Die Bestie von Norwich - Mystikroman. Barbara Emerson

Die Bestie von Norwich - Mystikroman - Barbara Emerson


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sich in Kathys Akte gut machen. Der Schriftsteller hatte in den letzten Jahren mehrere Bestseller geschrieben. Seine Bücher verkauften sich bereits, noch ehe sie fertig geschrieben waren. Sein Name stand für Spannung und für hochkarätige Thriller.

      Sie warf einen Blick in ihre Notizen und schob den leeren Teller von sich. „Stratton Hall“, las sie. Das war ein klangvoller Name. Bestimmt bewohnte Mark Westley ein altes Herrenhaus oder ein großes Landhaus mit stattlichem Anwesen, das konnte sie sich gut vorstellen. Kathy war gespannt, ob die Realität ihre Erwartung erfüllen würde.

      Eliza kam an den Tisch, räumte den Teller und die leere Terrine ab. Kathy ergriff die Gelegenheit.

      „Eliza, können Sie mir sagen, wie ich nach Stratton Hall komme?“

      Die Alte zuckte zusammen, das Besteck fiel vom Teller herunter und klirrte laut auf dem Steinboden. Ihre Augen zogen sich zu engen Schlitzen zusammen, und sie starrte Kathy missbilligend an. „Was wollen Sie denn dort?“

      „Ein Interview mit Mark Westley führen. Der Glasgow-Sund ...“

      „Miss, passen Sie auf sich auf! Wir hören nichts Gutes von dort“, zischte Eliza und ging mit dem Geschirr weg.

      „Bitte … warten Sie doch!“, rief Kathy ihr nach, aber Eliza verschwand in der Küche und kam nicht wieder zurück. Fast schien es Kathy, als hätte die alte Frau sich bekreuzigt, aber sie wischte den Gedanken wieder weg, das war albern. Was sollte an Stratton Hall schon dran sein, dass jemand sich allein bei der Erwähnung des Namens bekreuzigte? Eine heisere Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

      „Ist nicht gut, wenn Sie dort hinfahren, junge Frau“, sagte ein alter Mann, der am Nebentisch saß und in ein halbvolles Glas Ale starrte. Bartstoppeln standen in seinem faltigen Gesicht, und die grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, als hätte der Sturmwind sie ordentlich zerzaust. Er sprach bereits so unsicher, als wäre dies nicht sein erstes Glas. „Schaurige Geschichten erzählt man sich über Stratton Hall.“ Er sah sie nicht an, seine Stimme war leise.

      Kathy lief es eiskalt über den Rücken, und sie fragte sich einen kurzen Moment, ob er sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Immerhin war sie fremd an diesem Ort, die Einheimischen könnten ihr ja alles Mögliche erzählen.

      Der Alte nickte nachdenklich und murmelte vor sich hin. „Hab gehört, dass da …“

      „Jim, nun ist es aber gut“, erklang Elizas aufgebrachte Stimme, die alte Frau erschien plötzlich wieder am Tisch. „Erzähl diese Sachen hier nicht, außerdem hast du wieder mal zu viel getrunken.“

      Kathy wollte protestieren, aber Eliza wandte sich ihr zu, zuckte die Schultern. „Er ist ein alter Trinker und er brabbelt ständig dieses wirre Zeug. Stratton Hall finden Sie, wenn Sie der Straße nach Süden folgen, es ist nicht zu verfehlen, an der Abzweigung zu dem Haus steht ein altes Hinweisschild. Das Gelände ist vollkommen eingezäunt und sieht am Tor aus wie ein Gefängnis.“

      „Danke, Eliza, Sie haben mir sehr geholfen“, sagte Kathy und erhob sich, sammelte ihre Notizen zusammen und nickte der alten Frau noch einmal zu. „Ich werde morgen nach dem Frühstück losfahren.“

      Eliza nickte kurz zurück, dann schlurfte sie hinter die Theke.

      Nachdenklich ging Kathy in ihr Zimmer. Bevor sie sich zu Bett begab, suchte sie das kleine Badezimmer am Ende des Flurs auf. Sie zog die Bluse aus und blickte in den Spiegel. Die dunkle Ahnung von vorhin kroch erneut ihren Rücken hinauf und ließ sie schaudern. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was war nur los? Warum benahm Eliza sich so merkwürdig, und was hatte der alte Mann ihr sagen wollen? Ob es wichtig für sie war? Vielleicht hätte sie ihm doch die Gelegenheit geben sollen, seine Geschichte zu Ende zu erzählen.

      Kurz entschlossen schlüpfte sie wieder in die Bluse und lief hinunter in den Schankraum. Aber der alte Mann war nicht mehr da.

      *

      Kathy schlief unruhig in der Nacht. Sie erwachte mehrmals und hatte das beängstigende Gefühl, beobachtet zu werden. Das hatte sie meistens, wenn sie an einem fremden Ort übernachtete. Doch dieses Mal war es irgendwie anders. Dieses düstere Moor, die erschrockene alte Frau, die geheimnisvollen Worte des alten Mannes, sie raubten ihr den Schlaf und bedrückten sie.

