5 Prozent. Matthias Merdan

5 Prozent - Matthias Merdan


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Horrorfilme konsumieren oder in anderen Lebensbereichen Stress ausgesetzt sind. Diese reagieren auf solche Filme entgegengesetzt zu den vorherig Beschriebenen. Sie ordnen den Schrecken völlig anders ein; bei ihnen sind für Erregung zuständige Gehirnareale kaum aktiv. Bei solchen Menschen spielen die Thalamuskerne des Gehirns eine Rolle, ausserdem Gehirnregionen wie der primäre visuelle Cortex und Areale für die Objektexpertise.

      Solche Personen empfinden keinen Stress, sondern Lust und Freude. Wenn also in der Neuverfilmung von Stephen Kings «Es» einem kleinen Jungen von einem teuflischen, in der Kanalisation lebenden Clown zunächst ein Arm abgebissen wird, oder wenn in «Texas Chainsaw Massacre» der Kettensägenschwingende Jedidiah «Jed» Sawyer alias Leatherface eine hübsche, lauthals kreischende, Frau in die Ecke drängt, um sie vom Scheitel bis zum Schambein in zwei Hälften zu sägen, so ist der durchschnittliche Kinobesucher (Kategorie eins) wegen der blutigen Brutalität gegen Unschuldige schockiert. Andererseits erfreuen diese Szenen den trainierten Horrorfan (Kategorie zwei) wegen der gelungenen Romanumsetzung, der visuellen Effekte und der passend gewählten Hintergrundmelodie.

      Rosenwiler gehörte zu dieser zweiten Kategorie.

      Der nun auf sie wartende Horror animierte ihre Freude an stilvoller Gewalt. Stilvoller, von ihr ausgehender, Gewalt.

      Fiona Rosenwiler betrat gespannt und angespannt das Gebäude der Kantonspolizei Zürich in der Kasernenstrasse und erfuhr sofort, wer für sie als Erstes zuständig war. Zu ihrer Rechten befand sich ein Welcome Desk, so würde man es wohl auf einer Messe nennen, Rezeption in einem Hotel.

      Eine uniformierte Polizistin ihres Alters, der man ansah, dass die körperlichen Fitnessübungen, wie sie in den Schaukästen am Zaun vor dem Kapo-Gebäude gezeigt wurden, eine aggressiv-dynamische Ausstrahlung bewirkten, wendete sich ihr reflexartig zu. Nachdem Rosenwiler ihr Gesichtsfeld betreten hatte, wurde sie von der Beamtin mit einem Ich-hoffe-für-Sie-es-istwichtig-Blick gemustert.

      Fiona fielen ihre kurzgeschorenen Haare auf, ihre schmalen Lippen und die kräftigen Hände. Gar nicht so unerotisch, dachte sie.

      «Grüezi», erwiderte die Beamtin die noch stumme Anwesenheit Rosenwilers mit einer maskulinen Stimme.

      Fiona legte ihre beiden Handflächen ruhig auf das Desk, während sie ihren Kopf ganz leicht nach links beugte. «Grüezi. Mein Name ist Fiona Rosenwiler, ich bin Einwohnerin dieser Stadt und muss Ihnen ein Verbrechen melden.»

      «Sie möchten eine Anzeige erstatten?», fragte die Polizistin mit dem Tonfall einer geschulten Beamtin, die gerade erkennt, dass sie jetzt gleich aus ihrem Trott gerissen wird.

      «Nein. Ich möchte ein Verbrechen melden», widersprach Rosenwiler energisch und verlagerte ihr Körpergewicht auf das rechte Bein.

      «Dann wollen Sie eine Anzeige erstatten», konterte die Polizistin aggressiv und spannte ihre Unterarme an.

      «Nein!»

      «Nein?»

      «Nein. Es handelt sich um ein zukünftiges Verbrechen. Wahrscheinlich wollen Sie Anzeige erstatten.»

      «Wie bitte?», fragte die uniformierte Frau und störte sich an dem Durcheinander an Provokativem und Femininem in einer Person.

      «Einen Moment, Frau Rosenwiler.»

      Die Polizistin, auf deren Namensschild Beatrix Welti stand, setzte nun ihren Na-warte-verarschen-kann-ich-mich-selbst-Blick auf, drehte sich zu einem dunkelgrünen Neunziger-Jahre-Telefon um, nahm den Hörer ab, drückte eine Taste, wartete einige Sekunden und sprach etwas Humorloses in den Hörer. Gefreite Welti legte auf, drehte sich mit einer kraftvollen Körperdrehung zurück zu Fiona, meinte, sie solle einen Moment Platz nehmen, und zeigte auf eine Reihe von Stühlen gegenüber dem Eingangsbereich.

