Parallel leben. Sebastian Lehmann

Parallel leben - Sebastian Lehmann


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Gesprächspartnern vermied sie, so gut es ging. Damit stieß sie einige Leute vor den Kopf, was sie in der Regel nicht einmal bemerkte. Doch trotz ihres sozialen Ungeschicks überzeugte sie alle schnell mit ihrer Brillanz. Sie führte auch kein unglückliches Leben, selbst wenn es manchmal sogar auf mich so wirkte. Meine Schwester ging in dem auf, was sie schuf – und dieses Schaffen machte sie glücklich. Sie reihte ihre Bücher in einem eigenen Regal im Arbeitszimmer auf und nahm sie nie wieder heraus. Sie brauchte nur ihren Blick kurz vom Computer abzuwenden und sah sofort, was sie schon alles geschafft und damit auch geschaffen hatte. Ich habe es zwar noch nie in diesem Zusammenhang erlebt, aber ich bin mir sicher: Dann huschte sogar ein zufriedenes Lächeln über ihr fahles Gesicht, das dringend mal wieder ein paar Sonnenstrahlen vertragen könnte.

      Aber da gab es ja diese Liste in der obersten Schublade ihres beeindruckenden Gründerzeitschreibtisches, ich konnte einmal einen kurzen Blick darauf werfen, als Irene sie gerade wegräumte. Auf der Liste stand eine lange Reihe mit Namen historischer Persönlichkeiten, über die sie Bücher schreiben wollte. Das musste sie noch alles schaffen – also blieb nicht viel Zeit für sonstige Bedürfnisse, vor allem weil die Liste kontinuierlich wuchs. Es dauerte schließlich nur drei Sekunden, einen neuen Namen auf die Liste zu setzen, aber drei Jahre, ein neues Buch zu schreiben. Zudem unterrichtete sie an der Hamburger Universität – und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie dort ordentliche Professorin werden würde.

      Mein eigenes akademisches Versagen wirkte im Hinblick auf meine Schwester fast plakativ groß, sodass ich lieber gar nicht darüber nachdachte. Ungeachtet dieses Umstandes verstanden wir uns ziemlich gut.

      Der Mann meiner Schwester hieß tatsächlich Helmut und sah leider auch so aus (grauer Backenbart, Glatze, dick, eckige Brille), war aber ein herzensguter Chemieprofessor und zehn Jahre älter als sie. Ich hatte mit ihm noch kein einziges interessantes Gespräch geführt, was mich nicht im Geringsten störte. Die beiden hatten keine Kinder, und so waren Robert, Johanna und ich beliebte Gäste in der riesigen Altonaer Wohnung, die sich die beiden vor nicht allzu langer Zeit gekauft hatten und die viel erwachsener eingerichtet war als unsere: ausschließlich antike Möbel, schwere, dunkle Vorhänge, durch die kaum Sonnenlicht auf die braunen Dielen fiel, dazu teure elektronische Geräte, an denen Helmut unablässig herumspielte.

      Die Frau mir gegenüber klappte das Buch zu, und wir stiegen an der gleichen Haltestelle aus. Mein Seminar begann in genau einer Stunde, und ich machte mich erst einmal auf den Weg in mein Büro.

      Vor der philologischen Bibliothek kam mir Emrald entgegen, er roch verdächtig nach Vanille. Wie immer trug er sein abgewetztes Tweedsakko und eine zerbeulte beige Hose, darüber einen nagelneuen, dunkelblauen Dufflecoat. Seine grauen Haare standen am Hinterkopf wirr ab, als wäre er gerade aufgestanden. Er sollte sich dringend von Schenker ein paar Frisiertipps geben lassen.

      »Emrald, Sie sehen mal wieder aus wie das Klischee eines verrückten Professors.«

      »Kommen Sie mit in mein Büro, Ferber!«, rief er, und ein paar Studenten drehten sich nach ihm um. »Und hören Sie auf mit Ihrem oberflächlichen Geschwätz!« Er schob mich in Richtung seines Büros. »Sie müssen mir noch von der Konferenz in Leipzig berichten«, fügte er etwas leiser hinzu.

      In seinem Büro machte sich Emrald an seinem Alkoholschrank zu schaffen.

      »Es ist zu früh für Rum.« Ich ließ mich auf den einzigen nicht von hohen Bücherstapeln belegten Stuhl fallen.

      »Was haben Sie denn für eine Laune!« Er knallte die Schranktüren wieder zu und stellte nur die Kaffeekanne auf den Tisch. »Na gut. Wie war es?«

      »Was denken Sie? Langweilig, eintönig, ermüdend, unnötig. Eine literaturwissenschaftliche Konferenz eben. Der Vortrag zum Fliehenden Pferd war halbwegs interessant, zu Bernhard habe ich allerdings selten etwas Dümmeres gehört.«

      Emrald schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Tassen klirrten. »Walser interessant! Sind Sie verrückt geworden?« Es gab kaum einen Schriftsteller, den Emrald mehr hasste als Walser. Und er hasste viele Schriftsteller. Vorsichtig nahm er einen Schluck heißen Kaffee und schien mit dem Gedanken zu spielen, sich doch einen kleinen Spritzer Rum zu gönnen.

