenwiler an seiner Stelle.
Fiona und ihr Visavis verliessen Tram Nummer 4 am Central. Er schlenderte Richtung Hauptbahnhof und sie stieg in Tram Nummer 3 um. Ab hier konzentrierte sie sich auf das von ihr selbst aufgetürmte Vorhaben. Nach drei Stationen, an der Haltestelle Sihlpost/Hauptbahnhof verliess sie das Tram und näherte sich ihrem Ziel: dem Hauptsitz der Kantonspolizei Zürich.
Wie Giselle Bündchen in ihren besten Tagen schritt, nein, marschierte sie über den Asphalt, mit aus der Lockerheit ihrer Hüfte stammenden, zielsicheren, kraftvollen Schritten. Wie immer äusserlich tougher als innerlich; zur Beruhigung begann sie, den Nirvana-Song «Smells Like Teen Spirit» zu pfeifen: Load up on guns, bring your friends …
Fiona spürte seit Langem wieder die Lust, alles aufs Spiel zu setzen. Ihre alte Gewalt-ist-geil-Mentalität zum detonieren zu bringen. «Jetzt geht’s los!», flüsterte sie zu sich selbst.
In wenigen Minuten würde sie ihre Welt für immer verlassen. Schmerzlich und lustvoll.
Am Metallzaun, der das dreistöckige, ungefähr sechzigjährige Gebäude der Kapo umgab, hingen drei Schaukästen. Diese präsentierten unter anderem mit knittrigen und durch die Sonne ausgebleichten Plakaten Warnhinweise vor Taschendieben oder rieten, bei Verdacht die Telefonnummer 117 zu wählen; das Druckerzeugnis auf dünnem Papier zeigte ein weisses Verbrecherauge auf rotem Hintergrund und warb mit dem Slogan «Gemeinsam gegen Einbrecher, Ihre Polizei».
Der zweite Schaukasten war geschmückt durch mangelhaft belichtete Fotos in A4, mit denen die Zürcher Polizeischule ZHPS um Nachwuchs warb; es zeigte Polizisten in Aktion, wie diese mutig zu dritt einen Jugendlichen auf den Boden drückten, um ihm Handschellen anzulegen.
Als Rosenwiler davor stehenblieb, war sie sicher, sie war die Einzige in den letzten zwanzig Jahren, die dieses Trauerspiel an Öffentlichkeitspräsentation beäugte.
Fiona sah Fotos von jungen Polizisten, barfuss in einer Turnhalle beim Nahkampftraining an Sandsäcken; ein Dutzend Stolz-Sein spielende Rekruten beim Appell, die mit angelegten Armen und durchgedrückten Wirbelsäulen stramm vor irgendeinem schreienden Ausbilder standen; sowie dynamische junge Männer und Frauen in Neoprenanzügen beim Schwimm- und Tauchtraining. Die Domain www.zhps.ch sollte wohl bei Passanten entsprechenden Alters eine Begeisterung für den Staatsdienst entflammen.
«Die Polizei – ein Scheissemagnet. Die Gebildeten gehen in die Wirtschaft, die Intelligenten in die Wissenschaft, die Empathischen in den Nonprofitbereich, die Kräftigen werden Profisportler. Nur die letzten Vollidioten landen bei euch», so dachte sie und konnte sich ein dezentes Kopfschütteln nicht verkneifen, bevor gleich mehr Disziplin, als auf diesen verblassenden Fotos dargestellt wurde, von ihr verlangt würde.
Ein letzter Schaukasten mit verdrecktem weissem Holzrahmen zeigte einen Deutschen Schäferhund, der den Betrachter mit heraushängender Zunge hechelnd direkt anstarrte; darunter stand ihrer Meinung nach, der erdenklich langweiligste Slogan: «Polizei-Notruf Tel. 117 Kantonspolizei Zürich». Als Fiona Rosenwiler noch als Freelancerin Werbung produzierte, wäre ihr Besseres eingefallen:
Aggressionen legal ausleben – Ihre Kapo;
Garantierte Einschränkung der Persönlichkeitsentwicklung durch Staatsdienst; oder
Werde glücklich durch eindeutige Feindbilder und den devoten Dienst für die Reichen.
Nach einigen Schritten stand sie vor dem Gebäude der Kasernenstrasse 29, dem Kantonspolizei-Hauptsitz in der Polizeikaserne Zürich.
Sie, als eskalationsbeauftragte Speerspitze dessen, was jetzt in Kraft treten sollte, beendete ein achtjähriges Intermezzo als Besserverdienende und startete dieses Experiment mit den Gesetzmässigkeiten der Realität. Eine Grossproduktion.
«I feel stupid and contagious
Here we are now, entertain us.»
2
Die persönliche Stressbeständigkeit in Extremsituationen liesse sich auch erkennen beim Konsum von Horrorfilmen, erfuhr Rosenwiler während der Vorbereitung auf das Experiment!
Der Horrorfilm verursache mit den dargestellten Grausamkeiten im Cortex und Temporallappen, der im menschlichen Gehirn für die Verarbeitung von Gehörtem zuständig ist, Angstimpulse. So reagieren einige Menschen verbal auf Horrorfilme, indem sie schreien oder kreischen. An Horrorfilmen erkennen Psychologen den emotional-kognitiven Denkstil eines Menschen. Dieser Denkstil entscheide darüber, ob Betrachter einen Horrorfilm eher als realistisch oder als virtuell wahrnehmen. So seien zwei unterschiedliche Sichtweisen und Reaktionen beobachtbar. Zartbesaitete Menschen, die einen Horrorfilm als realistisch einordnen, nehmen das Geschehene so wahr, als würden die Effekte auf ihr eigenes Leben eine Auswirkung haben, wodurch die empfundene Bedrohung ausführende Bereiche des Gehirns aktiviert und den Menschen in Handlungsbereitschaft versetzt, beispielsweise um flüchten