      Schließlich stand sie seufzend auf und stellte sich ans Fenster. Kathy öffnete es, fast widerwillig glitt der Rahmen in der Führung nach oben. Die Nachtluft strömte herein. Kathy atmete tief durch und genoss die erfrischende Kühle. In der Ferne leuchteten ein paar Straßenlampen, aber sonst war es dunkel. Nichts, nicht mal ein Baum, hob sich gegen den schwarzen Nachthimmel ab. Der Regen hatte aufgehört, aber noch immer wehte ein starker Wind und brachte ab und zu einen morastigen Geruch nach vermodernden Blättern und fauligem Holz mit sich. Es erinnerte Kathy mit einem Mal an Tod und Verwesung. Das Moor lässt grüßen, dachte sie.

      Eine lange Weile stand sie dort, spürte die frische Luft auf ihrer Haut und bekam davon eine Gänsehaut. Doch es war angenehm, dadurch wurden die Gedanken vertrieben, die sie seit der Aussage des alten Trinkers verfolgten. „Schaurige Sachen“, hatte er gesagt. Und Kathy sah noch immer deutlich Elizas misstrauischen Blick vor sich, als sie nach dem alten Landsitz gefragt hatte.

      Was hatte es mit Stratton Hall auf sich?

      In der Ferne bellte ein Hund, irgendwo fuhr ein Auto. Es war sehr ruhig in dieser Gegend. Das war sie von Glasgow nicht gewohnt. Dort lebte sie mitten in der Stadt, in einer kleinen Wohnung. Die Nähe zur Straße bot eine stetige Lärmquelle, ohnehin kehrte in einer Großstadt nie Ruhe ein. Kathy hatte sich manchmal nach einer stillen Nacht gesehnt, doch diese Stille, die hier herrschte, war ihr jetzt schon unheimlich.

      Der Hund bellte noch immer, fröstelnd vor Kälte schloss Kathy das Fenster wieder. Sie zog die dicken Vorhänge vor und ließ das Licht an, als sie sich erneut ins Bett legte.

      An Schlaf war immer noch nicht zu denken, stattdessen nahm sie eines von Mark Westleys Büchern zur Hand und versank in der Lektüre. Er konnte gut schreiben, brillant formulieren und mit wenigen, treffenden Worten Spannung aufbauen. Sie war gespannt, wie er wohl als Mensch war, wenn er als Schriftsteller so erhaben, so distanziert wirkte. Westley hatte erst vor acht oder neun Jahren begonnen, seine Bücher zu veröffentlichen. Aus einem seiner früheren Interviews hatte sie entnehmen können, dass er sich vorher nie Gedanken darüber gemacht hatte, mit einem seiner Manuskripte an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Mann war jetzt Mitte fünfzig, Kathy rechnete zurück. Wenn er bereits seit über zwanzig Jahren schrieb, wie viele Bestseller hätte er dann schon veröffentlichen können? Er hatte ein wirkliches Händchen für das Schreiben.

      Edward hatte ihr letzte Woche dieses Buch geschenkt, das gerade erst vor Kurzem erschienen war.

      Seufzend legte sie den Thriller zur Seite und wunderte sich, warum ihre Gedanken immer wieder zu Edward wanderten. Er war stets sehr bemüht um sie, aber Kathy tat meist, als würde sie es nicht bemerken. Dabei genoss sie die Aufmerksamkeit sehr, die er ihr entgegenbrachte, indem er ihr manchmal die Autotür aufhielt oder einen Kaffee an den Schreibtisch brachte. Sie machte sich einen Spaß daraus, den jungen Mann an der Nase herumzuführen. Sie mochte ihn sehr und wusste genau, dass er für sie alles tun würde, aber sie wollte es ihm nicht zu leicht machen. Trotz der Tatsache, dass sie ansonsten nicht so altmodisch dachte, bevorzugte sie in Sachen Liebe die alte, romantische Art. Nicht diese – so wie sie es immer nannte – neumodische Liebe, die aus kurzen Gesprächen am Telefon zu bestehen schien und in der Blumengrüße nicht mehr persönlich übermittelt wurden. Nein, ein Mann sollte sie umwerben, ihr selbst die Blumen schenken, sie ausführen, sie erobern und galant verführen. Edward hatte es bislang nur einmal geschafft, ihr Blumen zu schenken. Letzte Woche hatte sie dann noch dieses Buch von ihm bekommen. Sie musste lächeln, als sie daran zurückdachte, wie nervös der schlaksige junge Mann gewesen war, vor Aufregung hatte er sich wieder und wieder mit der Hand durch die dunklen Haare gestrichen und sie so noch mehr zerzaust. Aber das alles genügte ihr nicht. Der Bursche würde sich noch mehr einfallen lassen müssen, dachte sie sich.

      *

      Das Frühstück, das Eliza ihr auf das Zimmer brachte, war üppig und versprach einen guten Start in den Tag. Auf dem Teller befanden sich


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