Parallel leben. Sebastian Lehmann
war einer seiner liebsten Autoren. »In seiner Unehrlichkeit ehrlich«, pflegte er über ihn zu sagen. »Ein Schwaller, der nie schwallt.« Wie gesagt, Emrald liebte Paradoxien: »Wie wollen Sie sonst eine widersprüchliche Welt beschreiben? Hören Sie mir auf mit Vernunft und Dialektik!«
Johanna saß auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer, den Laptop auf dem Schoß, kleine Kopfhörer steckten in ihren Ohren. Der Bildschirm tauchte ihr Gesicht in bläuliches Licht. Wenn sie mich bemerkt hatte, ließ sie sich nichts anmerken.
Sie arbeitete viel von zu Hause aus, auch spätabends noch, seit sie vor einem halben Jahr ihren neuen Job bei einem kleinen Berliner Hörbuchverlag begonnen hatte. Im Grunde war sie für alles zuständig: Sie suchte Bücher aus, die eingelesen werden sollten, sie lektorierte die Manuskripte und überwachte die Produktion. Es gab ein winziges Büro im Prenzlauer Berg, das sie ein- oder zweimal pro Woche aufsuchte, um sich mit der Chefin des Verlags, der einzigen anderen Festangestellten, zu besprechen. Den Rest der Zeit arbeitete sie in unserem Wohnzimmer oder stritt sich in Tonstudios mit uneinsichtigen Regisseuren und besserwisserischen Sprechern. Trotzdem schien sie zufrieden, auch wenn die Bezahlung selbstverständlich miserabel war. Nach ihrem Volontariat hatte sie sich jahrelang mit befristeten Stellen durchgeschlagen, die teilweise nur ein paar Monate dauerten. »Diese ganzen Artikel über die mobile und flexible Arbeitswelt, die sind alle über mich«, hatte sie kürzlich gesagt. Im Gegensatz dazu war mein Arbeitsplatz an der Universität fast schon komfortabel, auch wenn Emrald mich zwang, an langweiligen Konferenzen teilzunehmen.
»Arbeitest du noch?« Ich ließ mich neben Johanna aufs Sofa fallen. Sie lächelte mich an, nahm die Kopfhörer aus den Ohren und drehte den Bildschirm in meine Richtung. Eine Serie lief auf einer illegalen Seite. Johanna stoppte die Wiedergabe. Ein Mann und eine jüngere Frau standen eingefroren auf einem Steg, der ins Wasser führte, und sahen sich verliebt an, aber gleichzeitig auch ängstlich.
»Dann bin ich beruhigt«, sagte ich. »Sonst würde ich mich wieder schlecht fühlen, weil ich den ganzen Tag nichts Sinnvolles geschafft habe.«
»Immerhin hast du heute zwei Seminare gehalten.« Sie klappte den Laptop zu.
»Eben, nichts Sinnvolles. Ich höre mir schon selbst nicht mehr zu, wenn ich den Studenten zum hundertsten Mal das Gleiche über Max Frisch oder Martin Walser erzähle. Und sie mir natürlich ohnehin nicht.«
Sie strich mir über den Kopf. »Du armer, missverstandener Literaturwissenschaftler.«
»Ach, das wäre schön, missverstanden zu werden. Leider verstehen mich alle immer genau richtig. Ich bin einfach sehr leicht zu durchschauen. Deswegen werden sie auch an der Uni bald merken, dass ich meine Diss nie fertig schreiben werde.«
»Das stimmt nicht, nur ich verstehe dich richtig. Und du verstehst dich schon gar nicht selbst.« Sie starrte mich ernst an.
»Das verstehe ich nicht.«
Johanna rollte mit den Augen.
»Was für ein Hörbuch produziert ihr gerade?«, fragte ich.
»Es geht um einen Mittdreißiger, der in einer Werbeagentur arbeitet, unheimlich viel Sex hat und in einer Sinnkrise steckt, da er sein Leben für bedeutungslos hält. Er beschließt alles hinzuwerfen, in den Kongo zu reisen und seine wahre Bestimmung zu suchen. Leider wird er sofort von Rebellen als Geisel genommen und in einem Erdloch gequält, bis sich eine schüchterne, aber wunderschöne Rebellin in ihn verliebt und schließlich befreit. Sie fliehen in ihr Heimatdorf, tief im Dschungel, wo sie sieben Kinder bekommen und glücklich in Einklang mit der Natur leben.«
Ich blickte Johanna ungläubig an. »Das hast du dir doch gerade ausgedacht.«
»Ich bitte dich, das ist ein Bestseller in Frankreich. Wir haben ganz schön viel Geld für die Rechte hingeblättert.« Sie lachte, während ich weiter den Kopf schüttelte. Das kam häufig vor. Sie tischte mir dreiste Lügengeschichten auf, stets mit einer Unschuldsmiene, die ich nach fünf Jahren immer noch nicht recht deuten konnte. Meinte sie es ernst, oder wollte sie sich über mich lustig machen? Zu diesem Spiel gehörte auch, dass es keine Auflösung gab. Sie hielt so lange daran fest, bis ich es glaubte – oder eben nicht. Oder ich spielte einfach mit.
