Parallel leben. Sebastian Lehmann
erreichte ihren Höhepunkt. Doch sie schien entspannt, als ich sie umarmte, und auf eine beruhigende Art gut gelaunt. Mein erster Gedanke: Nichts hatte sich verändert. Wir würden einfach da weitermachen, wo wir letzten Montagmorgen aufgehört hatten. Wir küssten uns gleich auf dem Bahnsteig.
Mit der Straßenbahn fuhren wir zu ihrer Wohnung. Als wir nach ein paar Stationen ausstiegen, liefen wir eine breite Allee hinunter, imposante Altbauten auf beiden Seiten, die meisten saniert, einige noch mit romantisch abbröckelnden Fassaden. Die Orientierung hatte ich sofort verloren, konnte nicht einmal mehr sagen, in welcher Richtung der Bahnhof lag. Schließlich blieben wir vor einem der sanierten Altbauten stehen, und in letzter Sekunde erkannte ich, wo wir waren – hier wohnte Lea. Wir stiegen die Treppen hinauf und küssten uns noch einmal, bevor sie die Tür aufschloss.
»Alice ist da«, flüsterte sie, als wir unsere Schuhe im Flur auszogen. Leas Mitbewohnerin, die ich vor einer Woche nicht getroffen hatte.
Doch die Wohnung lag ruhig, von Alice keine Spur. Wir setzten uns in die Küche und tranken Tee. Lea erzählte von ihrer Doktorarbeit und der Bewerbung für ihr Stipendium in New York. Es sah wohl so aus, dass sie es bekommen würde. Plötzlich schlug die Küchentür auf, und eine sehr große, sehr blonde Frau stürmte in die Küche.
»Aha«, rief sie viel zu laut, als sie mich entdeckte. »Der Neue! Ich bin die Alice.« Sie hatte eine raue, dunkle Stimme, die nicht so recht zu ihrem Körper passte. Obwohl, wenn ich einen Moment darüber nachdachte, eigentlich passte sie perfekt.
»Meine Mitbewohnerin Alice«, ergänzte Lea, gequält lächelnd.
Ich gab ihr die Hand und nannte meinen Namen, den sie schon zu kennen schien. Sie war wirklich sehr groß, größer als ich, ziemlich dünn noch dazu, ihre langen blonden Haare ließen ihr Gesicht fahler wirken, als es wahrscheinlich war. Sie grinste die ganze Zeit, aber vielleicht gehörte das auch einfach zu ihrem normalen Gesichtsausdruck. Trotzdem wirkte sie hinter ihrer penetrant guten Laune auf mich sofort traurig oder gar verbittert.
Sie machte sich ohne erkennbares Ziel an den Küchenschränken zu schaffen und redete dabei weiter auf mich ein: »Ich habe alle Bücher deiner Schwester gelesen. Total seltsam, dass ihr Bruder jetzt bei uns in der Küche sitzt.« Sie drehte sich zu uns um und lachte gekünstelt. »Du schreibst keine Bücher, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich lese nicht einmal welche, hätte ich beinahe gesagt, sie schien jedoch keine Antwort zu erwarten und wuchtete unter lautem Getöse einen riesigen Wok auf den Gasherd, befüllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn daneben. »Ich glaube das einfach nicht! Irene Ferbers Bruder!«
»Alice ist Historikerin«, sagte Lea leise. Sofort nachdem Alice in der Küche aufgekreuzt war, hatte Lea eine Weinflasche geöffnet, sie trank bereits am zweiten Glas. Sie wirkte in Gegenwart von Alice viel ruhiger und verletzlicher. Sie trug wieder einen Pferdeschwanz und hatte ihren riesigen Schal auch in der Wohnung nicht abgelegt. Überhaupt schien sie immer sehr viele Kleider übereinanderzutragen, unter ihrem Anorak mindestens noch einen Kapuzenpulli, eine Strickjacke, ein Hemd und ein T-Shirt.
»Als Lea deinen Namen sagte, da klingelte es sofort bei mir. Hallo, Irene Ferber! Die kennt man, die ist berühmt. Übrigens: Wollt ihr was essen?«
Ich sah zu Lea, sie rollte mit den Augen und schnitt sich mit der Hand symbolisch den Hals durch. Alice wirbelte auf einmal herum und grinste uns breit an, Lea fuhr erschrocken zusammen. Alice’ Präsenz war wirklich umwerfend. Alle Dinge in der Küche schienen sich ihr zuzuneigen, sie füllte den Raum vollkommen aus, und wir wurden an den Rand gedrängt.
