Parallel leben. Sebastian Lehmann

Parallel leben - Sebastian Lehmann


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natürlich kaum überzeugen, doch wie ich Emrald kannte, hatte er auch für ihn eine passende Erklärung parat.

      »Ferber«, rief er, als er mich sah, »ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«

      Emrald musste fast jeden Tag »dringend« mit mir sprechen, selten war es wirklich von Bedeutung, unterhaltsam war es so gut wie immer. Ich lehnte mich an die Eingangstür und atmete den widerlichen Vanillegestank ein. Studenten strömten an uns vorbei, manche nickten Emrald zu, er ignorierte es, so gut es ging. »Verbrüdern Sie sich nie mit Ihren Studenten!«, lautete einer seiner häufigsten Ratschläge an mich.

      »In Leipzig findet eine Konferenz statt, an der Sie teilnehmen werden«, brummte er zwischen zwei Zigarillo-Zügen.

      Wenn ich eins hasste, dann Konferenzen. Den Uni-Alltag in Berlin meisterte ich routiniert, darin hatte ich Übung. Lehranstalten in anderen Städten funktionierten nach ihren eigenen Gesetzen, die ich nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte.

      »Es handelt sich genau um Ihr Thema.«

      »Was ist denn mein Thema?«

      Emrald schnaubte verächtlich und blickte einer jungen Studentin nach, die sich lächelnd an mir vorbeidrängte.

      Mit meiner Promotion ging es seit nunmehr zwei Jahren nicht mehr voran, und Emrald musste sich bei der Institutsleitung ganz schön ins Zeug legen, um meinen Mitarbeitervertrag Jahr für Jahr zu verlängern. Sein Einsatz war keinem Altruismus oder anderen sentimentalen Gefühlsregungen geschuldet, jedenfalls nicht nur. Schließlich entlastete ich ihn mit meinen Seminaren nicht unerheblich, wie er vor jedem Semester freimütig zugab: »Ein Seminar, das Sie geben, muss ich nicht geben, Ferber! Und jedes Seminar, das ich nicht gebe, ist ein gutes Seminar. Vielleicht nicht für die Studenten, aber für mich und die kosmischen Energiefelder dieser Universität!«

      Mir machte das Unterrichten nichts aus, es lenkte mich von meiner Doktorarbeit ab. Ich glaubte nicht mehr an das Thema, über das ich schon fast vierhundert Seiten geschrieben hatte: Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Ich hatte genug von der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Und der andere Teil des Titels überzeugte mich ebenfalls nicht mehr.

      »Sie werden nach Leipzig fahren, mein Lieber. Nächstes Wochenende. So etwas finden die einfältigen Bürokraten von der Institutsleitung immer gut.«

      »Das ist selbst für Ihre Verhältnisse recht kurzfristig.«

      »Ich schätze, ich hätte Ihnen das schon früher sagen sollen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und grinste mich jovial an. »Das habe ich wohl vergessen.«

      »Nachkriegsliteratur, vermute ich?«

      »Das volle Programm, Ost und West. Hört sich alles sehr langweilig an. Immerhin gibt es einen Beitrag über Thomas Bernhard. Sie müssen selbst nur einen kurzen Vortrag halten, das Übliche. Nehmen Sie einfach irgendein altes Kapitel aus Ihrer komischen Arbeit, hört sowieso keiner zu.«

      »Nächstes Wochenende ist wirklich sehr schlecht«, murmelte ich, wohl wissend, dass ich aus dieser Nummer ohnehin nicht mehr rauskam.

      »Vergessen Sie’s. Schenker hat Sie längst angemeldet.«

      Schenker war Emralds Sekretär. Der einzige männliche Büroleiter an der ganzen Universität – behauptete Emrald. Schenker schien für den Posten als seine rechte Hand wie geschaffen, stoisch ertrug er noch den seltsamsten Arbeitsauftrag, nichts und niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen. Von seinem Privatleben wusste ich nichts, ich bezweifelte, dass er eines hatte. Er fuhr jeden Tag als Letzter nach Hause, mit seinem scheckheftgepflegten Rennrad, und betrat morgens als Erster das Institut. Trotz seines gelben Fahrradhelms saß sein Scheitel immer perfekt. Ohne Schenker, das wusste jeder, konnte Professor Emrald nicht überleben. Er überwachte sogar seine privaten Finanzen und schrieb die Weihnachtskarten an seine drei Ex-Frauen.

      »Eigentlich habe ich da schon andere Pläne, Familie und so«, startete ich einen letzten Versuch.

