Parallel leben. Sebastian Lehmann
ich mal etwas essen. Und Sie müssen Ihr Seminar halten.« Er hob seine Tasse, auf der, wie ich jetzt sah, tatsächlich ein Elefant prangte, und prostete mir theatralisch zu. Dann leerte er sie mit einem Zug und wuchtete sich aus seinem Sessel.
»Walser interessant!«, murmelte er noch, als er sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund steckte. »Sie sind wirklich verrückt geworden.«
Wir verließen sein Büro, und ich schlug den Weg zum Seminarraum ein. Verliebt oder senil. Emrald hatte wieder einmal ins Schwarze getroffen. Trotzdem würde ich ihm auf gar keinen Fall von Lea erzählen.
Als Erstes stand das obligatorische Referat an. Lukas und Marie, wenn ich mich recht erinnerte, zweites Semester Germanistik auf Bachelor und damit höchstens zarte zwanzig Jahre alt, bauten sich schon vorne neben meinem Pult auf und nickten mir schüchtern zu.
»Dann legen Sie mal los«, ermunterte ich die beiden. Heute stand Max Frischs Mein Name sei Gantenbein auf dem Seminarplan, erfahrungsgemäß interessierten sich die Studenten nicht gerade übermäßig für diesen über fünfzig Jahre alten Roman.
Der Vortrag begann wie immer furchtbar. Ich sollte die Referate am Anfang jeder Sitzung dringend abschaffen, dachte ich jedes Mal, doch mit ihnen ließ sich so gut Zeit totschlagen. Man konnte ja nicht jede Woche einen Film zeigen.
Marie las erst einmal fast den kompletten Wikipedia-Eintrag zu Max Frisch vor. Ich hatte es aufgegeben, zu intervenieren, anscheinend ging es nicht ohne, jedes Referat begann so. Zum Glück sprach sie so schnell, dass es kaum fünf Minuten dauerte, die komplette Biographie Frischs herunterzurattern. Ich betrachtete dabei die nach der Mittagspause besonders schläfrigen Studenten, etwa fünfundzwanzig. Am Anfang des Semesters waren es doppelt so viele gewesen. Bei den meisten war mir rätselhaft, warum sie Literatur studierten, ich vermutete, weil ihnen nichts Besseres eingefallen war. Wahrscheinlich ahnten sie, dass ich sie auch nur unterrichtete, weil mir wiederum nichts Besseres einfiel. Eigentlich konnte man bei solch einer Ausgangssituation recht gut miteinander auskommen.
Nach Maries Wikipedia-Einstieg übernahm zum Glück Lukas, der sich wohl eingehender mit dem Roman beschäftigt hatte. Er schien mir ohnehin einer der Belesensten im Seminar (was nicht viel bedeutete), er meldete sich manchmal sogar freiwillig und versuchte sich an umständlichen Theorien, was ich stets unterstützte. Zur Feier des Tages trug er heute ein Cordjackett und ein mindestens zwei Nummern zu großes, hellblaues Hemd, in dem er aussah wie ein kleiner Junge, der für eine Familienfeier zurechtgemacht worden war.
»Frisch zeigt, wie sich die Identität einer Figur in verschiedene Rollen aufspaltet und wie das Spielen einer Rolle zwischenmenschliche Beziehungen verändert. Der nicht klar gekennzeichnete Erzähler des Romans erfindet sich dazu zum Beispiel als Gantenbein, der sich als Blinder ausgibt.« Lukas räusperte sich theatralisch. »Ein sehender Blinder könne nämlich die Menschen ohne ihre Masken betrachten. Ich zitiere: ›Vor allem aber, so hofft Gantenbein, werden die Leute sich vor einem Blinden weniger tarnen, so daß man sie besser kennenlernt, und es entsteht ein wirkliches Verhältnis, indem man auch ihre Lügen gelten lässt …‹«
»Bedeutet das, man soll den Leuten ihre Lebenslügen lassen?«, konnte ich mich nicht beherrschen, Lukas zu unterbrechen.
»Wahrscheinlich geht es eher um Rollen, um Geschichten, die man sich zu seinen Erfahrungen erfindet. So wie der Pechvogel, von dem im Roman auch die Rede ist. Er gewinnt irgendwann im Lotto. Und plötzlich stimmt er nicht mehr mit seiner Geschichte, seinem Selbstbildnis als Pechvogel überein, was ihn völlig aus der Fassung bringt – bis er sein Portemonnaie mit dem Gewinn verliert.«
Lukas grinste breit, und zwei Studenten in der ersten Reihe taten ihm den Gefallen, kurz zu lachen.
»Der Erzähler sagt selbst, er probiere Geschichten wie Kleider an«, deklamierte Lukas. »Ich zitiere wieder: ›Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.‹«
An diese Stelle konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich hätte ich mich besser vorbereiten sollen, statt das ganze Wochenende in Leipzig zu verbringen.
