Die Forsyte Saga. John Galsworthy

Die Forsyte Saga - John Galsworthy


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der gehobenen Mittelschicht, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Obwohl darüber geredet wurde, vielleicht auch weil darüber geredet wurde, ließ er eine enttäuschende Vitalität erkennen. Die Menschen hatten es satt, immerzu davon zu reden, dass der Disunion am Ende war. Der alte Jolyon sagte das auch immer, ignorierte dabei aber die Tatsache auf eine Weise, die wahre Klubmitglieder ernsthaft verärgerte.

      »Warum bist du da noch Mitglied?«, fragte Swithin ihn oft voller Ärger. »Warum trittst du nicht dem Polyglot bei? Nirgendwo sonst in London bekommt man einen Wein wie unseren Heidsieck unter zwanzig Shilling die Flasche.« Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Es gibt nur noch fünfhundert Dutzend davon. Ich werde ihn jeden Abend meines Lebens trinken.«

      »Ich denke drüber nach«, antwortete der alte Jolyon darauf immer. Aber wenn er dann darüber nachdachte, kam ihm immer die Sache mit der Eintrittsgebühr von fünfzig Guineen und dass er vier oder fünf Jahre auf eine Mitgliedschaft warten müsste.

      Er war zu alt, um ein Liberaler zu sein, glaubte schon lange nicht mehr an die politischen Doktrinen seines Klubs, bezeichnete sie bekanntermaßen als »armseligen Mist«, und es gefiel ihm, den Prinzipien, die seinen eigenen so sehr widersprachen, zum Trotz, Mitglied zu bleiben. Er hatte den Ort schon immer verachtet, seit er dem Klub vor vielen Jahren beigetreten war, nachdem sie ihn im Hotch Potch nicht gewollt hatten, weil er »ein Geschäftsmann« war. Als ob er nicht ebenso viel wert wäre wie jeder Einzelne von denen! Klar, dass er den Klub verachtete, der ihn dann nahm. Die Mitglieder waren eine armselige Truppe, viele von ihnen arbeiteten in der City – Börsenmakler, Juristen, Auktionatoren und was nicht sonst noch alles! Wie die meisten mit einem starken Charakter, aber nicht allzu viel Originalität, hielt der alte Jolyon wenig von der Klasse, zu der er selbst gehörte. Er befolgte brav ihre Regeln, sowohl die gesellschaftlichen als auch andere, und hielt sie dabei insgeheim für einen gewöhnlichen Haufen.

      Die Jahre und die Philosophie, ihm war beides zu eigen, hatten die Erinnerung an seine Niederlage im Hotch Potch verblassen lassen. In seinen Gedanken bewahrte er ihn nun als die Königin aller Klubs. Er hätte all die Jahre Mitglied sein können, wenn sein Antragsteller, Jack Herring, nicht so schludrig gearbeitet hätte. Ihnen war ja gar nicht bewusst gewesen, was sein Ausschluss bedeutete. Seinen Sohn Jo hatten sie doch auch sofort aufgenommen, und soweit er wusste, war der Junge immer noch Mitglied; er hatte vor acht Jahren einen von dort abgeschickten Brief von ihm bekommen.

      Er war seit Monaten nicht in der Nähe des Disunions gewesen. Das Gebäude war auf die Weise bunt geschmückt worden, auf die alte Häuser und alte Schiffe aufgehübscht werden, wenn sie dringend verkauft werden sollen.

      Widerliche Farbe, das Raucherzimmer, dachte er. Das Esszimmer ist gut!

      Sein dunkler Schokoladenton, aufgelockert durch helles Grün, gefiel ihm.

      Er bestellte sein Essen und nahm in genau der Ecke Platz, vielleicht sogar an genau dem Tisch (die Dinge veränderten sich nicht wirklich im Disunion, in einem Klub von fast schon radikalen Prinzipien), an dem er und der junge Jolyon vor fünfundzwanzig Jahren immer gesessen hatten, wenn er mit diesem während der Ferien ins Drury Lane gegangen war.

      Der Junge hatte das Theater geliebt. Der alte Jolyon dachte daran, wie er ihm immer gegenübergesessen und seine Aufregung hinter einer betonten, aber durchschaubaren Nonchalance versteckt ­hatte.

      Er bestellte auch das gleiche Essen, das der Junge immer gewählt hatte – Suppe, jungen Hering, Kotelett und ein Törtchen. Ach! Wenn er ihm jetzt doch nur gegenübersitzen könnte!

