Der neue Sonnenwinkel 70 – Familienroman. Michaela Dornberg
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Angela von Bergen wollte gerade zu ihrem Glas greifen, um etwas zu trinken, als sie es unvermittelt wieder abstellte.
Was hatte ihre Mutter da gerade gesagt? Was redete sie da?
»Mama, was für ein Brief?«, erkundigte sie sich irritiert.
Sophia blickte ihre Tochter an. Das konnte jetzt nicht wahr sein. Seit dieser Brief aus Achenberg gekommen war, bereitete er ihr Bauchschmerzen, und ihre Tochter blickte sie an, als habe sie gerade Suaheli gesprochen. Wollte Angela sie jetzt veräppeln? Oder wollte sie mit ihr nicht über den Inhalt des Briefes reden? Das war wohl die richtigere Variante, und sie war auch überhaupt nicht dazu verpflichtet. Sie sprachen über alles. Zwischen Mutter und Tochter gab es keine Geheimnisse. Und Angela hätte ihr jetzt ruhig sagen können, dass es sie nichts anging, was in dem Brief stand. Doch so zu tun, als sei sie durch diese Frage aus allen Wolken gefallen, das ging überhaupt nicht.
Sophia richtete sich ein wenig auf. So ganz richtig konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ganz cool darüber hinweggehen sollte oder die Beleidigte spielen, was sie im Grunde genommen ja auch war.
»Angela, es ist ja schon gut. Ich hätte es jetzt nicht erwähnen müssen. Es geht mich ja auch nichts an.«
Eigentlich hatte Angela noch etwas von der leckeren Kohlroulade essen wollen, doch sie ließ es sein, legte das Besteck beiseite.
»Mama, was sollen jetzt diese Spielchen? Warum spielst du die beleidigte Leberwurst. Über was für einen Brief sprichst du? Habe ich eine Einladung vergessen, den Geburtstag von jemandem? Dann hättest du mich daran erinnern müssen. Wenn es so ist, dann tut es mir leid.«
Jetzt war Sophia vollkommen irritiert.
Sophia zweifelte nicht einen Augenblick an den Worten ihrer Tochter. Angela war der aufrichtigste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte, und sie neigte auch überhaupt nicht dazu, zu schauspielern. Wenn sie etwas vergessen oder vermasselt hatte, dann gab sie es auch zu. Aber konnte das sein? Dass man einen so wichtigen Brief einfach achtlos beiseite legte und vergaß? Für Sophia war es unvorstellbar.
»Angela, ich meine den Brief von dem Anwaltsbüro aus Achenberg.«
Nun dämmerte es bei Angela, sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, blickte ihre Mutter an.
»Du liebe Güte, Mama, an den Brief habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Warum hast du mich nicht schon früher daran erinnert?«
»Weil ich nicht neugierig sein wollte. Ich dachte, dass du deine Gründe dafür hast, warum du mir nichts mehr über diesen Brief erzählt hast. Aber jetzt hielt ich es irgendwie nicht mehr aus.«
»Mama, noch einmal, du hättest mich bloß fragen müssen. Er liegt irgendwo zwischen all meinen Papieren. Ich verspreche dir, ihn herauszusuchen. Doch glaube mir, etwas Spannendes kann nicht darin stehen, denn sonst hätte man sich noch einmal bei mir gemeldet. Und ich habe auch kein schlechtes Gewissen, weil ich mir nicht habe zuschulden kommen lassen.«
Sie verstanden sich blendend, doch jetzt konnte Sophia ihre Tochter nicht verstehen.
»Angela, der Brief kommt aus Achenberg.«
Ihre Tochter sagte nichts, sondern zog den Teller wieder zu sich heran, um den letzten Rest ihrer Kohlroulade von ihm zu picken, die doch jetzt überhaupt nicht mehr schmecken konnte, weil sie kalt geworden sein musste.
»Angela, Berthold von Ahnefeld kommt aus Achenberg.« Was hatte ihre Mutter bloß?
»Mama, ich weiß. Doch wie du weißt, hat Berthold all seine Zelte in Deutschland abgebrochen, um in Afrika zu leben. Und außerdem, warum sollte mir ein Anwalt schreiben? Berthold und ich sind im Guten auseinandergegangen. Und das ist bereits eine ganze Weile her. Wir hören nichts mehr voneinander. Das ist mir auch recht, weil es, wie du weißt, ein sehr schwerer Schritt für mich war, mich von ihm zu trennen. Doch es ging nicht anders. In seinem Herzen war kein Platz für mich.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Sophia sofort, die Berthold sehr gernhatte und zutiefst bedauerte, dass aus ihm und Angela kein Paar geworden war. Für Sophia wäre Berthold der genau richtige Schwiegersohn gewesen.
