Parallel leben. Sebastian Lehmann

Parallel leben - Sebastian Lehmann


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Anruf aus Leipzig erzählt hatte: »Ich komme erst morgen, es gibt doch noch weitere Vorträge, die für die Diss wichtig sind, obwohl sie mich nicht besonders interessieren. Tut mir leid!«), aber dann nickte sie, als würde sie alles verstehen.

      »Das ist doch gut«, sagte sie schließlich. »Du hast doch immer Angst, dass sie dich rausschmeißen, und wenn sie dir eine neue Aufgabe übertragen, dann geht das ja nicht mehr so einfach.«

      Ich redete weiter, verfeinerte meine Ausrede, und Johanna schien überzeugt. Warum sollte sie mir auch misstrauen?

      »Ich habe ohnehin genug zu tun am Wochenende. Und Robert ist ja am Samstag bei der Geburtstagsfeier von Lars eingeladen.«

      Ich legte den Arm um sie und schloss müde meine Augen. Alles war in Ordnung.

      4

      »Wir haben uns von allem verabschiedet«, deklamierte Emrald und sah mir direkt in die Augen. Auf seinem frisch rasierten Gesicht erkannte ich eine winzige blutige Kruste. Wir saßen in seinem Büro, Freitagvormittag, die Uniwoche neigte sich dem Ende zu. Meine Reisetasche stand gepackt neben mir.

      »Wer ist schon wieder dieses ›Wir‹, von dem Sie so selbstverständlich sprechen?«, unterbrach ich ihn.

      Er wischte meine Frage mit einer energischen Handbewegung beiseite, die aussah, als wollte er irgendwem den Kopf abschlagen. »Die sich angesprochen fühlen, werden es schon merken.«

      Ich nickte. Im Zweifelsfall war bei Emralds großen Reden vor allem ich angesprochen.

      »Zum Beispiel Gott«, rief er viel zu laut, als wolle er die ihm verhassten Religionswissenschaftler drei Gänge weiter erschrecken. »Wir haben uns von den Heilsversprechen der Religionen verabschiedet, das hat schon Nietzsche bedauert – ich verwende hier mit Absicht das Wort ›bedauert‹: ›Gott ist tot‹ war kein Triumphgeheul, sondern ein Warnruf. Wir müssen etwas anderes finden, das uns Sinn spendet. Und kommen Sie mir nicht mit den islamistischen Extremisten, das sind auch nur Nihilisten. Nur wer an nichts glaubt, kann zum Massenmord aufrufen. Und die Mörder sind dann einfach nur verrückt.«

      »Und was spendet Ihnen Sinn, großer Professor? Das Lehren an einer Universität?«

      »Ferber! Halten Sie jetzt endlich den Mund, ich versuche hier einen Gedanken zu entwickeln! Können Sie dann gern in Ihren bescheuerten Seminaren zitieren.« Er grinste mich an und warf sich theatralisch seinen karierten Schal um den Hals. »Es zieht hier.«

      »Die Kälte der existenziellen Leere weht durch Ihr Büro.«

      Er verdrehte die Augen. »Was haben wir denn heute noch? Was lässt uns jeden Morgen aufstehen und die Absurdität des Daseins ertragen? Die Familie vielleicht?« Er machte eine Kunstpause. Ich entdeckte ein paar Bartstoppeln an seinem Hals. Das hätte er sich früher nicht durchgehen lassen.

      »Wohl kaum!«, fuhr er fort. »Lassen sich doch alle scheiden, ich spreche da aus eigener Erfahrung, wie Sie wissen. Oder Solidarität? Und eine damit zusammenhängende wie auch immer geartete linke Utopie? Im Moment sieht es eher so aus, als würde der Nationalismus wieder aus den dunkelsten Ecken der Geschichte hervorkriechen.« Er schnaubte verächtlich. »Gemeinschaft ist nicht mehr gefragt. Gemeinschaft heißt jetzt Teamwork. Und Teamwork bedeutet gleichzeitig Konkurrenz. Wettkampf zwischen den Teams und innerhalb des Teams, denn heute übernehmen die Selbstverwirklicher und Selbstoptimierer das Kommando, man ist zum Unternehmer des eigenen Ichs geworden. Es zählt nur noch das Verkaufen, selbst unsere kleinen, dummen Studenten werden schon darauf getrimmt. Ihr seid allein auf dem großen Markt der Individuen, heißt es, macht euch bereit für den Wettbewerb, verbessert euch!«

      Er hustete sein schepperndes Husten so laut, dass die Kaffeetassen im Regal leise klirrten. Ich dachte an das Wochenende, das bald anbrechen würde. Emralds Theorien schienen noch weiter entfernt von mir als sonst.