      Sie hatten sich seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und nicht zum ersten Mal im Laufe dieser vierzehn Jahre fragte sich der alte Jolyon, ob er vielleicht Mitschuld hatte an der Situation seines Sohnes. Eine unglückliche Affäre mit der affektiert-koketten Danae Thornworthy (jetzt Danae Pellew), der Tochter von Anthony Thornworthy, hatte ihn in seinem Kummer in die tröstenden Arme von Junes Mutter getrieben. Vielleicht hätte er sich ihrer Heirat in den Weg stellen sollen. Sie waren zu jung, aber nachdem er gesehen hatte, wie empfänglich Jo war, hatte er es nur allzu eilig gehabt, ihn verheiratet zu wissen. Und nach vier Jahren war es dann zum großen Krach gekommen. Natürlich konnte er das Verhalten seines Sohnes dabei unmöglich billigen. Die Vernunft und die Erziehung – jene Kombination zweier maßgebender Faktoren, auf der seine Prinzipien beruhten – sagten ihm, dass es unmöglich war, und sein Herz blutete. Die harte Unbarmherzigkeit jener Angelegenheit ließ kein Mitleid für Herzen zu. Da war June, das Energiebündel mit flammendem Haar, das ihn ganz für sich eingenommen, sich um ihn gewunden und geschlungen hatte – um sein Herz, das zum Spielzeug und Zufluchtsort kleiner, hilfloser Dinger bestimmt war. Durch die für ihn typische Einsicht erkannte er, dass er sich von einem der beiden trennen musste. In einer solchen Situation brachten Halbheiten nichts. Darin bestand die Tragik dieser Sache. Und das kleine, hilflose Ding siegte. Er wollte nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, und so sagte er seinem Sohn Lebewohl. Dieses Lebewohl hatte bis jetzt gegolten.

      Er hatte vorgeschlagen, dem jungen Jolyon weiterhin einen geringeren Zuschuss zu zahlen, doch dies wurde abgelehnt. Womöglich hatte ihn das mehr verletzt als alles andere, denn nun blieb ihm kein Weg mehr, seine eingepferchte Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Und es war zu einem so spürbaren und vollständigen Bruch zwischen ihnen gekommen, wie es nur die Übertragung von Vermögen, die Annahme oder Ablehnung dieses Vermögens, verursachen kann.

      Sein Essen schmeckte fad. Der Champagner war trocken und bitter, nicht wie der Veuve Clicquot alter Tage.

      Während er seine Tasse Kaffee trank, beschloss er, in die Oper zu gehen. Deshalb las er in der Times – er misstraute allen anderen Zeitungen – das Programm für jenen Abend. Es lief »Fidelio«.

      Zum Glück keines dieser neumodischen deutschen Märchenspiele von diesem Wagner.

      Er setzte seinen alten Klappzylinder auf, der mit seiner durch Gebrauch abgeflachten Krempe und seiner immensen Größe wie ein Sinnbild besserer Zeiten aussah, zog ein altes Paar sehr dünne, lavendelblaue Ziegenlederhandschuhe hervor, die stark nach Juchtenleder rochen, da er sie stets in der Nähe seiner Zigarrenkiste in der Tasche seines Mantels aufbewahrte, und stieg in eine Kutsche.

      Die Droschke ratterte fröhlich die Straßen entlang. Der alte ­Jolyon war überrascht, wie ungewohnt belebt sie waren.

      Die Hotels müssen ein unglaubliches Geschäft machen, dachte er. Vor ein paar Jahren hatte es noch keines dieser großen Hotels gegeben. Er dachte mit Zufriedenheit an ein Grundstück, das er in der Gegend besaß. Bestimmt schoss sein Wert in die Höhe! Was für ein Verkehr!

      Doch das brachte ihn dazu, sich einer dieser seltsamen unpersönlichen Spekulationen hinzugeben, wie es doch so untypisch für einen Forsyte war und worin zum Teil seine Vormachtstellung unter ihnen begründet war. Wie winzig doch die Menschen waren und wie viele es doch gab! Und was würde wohl aus ihnen allen werden?

      Er stolperte, als er aus der Kutsche stieg, gab dem Fahrer den exakten Fahrpreis, ging hinauf zur Kasse, um seine Karte zu kaufen, und stand dann mit seinem Geldbeutel in der Hand da – er hatte sein Geld immer in einem Geldbeutel dabei. Die Angewohnheit, es lose in die Taschen zu stecken, wie es heute so viele junge Männer tun, hatte er nie gutgeheißen. Der Kartenverkäufer streckte den Kopf heraus wie ein alter Hund aus seiner Hundehütte.

      »Na, so was«, sagte er überrascht, »Jolyon Forsyte! Sie sind es wirklich! Ich habe Sie seit Jahren nicht mehr gesehen, Sir. Meine Güte! Die Zeiten haben sich geändert. Sie und Ihr Bruder und dieser Auktionator – Mr Traquair und Mr Nicholas Treffry, Sie hatten doch immer sechs oder sieben Parkettplätze hier jede Saison. Und wie geht es Ihnen, Sir? Wir werden ja nicht jünger!«

      Eine tiefe Wärme legte sich in die Augen des alten Jolyon; er zahlte seinen Guinea. Sie hatten ihn nicht vergessen. Er ging zu den Klängen der Ouvertüre hinein wie ein altes Kriegspferd in die Schlacht.

      Er faltete seinen Zylinder zusammen und setzte sich, zog seine lavendelblauen Handschuhe genau wie früher aus und hob sein Opernglas für einen langen Blick durch das Haus. Dann legte er es wieder auf seinem gefalteten Hut ab und richtete seinen Blick auf den Vorhang. Schmerzlicher als je zuvor spürte er, dass es mit ihm aus und vorbei war. Wo waren nur all die Frauen, die schönen Frauen, von denen hier immer so viele


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