Die Bestie von Norwich - Mystikroman. Barbara Emerson
Sie den Weg nach Stratton Hall gut gefunden?“, fragte er und sah sie interessiert an.
Kathy nickte. „Ja, es war nicht schwer zu finden.“
Er lächelte, seine Augen schimmerten geheimnisvoll. „Das freut mich sehr. Sind Sie heute früh angereist?“
Kathy war für einen Augenblick irritiert, es wäre eigentlich ihre Sache gewesen, sich auf das Interview erst mit ein paar allgemeinen Fragen einzustimmen. Aber was soll’s, dachte sie, wenn es ihn interessiert, dann werde ich es beantworten.
„Nein, ich bin bereits gestern Abend in Belstone eingetroffen.“
Er nickte und ließ sie nicht aus den Augen. Kathy wand sich unter diesem Blick, den sie zwar nicht unangenehm fand, der sie aber doch verunsicherte.
Sie trank einen Schluck Tee und wandte sich ihrer Tasche zu.
Mark Westley räusperte sich.
„Bitte, Miss Gregor, ich bin bereit für das Interview.“
„Ja, sicher. Warten Sie, ich muss nur noch …“ Kathy zog ihr Diktiergerät hervor, legte es auf den Tisch und nahm den Notizblock zur Hand. Dies war wieder ihr gewohntes Gebiet, aber vorhin war sie aus dem Takt geraten, vielleicht nicht nur durch seine Fragen, sondern durch den prüfenden Blick der goldbraunen Augen.
„Vielen Dank, Mr. Westley, dass Sie mir … uns vom Glasgow Sunday Observer dieses Interview gewähren“, sagte sie und spürte, wie die Befangenheit von ihr abfiel.
Ein leichtes Schmunzeln flog über das Gesicht des Schriftstellers, und er trank einen Schluck Tee. „Gern.“
„Nun, Sie schreiben derzeit an Ihrem neuen Buch. Darüber werden Sie bestimmt noch keine Auskünfte erteilen?“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Warum sollte ich das nicht tun? Es wird ein Thriller, wie meine vorherigen Bücher, aber dieses Mal wird der Leser in die Irre geführt.“
„Wird er das nicht in jedem Ihrer Bücher?“, fragte Kathy und war froh, dass Edward ihr das Ende des aktuellen Buchs beschrieben hatte.
Mark Westley lachte auf. „Wie ich sehe, kennen Sie meine Werke.“
„Oh ja“, sagte sie und hoffte, dass ihre Wangen kein verräterisches Rot zeigten.
Sie stellte ihre Fragen, die sie vorab zusammen mit Edward erarbeitet hatte. Hier war Kathy in ihrem Element. Mit jedem Wort gewann sie ihre gewohnte Sicherheit zurück. Fragen stellen, kurze Antworten notieren, sich auf den Gesprächspartner einlassen und am Ende eine reißende Reportage schreiben –, das war ihre Welt.
„Mr. Westley, weshalb schreiben Sie?“
„Nun, Miss McGregor, weshalb atmet ein Mensch? Weshalb braucht ein Fisch das Wasser? Das Schreiben ist etwas, das mich vorwärtstreibt, das für mich einfach zum Leben dazugehört. Würden sich meine Bücher nicht verkaufen, so würde ich dennoch schreiben, nur um weiterleben zu können. Meine Texte, meine Manuskripte, sie sind für mich das Wasser, die Luft zum Leben, sind die Elemente, die mich am Leben erhalten und vielleicht auch noch über meinen Tod hinaus weiterleben lassen.“
Kathy nickte, sie war beeindruckt und ging zu ihrer nächsten Frage über.
„Warum sind Sie erst relativ spät dazu übergegangen, Ihre Manuskripte an Verlage zu senden und somit einen Bestseller nach dem anderen zu produzieren?“
Er schmunzelte. „Sehen Sie, ich hätte nie gedacht, dass jemand meine Texte, meine Worte und meine Ideen jemals lesen würde. Die Welten, die Personen und ihre Schicksale, die ich erfinde… Wie hätte ich wissen können, dass die Leser auf so etwas gewartet haben? Es war ein Zufall, dass mein erster Thriller an einen Verlag gelangte, und es war großes Glück, dass er sofort zum Bestseller wurde.“
Kathy notierte sich ein paar Worte und prüfte mit einem kurzen Blick, ob das Diktiergerät noch aufzeichnete.
