Parallel leben. Sebastian Lehmann

Parallel leben - Sebastian Lehmann


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drängten sich schon sämtliche Zuhörer um zwei Kaffeekannen. Den Teller mit den billigen Keksen hatten sie bereits leer gegessen. Der Gedanke, hier zwischen den Leuten herumzustehen, die gerade meinen langweiligen Vortrag mehr oder weniger verfolgt hatten und mich womöglich sogar darauf ansprachen, ließ augenblicklich Panik in mir aufsteigen.

      »Ich kenne ein nettes Café hier ganz in der Nähe«, erriet Lea meine Gedanken. Dankbar folgte ich ihr die Treppen hinunter zum Ausgang.

      »Kommst du aus Leipzig?«, fragte ich sie, als wir den Campus hinter uns ließen und in eine schmale Straße einbogen. Ich verlor sofort die Orientierung.

      »Nein, ich hab hier nur studiert. Ich will eigentlich auch weg. Jetzt habe ich mich erst mal für ein Stipendium woanders beworben.«

      Ich nickte. Und vergaß zu fragen, wo dieses Woanders denn sei.

      Wir erreichten ein winziges Café, in dem nur ein paar kleine Tische standen. »Mein Zufluchtsort vor den ganzen Unileuten.« Lea grinste.

      Wir bestellten Kaffee und ein spätes Frühstück, und sie begann zu erzählen. Ich brauchte sie nicht zu ermuntern, sie legte einfach los. Während ich langsam einen Avocado-Bagel verdrückte und zwei Tassen Kaffee trank, rührte sie ihr Croissant nicht an und nippte nur hin und wieder an ihrem Tee, wenn sie gerade kurz Luft holte. Sie erzählte von den unzähligen Stunden, die sie in der Bibliothek beim Schreiben ihrer Doktorarbeit verbrachte. Und vom Überdruss, der sich inzwischen eingestellt hatte. K. schläft – Wach- und Schlafzustände im Werk Franz Kafkas, deklamierte sie den Titel ihrer Arbeit. So interessant konnte ein Diss-Thema also auch klingen, keine Ahnung, warum sie das langweilig fand.

      Sie machte eine kurze Pause, um von ihrem Croissant abzubeißen. »Ich rede zu viel«, sagte sie mit vollem Mund.

      Ich sah sie an, sie wirkte auch dann gut gelaunt, wenn sie gar nicht lächelte oder lachte.

      »Ich mag, wenn Leute viel reden, dann muss ich nicht so viel sagen.«

      »Wie du meinst.« Es schien unmöglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Sie zog ihre Augenbrauen hoch und erzählte ungerührt weiter. Zuerst von ihrer anscheinend anstrengenden Mitbewohnerin, mit der sie schon fünf Jahre zusammenwohnte. »Mit zweiunddreißig sollte man doch langsam eine eigene Wohnung haben, aber das ist selbst in Leipzig einfach zu teuer, wenn man nichts ›Richtiges‹ arbeitet.« Ich war verblüfft, wie einfach sich die Altersfrage klärte. Die Jobaussichten seien für Geisteswissenschaftler hierzulande ja nicht gerade rosig, wie ich sicher wüsste – ich nickte beflissen –, sie hätte im Grunde keine Ahnung, wie es weitergehen solle, wenn ihr Doktoranden-Stipendium in drei Monaten auslief. »Vielleicht klappt wenigstens das New-York-Stipendium, aber das bringt mir auch nur ein paar Monate.« Und auch das hatte sich geklärt: Woanders bedeutete New York.

      Sie nahm einen Schluck Tee, sah mich über den Rand der Tasse mit ihren grau-blauen Augen an und sprach dann noch von ihrer Heimatstadt Frankfurt (schlimm), Tanzen in Clubs (bei ihrem »hohen« Alter inzwischen peinlich), der Qualität der Croissants in diesem Café und im Allgemeinen in Deutschland (schlecht), ihrem Doktorvater (Arschloch, aber leider genial), Lou Reed (ebenfalls Arschloch und genial) und den Romanen Paul Austers (meistens gut, aber immer gleich).

      Plötzlich verstummte sie und stellte mir eine Frage, die erste, seitdem wir hier saßen: »Wie lange bleibst du eigentlich in Leipzig?«

      Ich antwortete nicht sofort, deswegen redete sie einfach weiter. »Wir müssen mal langsam zurück zur Uni. Fängt nicht gleich der Abschlussvortrag an?« Sie nahm einen riesigen, bunten Geldbeutel aus ihrer ebenfalls riesigen Tasche und begann wahllos Kleingeld auf dem Tisch zu verteilen. Dann sah sie mich wieder an und fuhr sich, vielleicht etwas verlegen, durch ihre Haare. »Wenn du willst, können wir uns heute Abend noch mal auf ein Bier treffen oder so?«

      Wie zufällig berührte sie mit ihren Schuhen mein Schienbein unter dem Tisch. Ganz kurz nur, wahrscheinlich aus Versehen, doch ich war plötzlich wie elektrisiert. Lea interessierte mich. Und dieses Gefühl, dass mich jemand, den ich nicht kannte, interessierte, wirklich, ganz und vollkommen, das hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Ob es ihr auch so ging? Und wenn ja, warum?