Ich nickte Lukas wohlwollend zu, Marie mischte sich jedoch plötzlich ein, ich hatte sie schon ganz vergessen.
»Seine Frau Lila betrügt er damit doch. Er erzählt ihr, er sei blind, und spielt ihr etwas vor, was er gar nicht ist.«
Lukas blickte sie eine Sekunde zu lang an, ich vermutete, er hatte sich bei der Referatsvorbereitung in sie verliebt.
Sie klang ehrlich empört, als hätte Frisch über reale Personen geschrieben, die so etwas Böses nicht verdienten. Und der böseste von allen sei Frisch selbst, der darüber schrieb. Bleiben Sie beim Text, bläute ich meinen Studenten fast jede Sitzung ein – vergebens natürlich. Sie interessierte vor allem der Autor und seine persönliche Meinung.
»Eine steile These«, warf ich ein. »Immerhin betrügt Lila ja auch Gantenbein. Und er muss sogar vorspielen, er würde es nicht sehen.«
Marie schüttelte aufgeregt den Kopf. War sie überhaupt schon zwanzig? Sie wirkte eher wie dreizehn. »Er benutzt sie doch von Anfang an als Versuchskaninchen. Sie kennt den wahren Gantenbein gar nicht, wie soll sie ihn da überhaupt lieben können?«
Das wird ja immer schlimmer, dachte ich. Welchen »wahren Gantenbein« denn überhaupt?
»Hat jemand im Plenum dazu eine Meinung?« Doch die vor sich hin dösenden Studenten starrten nur apathisch ins Leere. Der verliebte Lukas schien diesem gefühligen Schwachsinn ebenfalls nicht widersprechen zu wollen. Wahrscheinlich waren er und Marie die Einzigen, die den Roman überhaupt gelesen hatten.
Lukas kam mir doch noch zu Hilfe. »Ich habe hier ein Zitat aus dem Roman«, stotterte er und las von seinen Laptop ab: »›Vielleicht weiß Lila schon lang, daß ich nicht blind bin, und sie läßt mir meine Rolle nur aus Liebe?‹«
»Genau!«, rief ich zu laut. »Man muss die Masken oder Tarnungen seiner Mitmenschen akzeptieren, will man mit ihnen auskommen.«
Marie schien nicht zufrieden. »Natürlich spielen wir die ganze Zeit Rollen und probieren Geschichten aus, die zu unserem Erleben passen und mit denen wir uns wohlfühlen. Aber sollte sich nicht gerade die Liebe dagegen wehren und das Wahre sein?«
Lukas und ich starrten sie an. Ich dachte an den Walser-Vortrag. So viel Leidenschaft bei einem Referat war ziemlich ungewöhnlich. Sollte ich sie daran erinnern, dass es nicht einmal eine Note gab?
»Hat Frisch nicht auch gesagt, man solle sich kein Bild machen?«, fuhr sie energisch fort. Sie errötete vor Aufregung. »Vor allem von seinem Partner in einer Beziehung. Die Liebe sollte der Ausweg sein aus dem Spiel. Ich glaube, Lila erkennt das – im Gegensatz zu Gantenbein. Am Ende, als herauskommt, dass er seine Blindheit nur gespielt hat, sagt sie: ›Du hast mich nie geliebt.‹« Marie schluckte. »Wer eine Rolle spielt, der kann gar nicht lieben.«
Ich blickte zu Lukas, der keine Anstalten mehr machte, etwas zu sagen. Marie setzte sich hin und blätterte aufgebracht in ihren Unterlagen. Selbst die anderen Seminarteilnehmer wirkten noch erschöpfter als zu Beginn. Hatte diese völlig unerfahrene Zweitsemester-Studentin vielleicht sogar recht?, fragte ich mich plötzlich. Für eine Sekunde fühlte ich mich ertappt. Doch im Grunde waren das nur kindlich romantische Gedanken. Glaubte sie tatsächlich an ein wahres Ich, das die Liebe offenlegen konnte, das sogar die Grundlage bildete für eine Beziehung?
Ich blickte auf meine Notizen aus dem vorletzten Semester, die ich heute Morgen noch irgendwo in einer Schublade gefunden hatte, darauf das Zitat: »Erst das Geheimnis, das ein Mann und ein Weib voreinander hüten, macht sie zum Paar.«
»Wir wissen ja letztlich gar nichts Objektives von Lila«, sagte ich schließlich. »Wir kennen sie nur aus der Sicht von Gantenbein, wir sehen sie nur durch seine Blindenbrille, die – abgeschmackterweise – alles lila färbt. Im Grunde erfindet er nicht nur seine Geschichte, sondern auch ihre …«
»Aber so ein Übergriff muss ja nicht gut sein!«, unterbrach mich Marie.
»Nein, das hat niemand behauptet«, sagte ich und klang dabei resignierter, als ich es beabsichtigt