Die Forsyte Saga. John Galsworthy

Die Forsyte Saga - John Galsworthy


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ging zur Tür hinaus. Er konnte kaum sehen, sein Lächeln zitterte. Nie zuvor in all den fünfzehn Jahren, seit er das erste Mal gemerkt hatte, dass das Leben keine einfache Angelegenheit war, hatte er es so unwahrscheinlich kompliziert gefunden.

      Der runde Tisch in Swithins in Orange und Hellblau gehaltenem Esszimmer, von dem aus man auf den Park blickte, war für zwölf Personen gedeckt.

      Ein Kristallleuchter mit brennenden Kerzen hing wie ein riesiger Stalaktit in der Mitte. Sein Licht ließ große goldgerahmte Spiegel, Marmorplatten auf Beistelltischen und schwere goldene Stühle mit bestickten Sitzen erstrahlen. Alles ließ diese Liebe zum Schönen erkennen, die so tief in jeder Familie, die sich ihren Weg heraus aus dem gewöhnlichen Volk und hinein in die feine Gesellschaft bahnen musste, verwurzelt ist. In der Tat konnte Swithin Einfachheit nicht ausstehen. Er hatte eine Vorliebe für Goldbronze, die ihn unter seinesgleichen immer als einen Mann von großartigem, wenn auch etwas luxuriösem, Geschmack hervorgetan hatte. Und das Wissen, dass wohl niemand seine Wohnung betreten könnte, ohne zu sehen, was für ein wohlhabender Mann er war, gab ihm ein starkes und dauerhaftes Gefühl der Zufriedenheit, wie es ihm vielleicht nichts anderes im Leben geben konnte.

      Seit seinem Rückzug von der Arbeit in der Grundstücksvermittlung, einem seiner Ansicht nach wenig rühmlichen Beruf, besonders was die Auktionsabteilung anging, hatte er sich ganz den von Natur aus aristokratischen Vorlieben hingegeben.

      Der vollkommene Luxus seiner alten Tage hatte ihn eingebettet wie eine Fliege im Zucker. Und sein Geist, in dem von morgens bis abends recht wenig vorging, war die Verbindungsstelle zweier seltsam widersprüchlicher Emotionen - einer fortwährenden und unerschütterlichen Zufriedenheit darüber, dass er sich seinen Weg erarbeitet und seinen Reichtum verdient hatte, und des Gefühls, dass ein distinguierter Mann wie er seinen Geist niemals mit Arbeit beschmutzen hätte dürfen.

      Er stand in einer weißen Weste mit großen Gold- und Onyx­knöpfen neben dem Beistelltisch und beobachtete seinen Diener, der die Hälse der Champagnerflaschen tiefer in die Eiskübel bohrte. Das blasse Fleisch seines Doppelkinns verharrte unbeweglich zwischen den Ecken des Stehkragens, den er – obwohl damit jede Bewegung schmerzte – unter keinen Umständen ändern lassen wollte. Sein Blick wanderte von Flasche zu Flasche. Er überlegte, und sein Gedankengang war folgender: Jolyon trinkt ein Glas, vielleicht zwei, er achtet immer so auf sich. James, der verträgt ja jetzt keinen Champagner mehr. Nicholas – es würde ihn nicht wundern, sollten er und Fanny sich mit Wasser volllaufen lassen! Soames zählte nicht, diese jungen Neffen – Soames war einunddreißig – konnten ja nichts vertragen! Aber Bosinney?

      Der Name dieses Fremden ließ Swithin auf etwas stoßen, das sich nicht in seine sonstigen Ansichten und Erfahrungen einordnen ließ, und er hielt inne. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf! Man konnte es einfach nicht wissen! June war nur ein Mädchen und dazu noch verliebt! Emily (die Frau von James) trank gerne ein gutes Glas Champagner. Er war zu trocken für Juley, das arme alte Ding hatte keinen Geschmack. Ja, und Hatty Chessman! Bei dem Gedanken an seine alte Freundin legte sich ein gedankenversunkener Schleier über seine glänzenden Augen: Es würde ihn nicht wundern, wenn sie eine halbe Flasche trank!

      Als er an den letzten noch übrigen der Gäste dachte, stahl sich ein Ausdruck auf sein altes Gesicht wie der einer Katze, die gerade losschnurren wollte: Irene! Sie würde wohl nicht viel trinken, aber sie würde zu schätzen wissen, was sie trank. Es war eine Freude, ihr guten Wein anzubieten! Eine schöne Frau – und sie verstand ihn!

      Der Gedanke an sie war selbst wie Champagner! Es war eine Freude, einer so gutaussehenden jungen Frau, die sich zu kleiden wusste und so charmant und so distinguiert war, einen guten Wein anzubieten – eine Freude, sie zu Gast zu haben. Zwischen den Ecken seines Kragens machte er mit seinem Kopf die erste kleine, schmerzhafte Bewegung des Abends.