      »Ich fahre erst morgen zurück.«

      Ich dachte nicht an Emrald und an mein Seminar morgen Vormittag, als ich das sagte. Ich dachte nicht an den Zug, den ich gebucht hatte und der in ein paar Stunden nach Berlin fuhr. Ich dachte nicht an Johanna. Genauso wie gestern, als ich Lea zum ersten Mal begegnet war, dachte ich einfach gar nichts.

      3

      Zum Gefühl der Taubheit gehörte auch der Blick zurück. Vielleicht bedingten sich diese beiden Stimmungen. Besonders in den wachen Nächten drifteten meine Gedanken irgendwann ab, und ich verlor mich in unbestimmten Erinnerungen. Paradoxerweise erinnerte ich mich am stärksten an die Erinnerung selbst. Schon als Kind, so kam es mir vor, hatte ich darüber nachgedacht, wie ich mich später, wenn ich älter wäre, an meine Kindheit erinnern würde. Ich hatte mir damals vorgestellt, in ein paar Jahren aufzuwachen und an diesen Moment zurückzudenken, an dem ich dachte, dass ich mich daran erinnern würde. Von diesem Gedankenexperiment kam ich lange nicht los. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Ich jetzt für mein Ich in vier Wochen aussehen würde. Dabei durchströmte mich ein Gefühl der Zeitlosigkeit, als würde sich Zeit überhaupt auflösen. Es schien fast so, als existiere ich gar nicht. Davor fürchtete ich mich früher am meisten: Dass ich in Wahrheit gar nicht lebte, nicht da wäre.

      Und in diesem Zusammenhang stand auch eine seltsame Kindheitserinnerung. Sie wirkte inzwischen wie ein Traum – doch einer, der bereits ins Bewusstsein übergegangen ist und von dem man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann, ob er nicht doch Realität ist. Wie ein altes, vergessenes Foto, auf dem man sich selbst erst nach einer Weile erkennt.

      Ich sah es deutlich vor mir: Wir befinden uns auf einer Wanderung im Wald, ich muss so etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Ein Ausflug mit meiner Fußballmannschaft, samt Trainern und Eltern. Wo genau wir hinwandern, weiß ich nicht mehr. Bei einer Rast, wir essen auf moosigen Baumstämmen sitzend schweigend unsere Vesperbrote, spüre ich plötzlich zum ersten Mal dieses Schaudern. Es fühlt sich an, als würde ich an einem Abgrund stehen, hinunterblicken und im nächsten Moment befände ich mich schon im freien Fall. Ich weiß auf einmal, dass ich sterben muss. Selbst für einen Zehnjährigen keine ganz neue Erkenntnis, doch in diesem Moment geht mir die Konsequenz daraus auf: Es würde eine Zeit geben, in der ich und alles und jeder, der mit mir zu tun hatte, verschwunden wäre. Ein Ende, ein Nichts. Ich blicke meine Freunde an, die um mich herum sitzen und ihre Brote verspeisen, ihre Eltern, die sich über etwas unterhalten, was mich als Kind nichts angeht, und ich weiß auf einmal, dass ich mit ihnen nicht darüber sprechen kann. Sie würden es nicht verstehen, oder vielleicht würden sie es zu gut verstehen und deswegen nicht darüber reden wollen. Es gibt im Grunde auch nicht viel zu sagen.

      Wahrscheinlich verfiel ich dann auf die Idee mit den Gedankenexperimenten. Weil ich damit scheinbar meine Zukunft eingrenzen konnte. Oder wie der alte Walser sagt: »Man ist ja viel länger tot als lebendig.«

      Auf dem Weg zur Freien Universität las mir gegenüber eine junge Frau, wahrscheinlich Studentin, ein Buch meiner Schwester. Das kam öfter vor, Irene verkaufte ziemlich gut, trotzdem erschrak ich immer wieder, wenn ich ihren – und damit auch meinen – Namen auf einem Buchcover sah.

      Meine Schwester war Historikerin und hatte schon vor knapp acht Jahren promoviert – obwohl sie nur dreieinhalb Jahre älter war als ich. Schon während des Studiums hatte sie begonnen, in einer unglaublichen Geschwindigkeit dicke Bücher über wichtige geschichtliche Persönlichkeiten zu schreiben. Allgemein verständliche Bücher für ein großes Publikum und trotzdem akademisch relevant, hieß es oft in den Rezensionen. Sie brauchte immer genau zwei Jahre zum Schreiben, davor hatte sie bereits ein Jahr lang recherchiert. Diesen Zeitplan wollte sie unbedingt einhalten, was sie dank ihrer asketischen Lebensweise sogar schaffte.

      Die Frau in der U-Bahn las ihr neuestes Buch über Fürst Metternich. Hatte sie nicht schon ihr letztes Buch über Metternich geschrieben? Ich konnte diese ganzen historischen Figuren einfach nicht auseinanderhalten. Vor allem wenn sie klangen wie Sekt­sorten.

      Irene


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