5 Prozent. Matthias Merdan

5 Prozent - Matthias Merdan


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die Kacke am Dampfen ist, sonst würde sich der Verantwortliche als distanziert und desinteressiert outen. Aber man muss ja nicht der Erste sein. Nachdem sich ein katastrophales Ereignis materialisiert hat, bleibt man demonstrativ für zwanzig Minuten cool. Und jeder Beobachter kann nur daraus schliessen, dass es auch in schweren Fällen einfach Regeln gibt, die es nur mechanisch zu befolgen gilt, um die Sache wieder aus der Welt zu schaffen.

      So ist es die Kunst des Timings, Befürchtungen in der Gruppe zu äussern. Also nicht als Erster, sondern mit mehreren zusammen. Mindestens zu zweit, besser zu dritt. So erscheint die innewohnende Angst nicht als Angst, sondern als Erkenntnis.

      Drittens: Die Äusserung von Panik hat in der Stimmfrequenz zwischen nüchtern-sachlich und energisch stattzufinden. Ist die Stimme zu leise, also klingt man, als ob man gerade vor Angst das Essen nochmals herunterschlucken müsse, um seinen Dienstlaptop nicht zu überfluten, oder ist die Stimme so laut, dass die Stimmbänder den eigenen Fluchtimpuls verrieten, wäre jede Autorität dahin.

      Viertens: Stelle Untergebenen keine Fragen.

      Fünftens: Fang nicht plötzlich zu lächeln an, wenn du es sonst auch nie tust.

      Sechstens: Nicht religiös werden. Keine – auch noch so spöttisch klingenden – Anrufungen einer Heiligen Maria Mutter Gottes, eines Lieben Gottes oder Jesus Christ.

      «Ich schi-cke Unter-stüt-zung», stotterte Kälin.

      «Wir sperren hier ab, beruhigen die Leute. Hey, Kälin, was war das? Müssen wir was wissen? Wieso haben Sie uns zu dem Feuerwerk geschickt?»

      «Tut … tut mir leid …»; er spürte das Nachlassen seiner Körperspannung.

      «Geigerzähler. Sie brauchen Geigerzähler, um herauszufinden in welche Richtung sich die Strahlung ausbreitet», schrie Rosenwiler hilfsbereit aus dem Vernehmungszimmer, in dem sie die Verzweiflung Kälins mithören durfte.

      «Gibt es sonst Verletzte?», wollte Kälin wissen.

      «Splitter liegen überall und Fassadenteile. Hier kommen Leute aus dem Haus. Auf den ersten Blick scheinen sie unverletzt.»

      Kälin hörte fassungslos die Unterhaltung der Polizisten vor Ort mit, ohne die Stimmen den jeweiligen Kollegen zuordnen zu können.

      «Geht es Ihnen gut?», fragte einer der Polizisten vor dem Explosionsort.

      «Was ist passiert?», anscheinend die Stimme einer älteren Bewohnerin; ihre Frage wurde ignoriert.

      «Wir müssen das Haus räumen. Vielleicht ist es einsturzgefährdet», brüllte ein Beamter heiser ins Funkgerät.

      Mittlerweile blickten alle im Büro anwesenden Kollegen zu Kälin und versuchten, aus seinen verbalen und körpersprachlichen Äusserungen den Grad der Bedeutsamkeit des Geschehenen zu orakeln.

      Kälin drehte sich plötzlich wie ein wildgewordener Stier zum Vernehmungsraum um und plärrte: «Handschellen! Bea, leg ihr sofort Handschellen an!»

      Er rannte in den kleinen Raum und sah seine Kollegin, wie diese Fiona Rosenwiler die Handschellen anlegte. Fiona stand widerstandslos da, blickte Kälin an und meinte: «Nur die Ruhe; kein Grund, panisch zu werden.»

      In der Zwischenzeit begann das erste Telefon zu läuten, an dessen anderem Ende besorgte Bürger der Polizei eine Explosion melden wollten. Standardsätze durchquerten das Büro: «Ja, wir wissen von der Explosion. Haben Sie etwas gesehen? Wie ist Ihr Name? Ja, Hilfskräfte sind unterwegs. Kennen Sie Anwohner im Anwesen Rigistrasse 69? Sind Sie verletzt? Bewahren Sie Ruhe! Wie lautet Ihre Telefonnummer?»

      Fiona Rosenwiler stand in ihrem anthrazitfarbenen Businesskostüm, ihrer schicken Bluse, mit gefesselten Händen und zwei Beamten, die sie an ihren Oberarmen festhielten, nicht im geometrischen Mittelpunkt des Grossraumbüros, bildete aber dennoch das unumstrittene Zentrum. Die um sie aufgewirbelte Hektik verlieh ihr eine spirituelle Aura.

      «Lassen Sie den öffentlichen Verkehr stoppen. Es wäre nicht gut, wenn noch Menschen in diese Gegend transportiert werden», riet Rosenwiler mit wissendem Blick.

      «Konfiszieren Sie alle mitgeführten Gegenstände von Frau Rosenwiler», wies Kälin Marcel an.