»Ich versteh schon«, rief sie mit ihrer erstaunlichen Stimme. »Ihr wollt lieber unter euch bleiben.« Sie zwinkerte uns zu.
Lea stand auf und rief nur: »Alice!«
Es dämmerte bereits, als wir die Wohnung wieder verließen. Wir hatten einen geheimen, nicht ausgesprochenen Pakt geschlossen, Leas Zimmer erst einmal zu meiden. Und damit auch ihr Bett.
»Ich habe Alice nichts erzählt, sie findet alles einfach heraus. Ich kann eigentlich immer nur bestätigen, was sie ohnehin schon weiß«, entschuldigte sich Lea.
Wir aßen in einem kleinen arabischen Imbiss, in dem laut die neuesten Charthits liefen. Auf dem Bildschirm hinter der Theke war dazu ein ausländischer Musiksender zu sehen, allerdings stumm gestaltet, trotzdem schienen die bunten Videoclips perfekt zu den Hits zu passen. Wir berührten uns ständig, beiläufig am Arm, oder unsere Schuhe unterm Tisch verhakten sich wie zufällig. Dunkel konnte ich mich erinnern, wie wichtig und intensiv es sich früher angefühlt hatte, wenn man jemand Neues kennenlernte. Die ersten Abende und Nächte zusammen, dieser Taumel, permanentes Glücksgefühl. Natürlich war es auch mit Johanna so gewesen … Doch das ging alles so schnell vorbei, und man lernte mit den Jahren, dass andere Dinge viel mehr zählten, und fand es lächerlich, wenn jemand im Bekanntenkreis das Verliebtsein wiederentdeckte. Diese anderen Dinge, die mehr zählten, ich dachte kurz darüber nach, ohne auf ein gutes Beispiel zu kommen. Vertrauen. Ja, bestimmt, doch ich vertraute auch Lea, obwohl ich sie ja gar nicht kannte. Geborgenheit. Aber ich fühlte mich auch an der Uni in meinem Büro geborgen oder bei Irene in ihrer düsteren Hamburger Wohnung.
Unsere jugendliche Albernheit war uns durchaus bewusst, wir redeten sogar darüber. »Wie Teenies«, rief Lea, als wir nach dem Essen händchenhaltend durch die inzwischen dunklen Straßen schlenderten, ziellos, und immer wieder anhielten, um uns zu küssen. Manchmal sahen wir uns aber auch nur schweigend an, bis einer von uns die Stille durchbrach. Lea lachte viel und immer zu laut, aber es störte mich nicht. Wir redeten über Bücher, und ich vergaß meinen Unwillen fast. Plötzlich konnte ich wieder begeistert über Jonathan Franzen und sogar Max Frisch reden.
»Lass uns noch in die Kneipe da vorne gehen«, schlug ich vor, als es uns draußen langsam zu kalt wurde. Ich zeigte auf eine schäbige Eckkneipe. Auf einmal hatte ich Lust, Dinge zu tun, die ich in Berlin nie machte. Wir bestellten Wodkashots beim dicken, bärtigen Barkeeper, der uns misstrauisch beäugte, ebenso seine einzigen beiden Gäste, komplett in Beige gekleidet, die mit halb leeren Biergläsern vor sich müde auf Barhockern hingen, als gehörten sie zum Inventar.
Wir tranken den Wodka stehend an der Theke. Betrunken fühlte ich mich nicht, Lea schien ohnehin sehr viel mehr Alkohol zu vertragen als ich, das hatte ich schon letztes Wochenende festgestellt. Ich schnorrte mir sogar eine Zigarette bei einem der Trinker neben uns. Er drehte sie gewissenhaft und reichte sie mir fast feierlich. Der freundliche Barkeeper stellte uns ungefragt neuen Wodka vor die Nase und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Beim Rauchen wurde mir angenehm schwindlig, und Lea lachte darüber, wie ich die Zigarette vorsichtig zwischen den Fingern balancierte.
Wir setzten uns an einen speckigen Holztisch unter dem mit Fußballwimpeln behängten Fenster.
»Warst du schon mal in New York?«, fragte sie und zog sich einen ihrer Pullover aus.
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