      »Adolf!«, sagte er. »Tun Sie noch eine Flasche rein.«

      Er selbst würde wohl ziemlich viel trinken, denn dank des Rezepts von Blight ging es ihm ganz hervorragend, und er hatte extra nicht zu Mittag gegessen. So gut war es ihm schon seit Wochen nicht mehr gegangen. Er schürzte die Unterlippe und gab letzte Anweisungen: »Adolf, machen Sie noch ein wenig von der westindischen Gewürzmischung auf den Schinken.«

      Er ging ins Vorzimmer und setzte sich breitbeinig auf die Kante eines Stuhls. Sein großer, bulliger Körper verfiel plötzlich in eine erwartungsvolle, seltsame, urzeitliche Unbeweglichkeit. Er war bereit, jeden Augenblick aufzustehen. Er hatte seit Monaten keine Dinner-Party mehr gegeben. Dieses Essen zur Feier der Verlobung von June war ihm zuerst lästig erschienen (bei den Forsytes wurde die Gepflogenheit, Verlobungen gebührend zu feiern, streng befolgt), doch nun, wo die Mühe, die Einladungen zu versenden und das Essen zu bestellen, vorbei war, fühlte er sich angenehm angeregt.

      Und so saß er da, eine Uhr in der Hand, riesig und glatt und golden wie eine plattgedrückte Butterkugel, und dachte an nichts.

      Ein großgewachsener Mann mit Koteletten, der einst für Swithin gearbeitet hatte, jetzt jedoch Obst- und Gemüsehändler war, trat ein und kündigte an: »Mrs Chessman, Mrs Septimus Small!«

      Zwei Damen traten vor. Die vordere der beiden, ganz in Rot gekleidet, hatte große, deutliche Flecken ebendieser Farbe auf den Wangen und einen harten, unerschrockenen Blick. Sie ging auf Swithin zu und streckte ihm ihre in einen langen, blassgelben Handschuh gehüllte Hand entgegen.

      »Na, Swithin«, sagte sie, »ich habe dich ja schon ewig nicht mehr gesehen! Wie geht’s dir? Mensch, du bist ja ganz schön in die Breite gegangen, mein Lieber!«

      Einzig Swithins starrer Blick verriet, was in ihm vorging. Eine dumpfe und grollende Wut stieg in ihm auf. Es war vulgär, dick zu sein, darüber zu sprechen, dass jemand dick war. Er hatte eine breite Brust, das war alles. Er wandte sich seiner Schwester zu, ergriff ihre Hand und sagte in einem herrischen Ton: »Na, Juley.«

      Juley war die größte der vier Schwestern. Ihr gutes, altes, rundes Gesicht war etwas verbittert geworden. Es war mit unzähligen Schmollfalten überzogen, als ob es bis zu diesem Abend in eine Eisendrahtmaske gequetscht gewesen wäre, die nach ihrem plötzlichen Entfernen kleine Rollen aufmüpfigen Fleisches über ihrem gesamten Gesicht hinterlassen hätte. Selbst ihre Augen schmollten. Auf diese Weise zeigte sie ihre permanente Verbitterung über den Verlust von Septimus Small.

      Ihr eilte ein rechter Ruf voraus, immer das Falsche zu sagen, und hartnäckig wie die gesamte Sippe blieb sie auch immer bei dem, was sie gesagt hatte, und fügte noch etwas Unpassendes hinzu und so weiter. Mit dem Tod ihres Mannes hatte sich die zähe Hartnäckigkeit der Familie, die Nüchternheit der Familie in ihr eingebrannt. Sehr redselig, wenn man sie ließ, konnte sie stundenlang ohne jede Regung vor sich hin erzählen und von den zahllosen Malen berichten, in denen das Schicksal ihr übel mitgespielt hatte. Dabei merkte sie nie, dass ihre Zuhörer auf der Seite des Schicksals waren, denn sie hatte ein gutes Herz.

      Dadurch, dass das arme Ding so lange am Krankenbett ihres Gatten (eines kränklichen Mannes) gesessen hatte, war ihr das zur Gewohnheit geworden. Und von da an verbrachte sie unzählige Male ganze Ewigkeiten bei kranken Menschen, Kindern und anderen Hilfsbedürftigen, um diese zu unterhalten, und sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass diese Welt der undankbarste Ort war, an dem man nur leben konnte. Sonntag für Sonntag saß sie zu Füßen dieses äußerst geistreichen Pfarrers, des Reverends Thomas Scoles, der großen Einfluss auf sie hatte, doch sie schaffte es, jeden davon zu überzeugen, dass selbst das ein weiteres Beispiel ihres miesen Schicksals war. Sie hatte es zu einem familieninternen Sprichwort gebracht: Immer wenn jemand besonders anstrengend war, hieß es, er sei »eine richtige Juley«. Mit ihrem Gemütszustand hätte es keiner außer einem Forsyte jenseits der Vierzig geschafft, sie jedoch war zweiundsiebzig und sah besser denn je aus. Und man hatte den Eindruck, dass da noch bislang ungenutzte Kapazitäten für Freude waren. Sie hatte drei Kanarienvögel, einen Kater namens Tommy und einen halben Papagei – gemeinsam mit ihrer Schwester Hester. Und diese armen Kreaturen (es wurde stets gewissenhaft darauf geachtet, sie von Timothy fernzuhalten – Tiere machten ihn nervös) erkannten, im Gegensatz zu den Menschen, dass sie nichts für ihr Unglück konnte, und hingen wie verrückt an ihr.

      Sie


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