5 Prozent. Matthias Merdan

5 Prozent - Matthias Merdan


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Prozent. «Wenn ich mal schwul werd, bist du der Erste, dem ich einen Heiratsantrag mache!», war eine der täglich im Grossraumbüro diagonal über die Schreibtische ihrer Kollegen geschrienen Liebeserklärungen.

      Die beiden bekennenden Heteros gaben sich dem Anblick gut aussehender Zürcherinnen hin, wie diese beim Ein- und Aussteigen an der, unmittelbar vor dem Paddy Reilly’s befindlichen, Tramhaltestelle Sihlstrasse ihre Business-Woman-Performance zelebrierten. Hammermann und Huber vergaben zwischen den grossen Schlucken Bier Haltungsnoten, kommentierten deren Bekleidungsstil und teilten Z-Punkte zu. Das Maximum betrug 100 Z-Punkte, wobei Z für Zürich stand. Eine Frau, sportlich-schlank, im Kostüm, High Heels, mit schnellen Schritten, goldener Armbanduhr, strammem Geradeausblick und humorloser Ausstrahlung erhielt diese 100 Punkte. Dann gab es Abzüge für einen erhöhten Body-Mass-Index, also über 20, Klamotten, die entweder zu billig (manche Neu-Zürcherinnen glaubten, mit Anbiederung auf die berufliche Erfolgsschiene zu kommen) oder zu unauffällig waren.

      «Schau dir die an», Hammermann zeigte mit seinem Kinn auf eine Frau, die aussah wie Selma Hayek, nachdem sie aus einem Jungbrunnen gestiegen war. «Das sind neunzig Zs».

      «Dekolletiert bis zum Opferstock, wie der Pfarrer sagen würde», konterte Huber, «zu frivol für Z-City – das gibt Abzüge – ich sage achtzig Zs. Maximal. Eher fünfundsiebzig.»

      «Verdammt viel hübsche Menschen wohnen hier in unserer Stadt», resümierte Huber.

      «Deine Stadt. Für mich als Berner bleibt der Performancedruck, dem du hier standhalten sollst, fremd.»

      «In Zürich wohnen, ist kein Menschenrecht.»

      «Scheiss Humorlosigkeit.»

      «Humor ist halt kein primäres Attribut des Zürchers. Dem passt man sich schnell an. Daher sehen die Mädels hier auch so streng aus.»

      «Überhaupt kann der Zürcher wegen seiner emotionalen Behinderung nicht fröhlich sein. Einen Karneval zu veranstalten, wäre euch unmöglich», faselte Hammermann.

      «Um das zu verheimlichen, gibt es eben die Streetparade. Hier werden aus dem Ausland Fröhliche importiert.»

      Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr ein dunkelblauer Fünfer-BMW direkt vor die Klappstühle und Holztischchen der Bar. Der Wagen kam auf dem Trottoir zwischen Tramhaltestelle und den Sitzgelegenheiten vor der Sportsbar abrupt zum Stehen. Er füllte das Blickfeld von Hammermann und Huber komplett aus und schnitt ihnen somit die Sicht auf die nächste Horde aussteigender Verkehrsteilnehmerinnen ab.

      In der ersten Sekunde waren Huber und Hammermann perplex. Erschrocken zogen zwei neben ihnen sitzende, Schals ihrer heute spielenden Lieblingsmannschaften tragende, junge Männer ihre Füsse zu sich heran und rutschten reflexartig nach hinten.

      In der zweiten Sekunde erkannten sie das Zivilfahrzeug der Kantonspolizei.

      Eine Sekunde danach wurde die hintere Wagentür von innen aufgestossen, und sie sahen in den stechenden Blick von Raphaël Lammert, seines Zeichens stellvertretender Polizeipräsident der Stadt Zürich.

      «Einsteigen!», schrie der grau melierte Mann, der in einer Polizeiuniform mit hohen Rangabzeichen steckte. Seine weit aufgerissenen Augen liessen diesen Befehl wie in Neonschrift aufleuchten.

      Hammermann schoss das Adrenalin in die Adern, was bei ihm stets mittelfristig zu Blähungen führte und zu einer leichten, nur für ihn spürbaren, Vibration des Unterkiefers.

      Beide sprangen synchron, unter den Blicken von Bedienung, Gästen und Passanten, von ihren Stühlen auf. Huber hielt noch inne, zog eine 50-Franken-Note aus seinem Portemonnaie und wollte diese unter das noch halb volle Glas Guinness klemmen, als Lammert schrie «schnell, verdammt» und Huber vor Schreck den Schein in das Glas fallen liess.