      »Ich fand den Vortrag gut, nicht das Buch«, versuchte ich die Wogen zu glätten, doch Emrald schüttelte nur den Kopf.

      »Und Bernhard naturgemäß fürchterlich«, sagte er mehr zu sich selbst. »Die Wissenschaftslangweiler vergewaltigen ihn immer wieder aufs Neue. Es ist ein Skandal!«

      Ich nickte nur und kratzte etwas Dreck vom Rand meiner Tasse. »Ein fliehendes Pferd ist kein schlechtes Buch«, murmelte ich ohne ihn anzusehen.

      »Was ist nur mit Ihnen los, Ferber? Werden Sie schon senil, oder sind Sie verliebt?«

      Ich zuckte zusammen. Man durfte Emrald nicht unterschätzen und sich von seinem Poltern in die Irre führen lassen, er besaß eine gute Menschenkenntnis und reagierte äußerst sensibel auf seine Mitmenschen. Jedenfalls manchmal.

      »Aber das ist ohnehin das Gleiche!« Er lachte. »Es wird immer schlimmer mit Ihnen, Ferber!«

      Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, schielte auf die Uhr an der Wand und zog die elf Minuten ab, die sie seit Jahren vorging. Mein Seminar würde erst in einer Dreiviertelstunde beginnen, er hatte noch genug Zeit für eine seiner gefürchteten Standpauken.

      »Sie können nicht ewig unterbezahlt langweilige Seminare für einfältige Studenten geben.«

      »Das machen Sie doch auch.« Ich ging zum Schrank, holte die Rumflasche heraus und goss uns beiden einen kräftigen Schluck ein. Emrald sah mich dabei verwundert an. Ein Gespräch mit ihm über mein verkorkstes Leben konnte ich nur angetrunken ertragen. »Allerdings sind Sie nicht unterbezahlt«, fügte ich hinzu, als ich mich wieder hinsetzte.

      »Na, na«, rief er. »Sie sollten sich nicht mit mir vergleichen, da kann es ja nur einen Verlierer geben! Ich habe ein bahnbrechendes Buch über Thomas Bernhard geschrieben! Und war dreimal verheiratet. Oder sogar viermal? Egal. Ich habe in Paris in den frühen Achtzigern mit Foucault zusammengearbeitet!«

      Diese Geschichte wieder. Es existierte kein Beweis für eine Zusammenarbeit mit dem großen Michel Foucault, auch wenn Emrald sich damals tatsächlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Paris aufgehalten haben musste. Mit genauen Informationen hielt er auch auf Nachfrage stets hinterm Berg, also hatte ich mir angewöhnt, es einfach zu ignorieren.

      »Vielleicht sollten Sie mal für eine Zeit lang aus Berlin abhauen, sich eine Auszeit gönnen. Das hört sich vielleicht abgeschmackt an, aber man muss sich immer wieder in neue, unbekannte Situationen versetzen, erst dann kann man etwas erreichen.«

      Dass sich etwas ändern musste, damit hatte Emrald wahrscheinlich recht. Doch bei seinen vermeintlich wohlmeinenden Ratschlägen musste man vorsichtig sein. Er war ein großer Scharlatan und behauptete an einem Tag etwas und am nächsten Tag das komplette Gegenteil. Immer klang es überzeugend und einleuchtend. Er hätte seinen Studenten alles erzählen können – und ich wusste, dass er es auch tat. Sie lauschten begierig seinen Sentenzen und schrieben eifrig alles mit. Wenn er wieder in besonders süffisanter Laune war und ich ihn nach einer Vorlesung auf dem Gang traf, rief er mir immer schon von Weitem zu: »Wissen Sie, was ich denen heute wieder erzählt habe? Man kann Menschen alles verkaufen, man muss es nur schön verpacken, dann schlucken sie jeden Schwachsinn. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Politikern!«

      Ich sah Emrald an. »Wohin soll ich denn gehen? Und außerdem: Was soll denn das heißen: ›etwas erreichen‹?« Das klingt mir zu ökonomisch, das Leben ist doch keine Kosten-Nutzen-Rechnung.«

      »Sie müssen aufhören, alles immer mit Begriffen zu kategorisieren.« Er streckte sich auf seinem Schreibtischstuhl aus. »Begriffe sind immer unscharf. Die Praxis dagegen ist eindeutig. Was Sie machen, wie Sie leben, das ist real. Diese ganze Theorie ist gut für Vorlesungen, damit können Sie Ihre Studenten einschläfern. Denken wird überschätzt.« Scheppernd schoss er eine Lachsalve ab und griff zu seinen Vanille-Zigarillos. Nur in Ausnahmesituationen gönnte er sich einen im Büro, Rauchen war in der Universität strengstens verboten. Anscheinend handelte es sich gerade nicht


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