Parallel leben. Sebastian Lehmann

Parallel leben - Sebastian Lehmann


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      Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

      © by Verlag Voland & Quist GmbH

      Korrektorat: Annegret Schenkel

      Umschlaggestaltung: Lisa Bender

      Satz: Fred Uhde

      Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

      E-Book: zweiband.media, Berlin

      ISBN: 978-3-86391-192-8

       www.voland-quist.de

      »Er träumte niemals von ihr. Sie träumte niemals von ihm. Sie wurden nur geträumt, jeder für sich, von dem, der jeder von ihnen gern für den andern gewesen wäre.«

       Maurice Blanchot

      Inhalt

       Titel

       Impressum

       Autoreninfo

       Zitat

      Erster Teil: Gerade

      Zweiter Teil: Parallele

      Dritter Teil: Abstand

      Vierter Teil: Im Unendlichen

       Epilog

       Danksagung

       Erster Teil

       Gerade

      Die Sirenen kommen näher. Lange wird es nicht mehr dauern. Ich blicke zum See, die Flammen spiegeln sich im dunklen Wasser, das von einem Schwarz ist, noch undurchdringlicher als der Nachthimmel in Brandenburg.

      »Was haben Sie denn gemacht?«

      »Nichts.«

      Und es stimmt.

      Unser Nachbar, der neben mir steht, starrt gebannt auf die erstaunlich hohen, grellorangen Flammen. Der Feuerschein taucht den Wald in flackerndes Licht. Es riecht nach Lagerfeuer.

      »Eigentlich sieht es sogar schön aus.« Ich muss lachen, leise und freudlos.

      Er schüttelt ungläubig den Kopf, murmelt irgendetwas Unverständliches und verschwindet in seinem Haus.

      Alles scheint sich zusammenzufügen, alles passt, wie eine perfekte Gerade, eine Strecke von A nach B. Aber je länger ich auf das brennende Haus starre, desto unklarer und verworrener wird es wieder. Die gerade Linie verwickelt sich, verknotet sich wie ein loser Faden. Und ich weiß auf einmal nicht mehr, wo der Anfang liegt und wo das Ziel, wann es losging und ob es jetzt zu Ende ist.

      Natürlich hatte mich Professor Emrald gewarnt, es ist noch gar nicht lange her.

      »Wenn Sie weitermachen wie bisher, wird Sie das alles irgendwann heimsuchen – und dann ist es wahrscheinlich zu spät«, sagte er, als wir wieder einmal in seinem Büro saßen. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche, ich kämpfe schon lange mit Gespenstern, die sich nicht abschütteln lassen.«

      Unser Nachbar, zurück auf seiner Veranda, wirkt noch aufgeregter. Seine Hände zittern. Erst jetzt bemerke ich das Mobiltelefon, das er an sein Ohr hält. Er flüstert die Worte wie ein Mantra: »Es brennt. Es brennt. Ja, wirklich, es brennt.«

      Inzwischen kann ich auch das zuckende Blaulicht erkennen, nicht mehr weit entfernt auf der Bundesstraße.

      Sie sind fast da.

      Mir kommt wieder einmal diese Mathestunde vor vielen Jahren in der Schule in den Sinn, an die ich in letzter Zeit oft gedacht habe. »Bei zwei parallelen Geraden ist der Abstand aller Punkte auf diesen Geraden konstant. Sie sind immer gleich weit voneinander entfernt«, sagte unser erstaunlich junger, stets motivierter Mathelehrer. Das leuchtete sogar mir ein. Ich zählte nicht gerade zu den Mathe-Cracks und war immer froh, wenn ich eine Vier schaffte. Verschmitzt fügte er allerdings hinzu: »Im Unendlichen schneiden sie sich doch.« Das klang nach Science-Fiction, aber die Nerds in der Klasse nickten grinsend. »Wenn man zwei parallelen Linien mit den Augen folgt, scheinen sie sich aufeinander zuzubewegen«, erklärte unser Lehrer und schrieb einen kryptischen Beweis an die Tafel. Parallelität existierte also nicht, wenn ich das richtig verstand. Doch was sollte das bedeuten: »im Unendlichen«? In der Praxis hatte das schließlich keine Auswirkungen, selbst wenn es so »aussah«, es passierte ja nicht wirklich.

      Als ich schließlich die Feuerwehrautos sehe, das brennende Haus vor mir, weiß ich, dass mein Mathelehrer recht behalten hat.

      1

      Wie jeden Morgen fuhr ich mit der U-Bahn zur Freien Universität, die am Stadtrand lag, tiefes Westberlin, eine Gegend, in die man sich kaum verirrte, wenn man nicht hier arbeitete oder studierte. Ich schlenderte zum Hauptgebäude, einem hässlichen, silbernen Raumschiff, in den fernen siebziger Jahren gelandet zwischen Gründerzeitvillen, schmucken Einfamilienhäusern und kleinen Parks. In einer knappen Stunde würde mein Seminar zur deutschen Nachkriegsliteratur beginnen, das ich jedes Semester anbot, den Titel variierte ich, die Inhalte blieben weitgehend dieselben. Bis jetzt hatte sich noch niemand beschwert.

      Professor Emrald stand draußen vor dem unscheinbaren Eingang des Raumschiffs, das zum Großteil das Germanistik-Institut beherbergte, und rauchte einen Zigarillo. Er hatte vor ein paar Wochen verkündet, endlich damit aufzuhören, ich bemerkte jedoch keine Änderung. Er rauchte seine nach Vanille stinkenden Zigarillos einfach weiter. Wenn man ihn darauf ansprach – was ich natürlich nie getan hätte, doch Kollegen, mit denen ihn weniger verband, taten es manchmal – winkte er ab und sagte, es komme nur darauf an, was man sage, und nicht, was man tue. Die Kollegen lachten, weil sie dachten, er hätte einen seiner Scherze gemacht, aber ich wusste, dass er es ernst meinte.

      Emrald glaubte nicht daran, dass Taten irgendwelche Konsequenzen nach sich zogen, wenn man nicht darüber redete. Also galt das ebenso umgekehrt: Wenn man lange genug über etwas sprach – dann trat es auch ein. Logik hielt er für überschätzt, er lebte sein Leben lieber, als


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