Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
wie Perlen auf einer Kette aufgehängt waren.
»Gebetsmühlen sind das«, erklärte Sonja. »In ihrem Inneren steckt ein langer gerollter Steifen Papier, auf dem Segensgebete gedruckt sind. Indem du diesen Zylinder zum Rotieren bringst, aktivierst du die positiven Energien der Gebete.«
Sonja schob einen Zylinder mit Schwung an. Er quietschte laut.
»Hier haben wir einen besonders heiligen Zylinder. Eine alte Konservenbüchse von Nestlé!«, stellte Jule amüsiert fest. »Ladakhis sind offenbar praktisch veranlagt.«
»Klar. Was geht, wird recycelt.«
»Upcycling heißt das heutzutage. Jedenfalls finde ich die Idee, Segenssprüche durch Rotation zu multiplizieren, großartig.«
»Du wirst solche Gebetsmühlen noch häufiger entdecken. Manche sind größer als du selbst und du musst dich anstrengen, bis du sie in Bewegung bringst. Besonders hübsch finde ich übrigens die kleinen an Bächen, sie werden mithilfe eines Holzrädchens angetrieben.«
Am oberen Ende der Treppe angekommen, betraten sie durch ein rot lackiertes Tor den Klosterhof. Für allgemeines Rätseln sorgte der buschige schwarz-weiße Schwanz eines Yak, der mitten im Hof hoch oben auf der Spitze eines Holzmastes hing. Man diskutierte eine Weile, aber niemandem fiel eine vernünftige Erklärung ein, bis Samten meinte, es handle sich um etwas »Schamanisches» aus der vorbuddhistischen Zeit.
Inzwischen erwachte der Klosterhof. Die Mönche strömten über eine schmale Seitentreppe herein, ein paar Novizen spielten Fangen, zwei Jungen wirbelten mit Reisigbesen Staubwolken auf. Andere verschwanden in einem dunklen Seiteneingang, der zur Küche führte. Es war eine faszinierende Choreografie von konzentrierten, präzisen Bewegungen.
Als Sonja die große dunkle Versammlungshalle betrat, brauchte sie einen Moment, bis sie erste Umrisse in dem Raum erkannte. Auf dem Boden lagen ausgeblichene rote Sitzkissen in Reihen angeordnet, davor akkurat aufgereiht kniehohe längliche Tischchen mit den Instrumenten: Trompeten, Muschelhörner, mehrere kleine und zwei große Trommeln. Die Stirnseite des Raums schmückte ein großer, in warmem Gold erscheinender Buddha. Daneben stand der ausladende Hochsitz aus weinrotem Samt für den Dalai Lama, der zwar nur höchst selten dieses Kloster besuchte, doch würde sich niemand erlauben, darauf Platz zu nehmen.
Für zwei, drei Momente glitt Sonja in einen Zustand von Zeitlosigkeit, sie spürte die klare Kälte dieses Raums, atmete den scharfen Geruch von altem Holz und Räucherstäbchen. Ein kostbarer Augenblick, der all ihre Gedanken auflöste, aus dem sie jedoch aufschreckte, als Stimmen sich näherten. Widerstrebend öffnete Sonja die Augen. Sofort war sie wieder gegenwärtig, kontrollierte, ob jeder Teilnehmer ihrer Gruppe ein Sitzkissen bekommen hatte, und erinnerte daran, dass Fotografieren während der Zeremonie unerwünscht war.
Auch die Mönche ließen sich auf den Sitzkissen nieder, sie ordneten ihre Roben, breiteten die Texte vor sich aus. Vielstimmiges Gemurmel hob an, die Trompeten wurden geblasen, Trommeln geschlagen. Routiniert registrierte Sonja, wer schnell unruhig wurde (Heidrun, Günter), wer zu viel redete (Herr Schneider mit seiner Frau) und wer sich offensichtlich wohlfühlte (Jule, Cornelia und das Ehepaar Volkers).
Die Sprechgesänge erfüllten den Raum und lösten bald abermals Sonjas Denken auf. Allerdings war diese Entspanntheit im Moment auch nicht das Richtige, denn sobald sie ihrem eigenen Atem lauschte, war da wieder Citta. Sonja war froh, dass Jule sie sanft anstieß.
»Das hier ist ja weniger spirituell.« Jule kicherte und deutete auf ein paar Novizen, die hinter dem Rücken der älteren Mönche Grimassen schnitten und alberten.
»Kinder eben«, flüsterte Sonja zurück. Dazwischen kamen und gingen Touristen, liefen herum, fotografierten. Bemühten sich halbherzig, leise zu sprechen, und störten dennoch, bevor sie wieder verschwanden.
Als der letzte Gongschlag erklang, drängten alle nach draußen, die Mönche gingen ihrer Wege, die Novizen durften endlich mit lautem Geschrei Fangen spielen.