»Gut, meinetwegen, Mama, dann nicht genug Platz, weil sein Herz ausgefüllt ist mit seiner toten Frau und seinen toten Kindern. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Und ich trage es Berthold nicht nach, dass er weiter um seine Lieben trauert, die auf so tragische Weise ums Leben gekommen sind. Aber ich habe da nicht reingepasst. Es war einfach zu wenig, was er mir geben konnte. Doch bitte, lass uns davon aufhören. Ich weiß ja, wie gern du Berthold hattest, ich habe ihn geliebt. Doch manchmal muss man auf seinen Verstand hören, nicht auf sein Herz. Und mittlerweile weiß ich, dass es gut so war. Wir wären beide nicht glücklich geworden. Es war eine schöne Zeit mit ihm. Berthold hat mir besonders gutgetan nach dem Fiasko, das ich mit Wim, meinem Ex, erlebt habe. Es war für uns beide gut, denn immerhin ist es mir gelungen, ihm ein wenig von seiner Trauer zu nehmen. Also, Mama, wenn du dir da etwas zusammengereimt hast, dann vergiss es. Es ist ein reiner Zufall, dass mir da Anwälte aus Achenberg geschrieben haben. Es gibt ja Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben, Kleinstverstöße im Internet zu ahnden, um Kapital daraus zu schlagen. Doch ehe es dir schlaflose Nächte bereiten sollte, Mama, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich verspreche dir, den Brief herauszusuchen, doch nicht jetzt. Und sollte ich nicht daran denken, dann kannst du mich gern noch einmal daran erinnern.«
Sie überlegte.
»Eigentlich hatte ich noch mal an die Arbeit gehen sollen. Doch irgendwie ist mir die Lust dazu vergangen. Gewiss liegt das an dem köstlichen Essen, von dem ich mir mehr auf den Teller geschaufelt habe, als nötig gewesen wäre. Was meinst du, sollen wir uns gemeinsam einen Film ansehen? Ich räume rasch den Tisch ab, und du kannst den Film aussuchen.«
Wenn sie ehrlich war, dann hätte Sophia sich jetzt lieber weiter über den Brief unterhalten, der sie so sehr beschäftigte. Und mehr noch, es wäre ihr lieber gewesen, wenn Angela den Brief rasch geholt hätte, dann hätte die liebe Seele Ruhe gehabt. Zumindest ihre Seele.
»Eine gute Idee«, sagte sie, »doch du kannst auch alles stehen lassen, ich habe doch Zeit und kann es später wegräumen.«
Angela schüttelte den Kopf.
»Das kommt überhaupt nicht infrage, du hast gekocht, und jetzt bin ich dran. Außerdem weiß ich doch, dass du Unordnung hasst. Such den Film. Ich bin gleich zurück. Was möchtest du trinken? Noch ein Gläschen Wein? Das werde ich mir auf jeden Fall einschenken.«
»Ach, wenn du mich so fragst, mein Kind, dann würde ich ganz gern einen Kamillentee trinken, der bekommt mir nach dem Essen immer.«
»Kein Problem, Mama, den bekommst du. Also bitte, such den Film aus, und ehe du mich jetzt fragst, was ich sehen möchte, wirst du keine Antwort bekommen. Du hast die freie Wahl.«
Nach diesen Worten warf Angela ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu. Die Arme, warum hatte sie denn nichts von diesem dummen Brief gesagt?
Sie begann den Tisch abzuräumen, alles in die Küche zu tragen, während Sophia in den Raum ging, den die beiden Damen sich als Bibliothek und zugleich Fernseh- und Musikzimmer eingerichtet hatten.
Den Gedanken, dass sie eigentlich zurück an ihre Arbeit müsste, verdrängte Angela. Man konnte auch übertreiben. Außerdem hatte es ihre Mutter verdient, dass sie wieder ein wenig Zeit mit ihr verbrachte. In der letzten Zeit war das nicht der Fall gewesen. Doch Angela war froh, diesen Job beim Kleveverlag zu haben. Sie war frei, konnte sich die Arbeit einteilen, und schlecht bezahlt wurde sie ebenfalls nicht. Dafür war sie dankbar, vor allem auch für die Möglichkeit, sich um ihre Mutter zu kümmern.
Wenn man daran dachte, was für ein Häufchen Elend sie gewesen war, als sie hergezogen waren.
Nein!
Daran wollte Angela nicht mehr denken, dann käme ihr auch gleich ihre eigene Vergangenheit in den Sinn, an die sie besser keinen einzigen Gedanken verschwendete.
Die Vergangenheit war tot!
Ihr ging es gut, ihre Mutter war wieder stabil, und die Arbeit zusammen mit Teresa ließ sie