„Das ist sehr interessant, Mr. Westley. Also Sie schieben es auf das Glück, obwohl es wohl doch vielmehr Ihr Können ist, das Sie so weit nach vorn gebracht hat.“
Bescheiden schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Oh nein, es war einfach nur so, dass ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen bin.“
Kathy lächelte, diese sympathische Bescheidenheit imponierte ihr.
Routiniert führte das Interview fort, und der Schriftsteller beantwortete jede ihrer Fragen freundlich, wobei er Kathy keine Sekunde aus den Augen ließ. So wie er da saß, zurückgelehnt in seinen Sessel, die Ellbogen auf den Sessellehnen und die gespreizten Finger an den Fingerspitzen aneinandergelegt, vermittelte er einen ungemein ruhigen Eindruck.
Kathy spürte seine Blicke, fühlte sich davon durchbohrt und kam sich wie die Beute eines Raubtieres vor. Aber sie führte das Interview geschickt zu Ende. Nach fast zwei Stunden waren sie durch. Kathy bat Mark Westley noch um zwei Fotos. Er stimmte zu, und sie fotografierte ihn vor dem Bücherregal mit einem der alten Werke in den Händen. Ein weiteres Foto zeigte ihn mit einer Schreibmaschine an dem Arbeitstisch vor der Fensterfront, die einen atemberaubenden Blick auf die Gartenlandschaft gewährte. Alte Bäume säumten den Rasen, niedrige Buchsbaumhecken formten Wege durch das Grün. In der Nähe eines Teichs stand ein kleiner Pavillon, der eine lauschige Sitzgelegenheit bot. Ein Gärtner arbeitete an Sträuchern und zupfte verdorrte Blüten ab.
„Mögen Sie Gärten?“, fragte Mark Westley.
Kathy nickte. „Ja, sehr.“
Ohne weiter darauf einzugehen, wandte er sich seinem Terminkalender zu. Bereits im Vorfeld hatte der Schriftsteller zur Bedingung gemacht, dass er die endgültige Fassung des Interviews gegenlesen durfte, also machte Kathy mit ihm einen Termin für den nächsten Tag ab.
„Bitte kommen Sie morgen wieder zur Abnahme der Reportage zu mir“, sagte er samtweich. Kathy genoss jedes Wort, das er sprach, sie fand diese Stimme außerordentlich angenehm.
„Morgen Nachmittag?“, fragte sie. „Dann ist das Interview fertig geschrieben.“
„Gern. Kommen Sie zum Tee“, schlug er vor. „Devon Cream Tea, die unvermeidliche Spezialität dieser Gegend. Dazu Scones mit Marmelade. Was halten Sie davon?“
„Das hört sich sehr verlockend an“, lachte Kathy und nahm die Einladung an. Sie gab ihm ihre Visitenkarte und schrieb für den Fall, dass sich der Termin verschieben sollte, noch die Nummer des Telefons in ihrem Zimmer dazu. Schließlich ergriff sie seine Hand, die er ihr zum Abschiedsgruß reichte. Es schien ihr, als hielte er ihre Hand einen Moment länger, als nötig gewesen wäre. Sie ließ ihn gewähren, genoss dieses prickelnde Gefühl seiner Berührung. Die Haushälterin erschien, zerstörte diesen kurzen Moment der Vertrautheit und führte Kathy zur Tür.
Kathy spürte noch immer die Wärme seiner Berührung in der Handfläche kribbeln, während sie zum Pub zurückfuhr. Ihr Herz hüpfte bei dem Gedanken an seine samtweiche Stimme und diese eindringlichen Blicke aus den Augen wie Bernstein. Ob er wohl allen Frauen gegenüber so aufmerksam war? Ihr kam es so vor, als hätte er besonderen Gefallen an ihr gefunden.
Dieses Lächeln, dieses sympathische Auftreten. Sie verlor sich für einen Moment in kindischen Mädchenträumereien. Aber fast augenblicklich rief sie sich zur Ordnung. Unsinn, schalt sie sich. Du bist kein Schulmädchen, lass die Albernheiten, denk an Edward, er ist der richtige Mann für dich, und das weißt du genau! Doch der Schriftsteller wollte nicht mehr aus ihren Gedanken weichen.
*
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Edward neugierig und lauschte Kathys Stimme.
„Fantastisch! Der Mann ist sehr nett“, antwortete sie fröhlich, und er musste lächeln. Beinahe sah er ihren eifrigen Gesichtsausdruck, den sie jedes Mal hatte, wenn ihr eine Reportage besonders gut gelungen war.
„Das ist gut, das war nämlich nicht unbedingt zu erwarten“, sagte er erleichtert.
„Doch, ist er. Und er hat mich für morgen zum Tee eingeladen“, erzählte