»Das will ich unbedingt hören, wenn es fertig ist.«
Sie nickte, stand auf und stellte sich ans Fenster. »Ich bin unendlich müde. Und morgen muss ich den ganzen Tag ins Studio.«
»Ich bin hellwach, ich habe gerade mit Emrald fünf Tassen Kaffee getrunken. Ich werde die ganze Nacht nicht schlafen können.«
Natürlich stimmte das nicht. Der Rum hatte mich viel müder gemacht als der Kaffee wach. Fünfzehn Jahre an der Uni – ich war im Grunde immun gegen Koffein. Wie immer würde ich kurz nach Johanna einschlafen, ihr gleichmäßiges Atmen strahlte solch eine Vertrautheit und Geborgenheit aus, dass ich allein kaum noch schlafen konnte.
Wir schlichen durch den Flur zu unserem Schlafzimmer, um Robert nicht aufzuwecken. Die alten Holzdielen knarrten trotzdem. Wir lugten durch den offenen Türspalt in sein Kinderzimmer. Man sah ihn kaum, so sehr hatte er sich in seine Decke gewickelt. Er schien nicht aufgewacht zu sein.
»Er kommt nach dir«, sagte ich, »schläft genauso fest und tief.«
Johanna nahm mich in den Arm, und wir beobachteten eine Weile, wie Robert ruhig in seinem Bett lag und schlief.
In diesem Moment war ich mir absolut sicher, dass mein Leben für immer so weitergehen würde.
In der Nacht lag ich wach. Das kannte ich schon, ich konnte zwar einschlafen, nach einer Stunde wachte ich jedoch wieder auf, unendlich müde, trotzdem nicht imstande wieder einzuschlafen. Ich starrte zur Decke, das gleichmäßige Atmen Johannas neben mir. Meine Arme und Beine fühlten sich von mir losgelöst an. Der Körper schien weiterzuschlafen, mein Kopf blieb wach.
Ich konnte mich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern, ab dem sich dieses Gefühl der Taubheit auszubreiten begann, das ich erst nur nachts gespürt hatte. Behutsam, aber unaufhaltsam strömte es durch mich, wie das Morphin, das ich einmal im Krankenhaus nach einer Operation durch eine Kanüle direkt in mein Blut geleitet bekam. Als würde sich alles immer langsamer bewegen, schließlich zum Stillstand kommen, und ich wäre dazu verurteilt, nur noch zu reagieren, oder besser: mich anzupassen an Gegebenheiten, die ich nicht beeinflussen konnte. Oft fand ich diese Vorstellung nicht einmal unangenehm, es bedeutete ja Berechenbarkeit und damit – Sicherheit.
Die Symptome hatten schon vor ein paar Jahren eingesetzt, das erste deutliche Anzeichen war wahrscheinlich das langsame Versiegen der Ideen für meine Dissertation gewesen. Noch ein paar Monate lang versuchte ich weiterzuschreiben, obwohl ich bereits ahnte, dass ich den Faden verloren hatte. Kapitel wurden zu Ruinen, Absätze zu Fragmenten, am Ende konnte ich nicht einmal mehr einen Satz zu Ende schreiben.
Kurz vorher war ich mit Johanna und Robert, ihrem Sohn aus einer anderen Beziehung, zusammengezogen. Hatte es damit zu tun? Das konnte ich mir nicht so recht vorstellen, denn ich fühlte mich wohl, ich war glücklich in unserer neuen, gemeinsamen Wohnung. Außerdem hatten wir auch schon davor fast jeden Tag zusammen verbracht.
Trotzdem verwirrte mich der Gedanke, dass dies nun mein Leben sein sollte, dass ich eine Entscheidung getroffen hatte, ohne sie wirklich zu treffen. Wie hatte ich mir meine Zukunft früher vorgestellt? Gar nicht, wenn ich ehrlich war. Wahrscheinlich dachte man mit siebzehn oder achtzehn einfach nicht weiter als ein halbes Jahr.
»Wenn man erwachsen wird, merkt man, dass man gar nicht erwachsen werden kann.« Emrald hatte das einmal gesagt. Paradox, ja. Aber gab es einen Ausweg? Konnte man sich, wie Kafka geschrieben hatte, »in die Büsche schlagen«? Lief nicht alles auf eine simple Frage hinaus (»Keine Angst vor der Banalität!«, höre ich Emrald rufen): Musste man sich immer entscheiden?
Ich sah zu Johanna, konzentrierte mich auf ihr gleichmäßiges Atmen und schlief schließlich wieder ein.
2
Der Leipziger Hauptbahnhof war im Grunde ein riesiges Einkaufszentrum, die üblichen Mode- und Imbissketten reihten sich auf mehreren Stockwerken aneinander. Draußen erwarteten mich grauer