5 Prozent. Matthias Merdan
Fenster dringenden, Tageslicht ein Zwielicht, das von den hellblauen Wänden teilweise geschluckt wurde.
Höflich wies Kälin Fiona einen der beiden Stühle zu, liess die Tür hinter sich offen und wusste noch nicht, dass er seine Höflichkeit gleich ad acta legen würde. Beide setzten sich synchron, aber nur Fiona fiel der Geruch von Putzmittel auf (Zitrus).
«Woher wollen Sie das wissen? Woher haben Sie Informationen über einen Terroranschlag?» Er sprach das Wort Terroranschlag so schräg aus, als wäre es das absurdeste Wort, das er je gehört hatte.
Kälin nahm einen Kugelschreiber in seine linke Hand und liess diesen über einem bereits daliegenden Formular schweben; er wusste noch nicht, wie ernst er das nehmen sollte und war gespannt auf die Antwort der Frau.
«Ich selber bin die Terroristin!», verriet Fiona Rosenwiler mit der Sicherheit einer Nachrichtensprecherin.
Kälin vergass einen Moment auszuatmen; unterbewusst überlegte er, ob er den zurückbehaltenen Atem in Lachen oder Entsetzen investieren sollte. Er blickte die gut aussehende und noch besser gekleidete Frau ungläubig an. Sie erinnerte ihn nun etwas mehr an Hannibal Lecter und etwas weniger an Nicole Kidman. Irgendetwas stimmte nicht, er wusste nur noch nicht was, aber gleich würde er es rauskriegen.
Um den notwendigen Prozess zu beschleunigen, damit ihr Gegenüber zum Glauben käme, wiederholte sie: «Ich bin eine Terroristin. Ob Sie das glauben wollen oder nicht. Ich hoffe, es bringt Sie nicht durcheinander, dass ich keinen Bart trage, keinen arabischen Akzent spreche und ich nicht mit einer Kalaschnikow randaliere.»
Kälin lachte, wie jemand, dem an einem Stammtisch zu später Stunde ein typischer Männerwitz erzählt wird.
Rosenwiler blickte mit hochgezogener linker Augenbraue auf ihre Armbanduhr.
Entgegen ihrer ursprünglichen Annahme verlieh ihr diese Armbanduhr ein gewisses Selbstwertgefühl. Es handelte sich um eine Rolex Daytona. Aber nicht irgendeine Rolex Daytona, wie man sie für fünfzehn bis fünfzigtausend Franken hätte kaufen können. Es handelte sich um eine sogenannte Rolex Daytona Big Red, Jahrgang 1979. Fionas Vater Jakob Rosenwiler hatte sich diese Uhr im Jahr seiner Hochzeit, im Vorhaben, diese eines Tages seinem Sohn in Verbindung mit Lebensphilosophie und persönlichen Erfolgsgeschichten zu schenken, selbst geschenkt. Mittlerweile betrug der Wert des Sammlerstücks rund hundertzwanzigtausend Franken. Ein maskulines Modell, bestehend aus Stahl, mit drei schwarzen Totalisatoren auf dem weissen Ziffernblatt. In den Siebzigerjahren war Paul Newman in seiner Funktion als Rennfahrer für dieses Rolex-Modell Werbebotschafter. Für Fiona repräsentierte diese Uhr einerseits negativ den Makel ihres Geschlechts in den Augen ihres Vaters. Andererseits erinnerte sie der Chronograf auch an ihr Vermögen, ihr Netzwerk und ihre Exklusivität. Jakob Rosenwiler überreichte seinem Ersatzsohn das Prachtstück am Tag der Abschlussfeier ihres Hochschulstudiums in St. Gallen. «Für deine erfolgreiche Konversion, mein Engel», sagte er stolz und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, während ihre Mutter dümmlich grinsend danebenstand. Sie dachte Arschloch, nahm die Uhr und bedankte sich.
«In achtundzwanzig Minuten, genau um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine Bombe explodieren. Ein kleines schmutziges Ding. Diese wird, so kann ich Sie vorerst beruhigen, kaum massenweise Tote produzieren – aber sie wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich, begünstigt durch die gegenwärtige Wetterlage und die herrschende Windrichtung, über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»
Und er dachte: Was zur Hölle soll das?
Und sie dachte: Armer Junge, du glotzt, als ob man dir soeben einen Löffel Rohrreiniger zum Schlucken gegeben hätte.
«Vortäuschung eines Verbrechens ist kein Kavaliersdelikt, Frau Rosenwiler. Ihnen ist doch klar, solche Scherze, wie Sie sie sich gerade erlauben, sind strafbar. Das kann Sie teuer zu stehen kommen! Freiheitsstrafe und Regress aller entstehenden Kosten; Sie zahlen ein Leben lang für so einen Spass. Ist Ihnen das bewusst?»