      Das offene und noch vor wenigen Minuten freundliche Gesicht Kälins hatte sich ins Gegenteil verwandelt; er blickte drein wie einer, der jeden Moment mit einem Schlag in sein blasses Gesicht rechnete; den Mund zusammengepresst, das Kinn nach vorne geschoben und die Stirn gerunzelt. Hinter der Mimik sah es noch schlimmer aus. Die Mischung aus Aggressivität und Versagensangst fühlte nur Kälin und liess ihn Einsamkeit wahrnehmen. Er realisierte, dass er erstmals den Blickkontakt zu Kollegen mied. Verlegen kniff er in seine Wange und vergass die kleine Brünette mit dem Silberblick.

      «Kälin! Kälin!», schrie es aus dem Funkgerät, «hören Sie mich, Kälin?»

      «Ja.»

      «Der ganze restliche Balkon im vierten Stock ist gerade abgebrochen und auf den Balkon darunter gestürzt. Der Balkon vom dritten Stockwerk ist daraufhin auch abgebrochen und auf den darunterliegenden gestürzt. Die Balkone von Stockwerk zwei und eins sind dann einfach mit abgerissen worden. Ein Teil der Fassade vom vierten Stock ist auch weggeflogen. Der ganze Dreck liegt jetzt auf der schmalen Grünanlage vor dem Haus, dem Trottoir und der Strasse. Alles liegt voller Scherben, Fassadenelemente und so weiter. Leute rennen aus dem Haus. Wir sehen irgendwie zu, dass die nicht von weiteren abbrechenden Gebäudeteilen getroffen werden. Verbranntes Papier und glimmende Stofffetzen schweben aus dem vierten Stock über dem Haus und die benachbarten Häuser.»

      Kälin hörte Sirenen eines Krankenwagens durch das Funkgerät.

      4

      Carlo Hammermann und Sandro Huber fläzten auf den Klappstühlen vor dem Paddy Reilly’s, ihrer gemeinsamen Stammkneipe in Zürich. Hier lebten sie ihre Gemeinsamkeiten: gleiche Alkoholtoleranz, dieselbe Stärke, tierische Fette zu verarbeiten, und die Liebe zum Fussball, die die einzig beständige Liebe sei; im Gegensatz dazu sei die Liebe zu Frauen eine unbeständige Variable im Leben des Mannes.

      Das Paddy’s war Irish Pub und Sportsbar in einem. An Tagen von Fussballspielen der Champions League liefen auf elf Bildschirmen Spiele vor dicht gedrängtem Publikum. Für heute, an ihrem freien Tag, der wegen der abzubauenden Überstunden und des einzuhaltenden Dienstplans ein Mittwoch wurde, hatten die Jungs beschlossen, bereits am späten Nachmittag einzutrudeln und vor dem Pub die erste Portion Fleisch und Alkohol zu sich zu nehmen. Der erste Spiced Cajun Chicken Burger with Chorizo und ein 180 Gramm Swiss Premium Burger waren bereits in Auftrag gegeben. Der Gedanke an das baldige Zubeissen steigerte ihre, durch die ersten drei Pint Guinness aufgeblühte Laune, ins Unermessliche.

      Um die Wartezeit auf das Gegrillte zu verkürzen, provozierte Hammermann Huber mit Kneipenathletik. Er war in der Lage, einen Bierdeckel mit seinem kleinen Finger zu durchbohren. Hierfür legte er den Bierfilz auf das Bierglas, zielte mit seinem kleinen Finger auf den Bierdeckel, und bohrte ihn mit einem Stoss durch die Pappe. Jedes Mal versuchte Huber, ihm dies nachzumachen und scheiterte mit einknickendem Finger. Mit dem Pseudo-Star-Wars-Zitat «die Macht ist nicht in jedem stark» kommentierte Hammermann seinen Triumph.

      Der Ermittlerjob bei der Polizei schweisste sie zusammen. Sie waren, wenn es darauf ankam, bereit, wochenlang zusammenzuarbeiten, ohne auch nur ansatzweise Freude am Job empfinden zu wollen. Verbissene Work-aholic-Ekstase auf die höchste Spitze getrieben. Das H&H-Duo ignorierte sogar den Protest der Familien. Sie konnten arbeiten wie Maschinen, forderten kein Lob und artikulierten keine glanzvollen Zwischenergebnisse, um durch das erzielte Schulterklopfen eine Zwischenmotivation erzeugen zu müssen. Das Verbrechen stemmte sich gegen sie, so ihre gemeinsame Empfindung, und sie als Duo stemmten sich gegen das Kriminelle. Ihre unaufgeregt erzielten Erfolge verliehen ihnen interne Ehre. Über Hammermanns Schreibtisch hing ein nüchternes weisses Papier in der Grösse A1 mit in schwarzem Edding geschriebener Überschrift: TROPHÄENSAMMLUNG DER AUFGEKLÄRTEN VERBRECHEN. Darunter standen Bezeichnungen verschiedener Verbrechensarten und jeweils dahinter befand sich die entsprechende Anzahl Striche. In über zwölf Jahren hatten sie es mit sechsundzwanzig


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