      »Was haben wir dann noch? Was bleibt übrig, wenn alle Heilsversprechen, alle großen Erzählungen, die Sinn stiften könnten, dem kapitalistischen Realismus geopfert werden?«

      »Die Liebe?«, fragte ich. »Das hat kürzlich zumindest eine meiner Studentinnen behauptet.«

      Emrald sackte in sich zusammen, alle Energie schien aus ihm zu weichen. »Ach, Ferber.« Er goss einen Hauch Rum in unsere Tassen, schließlich war es noch vor zwölf, und wir stießen an.

      »Ich muss los«, sagte ich dann.

      Ich nahm meine Tasche und meine Jacke und öffnete die Bürotür. Emrald machte keine Anstalten aufzustehen und nach Hause zu fahren. »Sie bleiben noch?«

      Er nickte. »Gehen Sie jetzt endlich! Sie werden erwartet, vermute ich.« Er wedelte mit beiden Händen, als wolle er mich verscheuchen.

      Draußen vor dem speckigen Zugfenster flog die brandenburgische Einöde vorbei, weite, kahle Felder, manchmal ein See, selten ein Dorf mit kleinen Häuschen und verfallenen Plattenbauten. Unzählige Windräder bevölkerten beständig den Horizont. Manche drehten sich schnell, manche nur gemächlich, die meisten standen vollkommen still; wenn die Sonne durch ihre riesigen Rotoren schien, sah es sogar schön aus.

      Ich blickte auf mein Handy. Nur etwas länger als eine Stunde würde die Fahrt dauern. Gerade als ich es wieder in die Tasche stecken wollte, rief Irene an. Schnell stellte ich den Ton ab und beobachtete, wie nach ein paar Sekunden der Schriftzug »Verpasster Anruf« aufleuchtete.

      Wir erreichten unseren einzigen Halt, Lutherstadt Wittenberg, etwa in der Mitte der Strecke. Der Schaffner sagte es in krächzendem Sächsisch durch. Soweit ich es erkennen konnte, stieg niemand ein oder aus. Auf dem Bahnsteig saßen jugendliche Pärchen auf den Bänken und tranken Energydrinks aus bunten Dosen. Sie machten allerdings nicht den Eindruck, auf einen Zug zu warten, sondern einfach nur so, auf irgendwas, egal was, sie würden es wahrscheinlich nicht mal selbst erklären können.

      Neben mir saß ein dicker Mann, wahrscheinlich in meinem Alter, auch wenn er viel älter wirkte (redete ich mir immerhin ein, er hatte eine Glatze), und starrte auf einen laut vor sich hin surrenden Laptop. Es lief ein brutaler Film oder irgendeine amerikanische Serie. Anscheinend ging es um Zombies und eine Gruppe Menschen, die, um sich vor den Monstern zu schützen, in ein altes Gefängnis flohen. Auch ohne Ton fiel mir die bittere Ironie dieser Konstellation auf: Die Menschen müssen sich selber einsperren, um Schutz zu finden. Der dicke Mann sah mich plötzlich misstrauisch an. Ich wandte mich ab und betrachtete wieder die Windräder. Nach einer Weile spürte ich erneut das Vibrieren in der Tasche. Dieses Mal ging ich ran.

      »Ich bin im Zug, wahrscheinlich bricht gleich die Verbindung ab«, sagte ich zur Begrüßung. »Was gibt’s denn?«

      »Wohin fährst du?«, fragte Irene, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Bist du allein unterwegs?«

      »Ja. Ich fahre nach Leipzig.« Jetzt musste ich also auch meiner Schwester die Geschichte über die angebliche Kooperation der Universitäten erzählen. Sie nahm es kommentarlos hin.

      »Ich wollte nur fragen, ob ihr weiterhin plant, nächstes Wochenende nach Hamburg zu kommen?«

      Was wusste ich, was nächstes Wochenende sein würde? Letztes Wochenende hätte ich mir ja auch nicht ausmalen können, ein paar Tage später schon wieder in einem ICE nach Leipzig zu sitzen. Auf keinen Fall wollte ich über nächstes Wochenende nachdenken, nicht einmal über nächsten Montag. Ich hatte schon genug damit zu tun, damit klarzukommen, in einer halben Stunde Lea wiederzusehen.

      »Kann ich dich nächste Woche anrufen? Weiß noch nicht, ob das klappt. Johanna und ich müssen viel arbeiten.«

      Irene sagte nichts dazu, obwohl sie wusste, dass höchstens Johanna viel zu tun hatte.

      »Paul, ist alles gut bei dir?« Natürlich merkte sie, dass ich mich nicht normal verhielt. Niemand kannte mich so gut wie sie.

      »Klar. Die Verbindung ist nur so schlecht«, log ich. »Übrigens sehe ich andauernd Leute, die dein neues Buch lesen.«

      »Hast du es denn gelesen?«

      »Bin fast durch.«

      »Natürlich. Dann


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