      »Oho, der Herr hat Familie!«, rief Emrald aus. »Wenn Sie nicht nach Leipzig fahren, dann haben Sie bald eine Familie und keinen Job mehr, um sie zu ernähren, Ferber. Wenn es nach mir ginge, dann könnten Sie bis zur Pension an Ihrer sinnlosen Dissertation rumschreiben. Und noch länger! Leider sehen das hier nicht alle so.«

      Er blies den Rauch theatralisch in die Luft und rollte mit den Augen. Mit der Unileitung stand er traditionell auf Kriegsfuß, Autorität vertrug Emrald nämlich ausgesprochen schlecht. Obwohl er selbstverständlich all seine Mitarbeiter autoritär behandelte, bisweilen sogar mich. Zum Beispiel gerade jetzt. Ein Widerspruch, der ihm natürlich bestens gefiel.

      »Ich tue doch alles, um Sie glücklich zu machen.« Eine Familie schützte nicht mehr, inzwischen war eine Familie zu einem Druckmittel geworden.

      Emrald drückte den Zigarillo mit spitzen Fingern im Aschenbecher aus, als würde er einen Käfer zerquetschen. »Ich habe jetzt eine Vorlesung zu halten. Wie immer bin ich nicht im Geringsten vorbereitet. Und wie immer wird es brillant werden.« Er lachte hustend oder hustete lachend, strich über seine zerknitterte Krawatte und verabschiedete sich in Richtung Vorlesungssaal.

      Ich blieb noch eine Weile vor dem Raumschiff stehen und beobachtete die zu spät kommenden Studenten, die außer Atem die Steinstufen hinaufhasteten. Sie schienen von Jahr zu Jahr jünger zu werden, aber natürlich wusste ich, dass ich es war, der immer älter wurde.

      Die Universität bedeutete für mich einen Ruheraum, ich fühlte mich wohl hier – in den muffigen Gängen, in der Bibliothek, in meinem winzigen Büro, das ich mir mit einem anderen Doktoranden teilte, der höchstens einmal im Monat vorbeischaute, um seine Post abzuholen, und ansonsten zu Hause bei seinen Eltern unterm Dach hauste, eine immer wilder wuchernde Arbeit über Robert Musil schreibend. Oder war es Rilke? Sie würde auf jeden Fall genial werden, und er verschlang ein Stipendium nach dem anderen.

      Sogar in der meist nach Bratensoße oder verbrannten Kartoffelpuffern stinkenden Mensa aß ich gern, saß an den weißen, langen Tischen bei den Fenstern und sah hinaus auf die Studenten und Dozenten, die gelangweilt vorbeischlenderten. Auch nach fast fünfzehn Jahren hatte ich nicht ergründen können, warum alle Gerichte einen penetranten süßen Honiggeschmack aufwiesen. Schlechter Geschmacksverstärker, vermutete ich. In Restaurants wunderte ich mich immer, wenn dieser Honiggeschmack fehlte.

      Ich hatte an dieser Universität studiert, als Hiwi ganze Bücher kopiert und arbeitete jetzt schon fast vier Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ich war hier zu Hause.

      Eine Studentin, maximal einundzwanzig, rannte direkt an mir vorbei. Ich kannte sie, sie hatte letztes Semester eines meiner Seminare besucht, jedenfalls sporadisch. Außer an Stiller von Max Frisch hatte sie keinerlei Interesse gezeigt. An ihren Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern, nur an ihre kurzen blonden Haare.

      »Ich bin nicht zu spät«, rief sie mir grinsend zu und verschwand im dunklen Gang. Aber ich, dachte ich und folgte ihr ins Gebäude.

      Robert schlief schon, als ich nach Hause kam. Er war vor ein paar Wochen fünf geworden und durfte jetzt bis neun wach bleiben, was ihn mit niedlichem Stolz erfüllte, da die meisten seiner Freunde aus der Kita schon um acht ins Bett mussten. »Höchstens halb neun«, hatte er kürzlich verkündet. Mittwochs schaffte ich es trotzdem nicht rechtzeitig nach Hause, um ihn ins Bett zu bringen und noch ein wenig aus Jim Knopf vorzulesen. Mein zweites Seminar endete erst kurz vor acht, und danach saß ich meistens noch ein wenig mit Emrald in seinem Büro, so auch heute wieder. In einem Schrank neben seinem Schreibtisch bewahrte er einige stets gut gefüllte Flaschen Rum auf, und wir genehmigten uns zum Feierabend gern einen kleinen Schluck, den wir in den übrig gebliebenen Kaffee vom Nachmittag schütteten. Dazu hielt Emrald einen seiner Privatvorträge, die mindestens so unterhaltsam waren wie seine offiziellen Vorlesungen – die Themen waren allerdings weniger wissenschaftlich. Vorhin hatte er über die attraktive spanische Gastdozentin gesprochen, die in druckreifen Sätzen sprach, deutsch und englisch, ohne erkennbaren Akzent. »Vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar keine Spanierin«, mutmaßte Emrald, »sondern spielt nur die Rolle einer Gastdozentin.« Jedenfalls sei sie literarisch erstaunlich gut informiert, besonders


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