      In den wenigen Minuten des Wartens beobachtete Rosenwiler das gedämpfte Bewegungstempo der anwesenden Beamten, das sie die geringe Kriminalitätsrate im Kanton Zürich erahnen liess. Vier Beamte in ihrem Blick sassen an Bildschirmen, lasen irgendetwas ab, tippten irgendetwas ein; einer trug ein Blatt Papier, das er einem Drucker entnommen hatte, quer durch den Raum und legte es auf einen verwaisten Schreibtisch eines Kollegen. Fiona vermisste die harten Typen von den Fotos in den Schaukästen; coole, wie am Fliessband Gefangene anschreiende, bedrohende und dann wegtransportierende Machos. Sie erwartete nicht unbedingt Dirty Harry, Jimmy «Popeye» Doyle oder John McClane, aber wenigstens harte Kompromisslosigkeit ausstrahlende Kerle. So wie die Bullenschweine, gegen die sie auf der Strasse gekämpft hatte. Je härter ihre Gegner gewesen waren, umso weniger fühlte sie sich als Täterin, sondern als Opfer. Opfer sein brauchte sie, auch wenn sie es nicht liebte. Die Identität als die Schwächere entfesselte Fionas Durchschlagskraft. Die herumlaufenden Kapo-Typen sahen alles andere aus als Clint Eastwood, Gene Hackman oder Bruce Willis, sie wirkten wie Bankangestellte, getunt mit körperlicher Fitness, einer Dienstwaffe und starker Stimme.

      Wachtmeister Johannes Kälin war kein Mann, der darunter leiden musste, dass man ihm spontan zu wenig Ehrfurcht entgegenbrachte. Stattliche Körpergrösse, aggressiver Blick und seine laute, tiefe Stimme verschafften ihm Autorität bei Kolleginnen und Kollegen, Rechtsbrechern und Rechtsbrecherinnen.

      Die Absätze seiner schwarzen Lederstiefel, die laut auf dem weissen Linoleumboden auftraten, erzeugten für einen Moment Kasernenhof-Feeling. Er bremste sich kurz vor der sitzenden Fiona Rosenwiler; sie blickte zu ihm auf.

      Kälin checkte eine Sekunde ihre übereinandergeschlagenen schlanken Beine, deren Haltung sich im Moment von Fionas Aufblicken zu ihm ruckartig in eine Parallelstellung auflösten. Er wertete dies als Zeichen des Respekts gegenüber seinem Dienstgrad. Seine Überraschung über den ersten Eindruck – die optische Mischung aus Nicole Kidman mit einer Prise Hannibal Lecter – liess er sich nicht anmerken.

      Der hätte mehr als einen Uniformträger aus sich machen können, dachte Fiona, fühlte sich andererseits ein wenig eingeschüchtert und flüsterte leise: «Wie schade für ihn.»

      «Guten Tag. Mein Name ist Kälin. Was kann ich für Sie tun?» Er klang in ihren Ohren wie ein nervöser Schauspieler, der einen auswendig gelernten Text beim Vorsprechen auf einer Bühne zitiert, um sich für die Rolle des Hermann Gessler zu bewerben.

      «Ich muss leider ein Verbrechen melden», erwiderte Rosenwiler nüchtern und mit gespieltem Bedauern, wobei sie gleichzeitig dachte: Diese Performance mit dem emotionslosen harten Auftreten haben dem armen Kerl sicher die Psychologen eingebläut. In Wirklichkeit bist du doch einer von den bemitleidenswerten Typen, die sich mit Ausdauersport in einen chronischen Erschöpfungszustand versetzen, um ihren homosexuellen Trieb zu dimmen.

      «Wie war Ihr Name?», fragte er, um Zeit zu gewinnen, und kniff dabei seine Augen leicht zusammen.

      «Rosenwiler. Fiona Rosenwiler.»

      «Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?»

      Rosenwiler zückte ihr Portemonnaie aus ihrer anthrazitfarbenen straussenledernen Roberto-Cavalli-Florence-Handtasche, entnahm ihren Ausweis und überreichte Kälin die, mit Schweizerkreuz oben links versehene, kreditkartengrosse Plastikkarte. Der uniformierte Beamte nahm sie an sich, verglich das Foto mit dem Gesicht der Frau vor ihm, las den Namen, blickte auf die Unterschrift und das Geburtsdatum 19 04 78, kontrollierte das schimmernde Sicherheitszeichen oben rechts, drehte dann die Karte auf die Rückseite, las Grösse: 178 cm, Geschlecht: F, Heimatort: Zürich, ZH, Behörde: Zürich, ZH, ausgestellt am 14 02 13, gültig bis: 13 02 23, Nationalität: Schweiz, die Ausweisnummer überflog er, ohne sie zu registrieren. Mit einem zaghaften Kopfnicken und einem kräftigen «Danke» retournierte er die Identitätskarte.

      «Was für ein Verbrechen möchten Sie melden, Frau Rosenwiler?», fragte er mit einem Unterton aus Skepsis und Neugier.

      «Es handelt sich um einen schweren terroristischen Anschlag, verübt von einer Einzelperson in dieser Stadt.»

      Kälin dachte Quatsch! und sagte: «Folgen Sie mir, bitte.» Er beobachtete Fiona und sah, wie sie sich erhaben aufrichtete.

      Wie ein gehorsames Mädchen folgte sie ihrem ersten Opfer nach, in einen zehn Schritte entfernten Raum. Dieses Zimmer zeichnete sich durch schlichtes Interieur


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