Samten führte die Gruppe im Kloster herum, zunächst zum Gonkhang, dem Raum der Schutzgottheiten. Finster war es drinnen, die Wände eingeschwärzt vom Ruß ewig brennender Butterlampen, einige schwer erkennbare, von bunten Tüchern verhüllte Figuren. Ein Schauer lief den Besuchern über den Rücken, als sie die übergroße Figur der zornvollen Gottheit Yamantaka entdeckten. Eine schwarze mehrköpfige und vielarmige Gestalt.
»Buddhisten haben tiefen Respekt vor Yamantaka. Seht ihr diese unglücklichen Kreaturen mit den aufgerissenen Mäulern, die Yamantaka hier unter seinen Füßen zermalmt? Es sind Dämonen, die der Lehre Buddhas Schaden bringen wollten.«
»Diese zwei Gestalten schauen auch nicht gerade freundlich drein«, stellte Frau Volkers fest.
»Die linke mit dem Stierkopf ist der Herr des Todes. Und hier, die Frau auf dem wilden Pferd, das ist Palden Lhamo«, antwortete Samten.
»Palden Lhamo ist eine besonders kraftvolle Göttin. Sie beschützt die Erkenntnis und die Weisheit. Und sie kann helfen, dass wir unsere Ich-Bezogenheit kontrollieren«, ergänzte Sonja.
Dann standen sie vor der Figur des Buddha Maitreya. Über zwei Stockwerke erhob sich dieses Kunstwerk aus glänzendem Gold, geschmückt wie ein König mit seinem Ohrgeschmeide, den üppigen Halsketten, breiten Armreifen und einer Krone.
»So etwas Prachtvolles sieht man selten!«, stellte Herr Schneider zufrieden fest, und an diesem Punkt stimmten ihm alle zu.
Samten nickte. »Maitreya gilt als der künftige Buddha. Eines Tages wird er in die Welt zurückkommen, um uns den Weg zur Erleuchtung zu zeigen.« Er wartete geduldig, bis alle diese prachtvolle Figur fotografiert hatten, dann erzählte er: »Interessant ist, dass Maitreya oftmals stehend oder auf einem Stuhl sitzend dargestellt wird. Diese Haltung lässt vermuten, dass der künftige Buddha vielleicht im Westen erscheinen wird.«
Nachdenklich betrachtete Frau Volkers die Darstellung. »Interessant. Alle großen Religionen haben die Vorstellung von der Wiederkehr eines Heilsbringers. Christen erwarten, dass Jesus wiedererscheint, die Hindus erhoffen eine Reinkarnation von Krishna. Und die Buddhisten also Maitreya.«
Auf dem anschließenden Spaziergang von Thikse zum alten Königspalast von Shey holte Jule Sonja ein. »Die Puja war wirklich sehr beeindruckend. Irgendwie meinte ich zu schweben.« Jule zog ihren breitkrempigen Hut tiefer ins Gesicht, da die Sonne schon stark war. »Das klingt jetzt vielleicht blöd. Genau kann ich das nicht erklären. Jedenfalls wirklich fantastisch! Wie bei meinem letzten Joint.« Sie lachte. »Aber das ist eine Weile her.«
»Bei mir auch.« Sonja musste grinsen, sie mochte Jules Unbekümmertheit.
»Also, ehrlich gesagt, diese vielen Figuren verwirren mich.« Frau Volkers hatte sich zu ihnen gesellt. »Es gibt doch nur einen Buddha.« Offenbar hatte sie das letzte Thema überhört.
»Natürlich», entgegnete Sonja eilig. »Ich erkläre es mal so: Jede Gottheit verkörpert eine bestimmte Eigenschaft von Buddha. Indem du dich in deiner Vorstellung mit dieser Gottheit verbindest, kannst du ihre erleuchtete Qualität erlangen.«
»Jeder Mensch trägt die Buddhanatur in sich. Das volle Potenzial menschlichen Erwachens«, ergänzte Heidrun sachkundig.
Jule grinste. »Klingt prima. Aber bei mir dauert das wohl noch eine Weile.«
»Nach Buddhas Lehre sind es drei negative Geisteshaltungen, die uns Menschen im Kreislauf der Wiedergeburten festhalten«, erklärte Sonja. »Diese Geistesgifte, wie er sie nannte, sind erstens die Gier, zweitens der Hass und drittens die Verblendung.«
»Probleme, mit denen wir uns doch alle irgendwie herumschlagen«, überlegte Frau Volkers.
Sonja nickte. »Erstens: die Gier nach Besitz, Macht und Glück. Zweitens: Ablehnung, sogar Hass auf alles, was uns unangenehm erscheint. Drittens: das Nichtwahrhaben-Wollen der Vergänglichkeit aller Dinge.«
»Jetzt bin ich wieder dabei. Da fallen mir gleich Situationen ein, die mich verzweifeln lassen. Wenn ich nur an bestimmte Leute denke …« Jule verdrehte die Augen,