«Tut mir leid, wenn ich Sie erzürne», heuchelte sie, «das ist kein Scherz. Ich wiederhole es gerne noch einmal. In achtundzwanzig Minuten …», sie blickte ganz kurz wieder auf die Uhr, «nein, jetzt siebenundzwanzig Minuten, um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine sogenannte schmutzige Bombe explodieren. Diese wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen beachtlichen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»
Der knapp 700 Meter hohe Zürichberg, auf dem unter anderem der FIFA-Hauptsitz thronte, lag östlich der Innenstadt Zürichs. Seine Westflanke war besiedelt von den Wohnquartieren der Reichen und der Oberschicht.
Kälin war klar, einen solchen Vorfall hatte es in der Schweiz noch nie gegeben. Sollte so etwas tatsächlich passieren? Heute – jetzt – hier – bei ihm?
«Und jetzt schlagen Sie bitte Alarm», ergänzte Rosenwiler im Befehlston, während sie gleichzeitig ihren Oberkörper nach vorne beugte.
Kälin bewegte seinen Oberkörper nach hinten und sah Fionas makellose Zähne, die beim Lächeln nach dem Wort Alarm zum Vorschein kamen. Er hatte nicht die geringste Lust, Alarm zu schlagen, ihr und seinem stetig steigenden Magendrücken somit Glauben zu schenken, aber die Vorschriften verlangten es.
Vor einigen Jahren hatte ein Scherzkeks eine Banküberweisung in Höhe von 6.25 Schweizer Franken mit dem Betreff Rechnung Nr. 666 – für waffenfähiges Plutonium versehen. Diese Sache ging durch die Medien, da die Kantonalbank mit diesen Zeilen antworten musste:
«Sehr geehrter Kunde, sicherlich haben Sie mit Ihrem Überweisungsbetreff ‹Für waffenfähiges Plutonium›, nur einen Scherz gemacht. Leider sind wir von Rechts wegen verpflichtet, dies der Staatsanwaltschaft Zürich zu melden. Diese wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir bedauern diesen Vorgang und bitten Sie, zukünftig keine unüberlegten Formulierungen bei Überweisungen zu verwenden. Mit freundlichen Grüssen, Ihre Zürcher Kantonalbank.»
Kälin und ein Kollege hatten die Sache damals auf dem Tisch, im Wissen, dass es ihm die Politik dorthin geschissen hatte. Der Spott von Presse, Social-Media-Plattformen und seinen Kollegen war ihm sicher. Vier Wochen hing ein A4-grosses Photoshop-Produkt in den Büros, das sein Konterfei zeigte, versehen mit dem darunter stehenden Text «Atombombenentschärfer des Monats».
So musste auch hier, wie bei jeder Morddrohung, Entführungsandrohung oder anderen Gewaltandrohungen eine vorschriftsmässige Aktivität in Gang gesetzt werden.
«Sie wissen, dass ich Sie jetzt sofort festnehmen muss?», belehrte er Fiona.
«Klar. Dacht ich mir», beruhigte sie ihn.
«Vielleicht wissen Sie nicht, Frau Rosenwiler, die Kantonspolizei hat Besseres zu tun, als Witzen nachzugehen!»
«Kein Witz. Versprochen. Niemand wird lachen. Weder mit Ihnen noch über Sie. Ich will, dass ein Aufgebot an Polizisten, ausgestattet mit Geigerzählern, zum Zürichberg entsendet wird. Den präzisen Explosionsort werde ich ihnen um vierzehn Uhr achtundzwanzig mitteilen.» Wieder blickte sie auf ihre Rolex.
«Vierzehn Uhr achtundzwanzig?», versicherte sich Kälin, um nicht zu sagen Ja, jaaaa.
«Vierzehn Uhr achtundzwanzig. So bekommen Sie alles aus nächster Nähe mit und können trotzdem nichts mehr verhindern. Sorry. Taktik.»
Kälin rutschte auf seinem Stuhl, der für seine langen Beine viel zu klein war, immer grantiger auf und ab.
«Was wollen Sie wirklich? Das meinen Sie doch nicht ernst.»
«Ich will, dass mich Politik und Wirtschaft ernst nehmen, für das, was danach kommt.»
«Danach?», echote Kälin. «Danach …, okay.» Er beschloss in diesem Moment, nicht alles sofort begreifen zu wollen.
Der Polizist erhob sich, machte vier grosse Schritte vor die Tür des Vernehmungsraums, blickte aus dem Zimmer und fand Kollegin Welti. Kälin nahm Blickkontakt zu ihr auf und signalisierte Beatrix, sofort hierher zu kommen. Vom harten Blick ihres Kollegen angezogen, schritt sie hinter ihrem Desk hervor und steuerte auf Kälin zu,