      Hammermann riss derweil mit fragendem Blick die Beifahrertür auf, erblickte einen Kollegen, der als Chauffeur tätig sein musste, versuchte, aus dessen Mimik eine Information zu orakeln und sprang auf den Beifahrersitz. Huber kroch neben Lammert, der auf der Rückbank zur Seite rutschte und ihm Platz machte. Die Türen knallten zu, der BMW beschleunigte auf dem Fussgängerweg, wendete über die Tramgleise unter dem Protest etlicher hupender Verkehrsteilnehmer. Durch die Beschleunigung drückte sich den vier Insassen die Sitzlehne in den Rücken.

      Der leicht beschwipste Zustand von Huber und Hammermann war vom einen Moment auf den anderen völlig verflogen.

      Huber verkniff sich die Frage, «wie haben Sie uns gefunden?», und Hammermann wollte noch mit dem Satz, «ich wusste, dass ich es irgendwann zu Dienstwagen mit Chauffeur schaffe», warten, bis Huber den ersten Spruch machen würde. Beide entschieden sich für Schweigen, rochen in der Beengtheit des schaukelnden Wagens ihre Bierfahne und dachten unabhängig voneinander: «Notfall – Verbrechen – Yes!»

      Dagegen legte Lammert im hohen Sprechtempo los: «Notfall. Absoluter Notfall, meine Herren!»

      In diesem Augenblick spürten Huber und Hammermann, dass es etwas gab, das sie mehr liebten als Burger und Bier und Fussball: Notfälle – Verbrechen – Yes!

      «Vor knapp zwei Stunden ist eine Frau im Kapo-Hauptquartier aufgetaucht. Eine Fiona Rosenwiler. Ihre Personalien haben wir bereits überprüft. Sie heisst wirklich so, wohnt in Zürich, sie wurde erkennungsdienstlich eindeutig identifiziert.»

      Schade, nur eine Frau!, dachte Hammermann, traute sich aber nicht, es zu sagen.

      «Sie hatte verkündet, eine schmutzige Bombe würde um 14 Uhr 30 in Zürich explodieren. Sie sei die Attentäterin, sie habe noch mehrere scharfe Bomben versteckt.»

      «Was?», kam es Huber empört hoch. «Das ist mal was Neues.»

      Das ist im Prinzip nichts Neues, dachte Raphaël Lammert. Irre, die Lebensmittel vergiften, Bahngleise beschädigen oder Sprengstoffe postieren und dann Lösegeld fordern, gehören zur Routine. Er verkniff sich die Belehrung.

      «Hat sie Migrationshintergrund – irgendwelche Verbindungen in die arabische Welt?», unterbrach Huber.

      «Nein. Reinrassige Schweizerin, wenn Sie so wollen. Ihre Familie besteht aus Aargauern und Zürchern.»

      «Aargauer …», echote Hammermann und zog sich einen abfälligen Blick des Kollegen hinter dem Steuer zu.

      «Nun, wir haben das nicht wirklich geglaubt, unser Kollege hielt die Frau für eine Koksbraut mit psychischen Defekten und temporärem Geltungsdrang.»

      Huber kommentierte spontan: «Das wäre nicht das erste Mal.»

      «Und verdammt, die Bombe ist bereits explodiert. Sie blufft nicht.»

      Huber und Hammermann erstarrten.

      Der Chauffeur nickte bestätigend.

      «Am Zürichberg auf dem Balkon eines Mehrfamilienhauses an der Rigistrasse ist das Ding hochgegangen. Wie gesagt, wir haben das zuerst alles natürlich nicht geglaubt. Es rennen halt zu viele Profilneurotiker in dieser Stadt frei herum. Aber jetzt stehen wir vor der Sauerei.»

      «Wie hoch ist der Personenschaden?», wollte Huber wissen.

      «Es gab keine Toten. Aber die Fassade des Gebäudes ist weitgehend eingestürzt.»

      «Und die Öffentlichkeit? Wieso schickt mir mein Smartphone keine Push-Benachrichtigung von Blick, Tages-Anzeiger und der NZZ über einen Terroranschlag in Zürich?»

      «Presse und Anwohner spekulieren in Richtung explodierter Gasgrill.»

      In Stresssituationen verkürzte Hammermann in der Regel bei der verbalen Kommunikation den Satzbau; ihm genügten dann Zweiwortformulierungen wie: «Die Radioaktivität?»

      «Die Drohung mit der Radioaktivität war zunächst unglaubwürdig. Dann haben wir Spezialisten mit Geigerzählern in die Rigistrasse geschickt. Die haben unauffällig gemessen, sodass keiner was mitkriegt.»

      «Und?»

      «Leichte Radioaktivität. Wir haben eine nicht allzu gefährliche Erhöhung der Strahlung feststellen müssen. Die verbreitet sich


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