Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch

Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch


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und erst nachdem sie mir ein Geschenk aus der Stadt versprochen hatte, kehrte ich um. Dabei ging mir seit dem vergangenen Abend Mutters Satz im Kopf herum: Tundup soll zur Schule gehen! Es war für mich unvorstellbar. Mein bester Freund würde dann nicht mehr mit uns auf der Weide sein. Wie sollte das gehen, ein Sommer ohne Tundup?

      Als ich zu Hause ankam, machte sich Vater für sein allmorgendliches Bad am Bach fertig. Er hatte Kamm und Zahnbüste von dem Holzregal geholt, ein Handtuch über die Schulter geworfen. »Nunu Norbu, komm mit, eine ordentliche Wäsche wird dir nicht schaden.«

      Natürlich würde ich Vater begleiten, am Bach konnte ich bestimmt mehr über Tundups Pläne erfahren. Er drückte mir ein Stück hellrote, beißend süßlich riechende Seife in die Hand. Auf beiden Seiten war der Schriftzug »Lifeboy« eingeprägt.

      »Ach, es gibt frische Seife«, stellte ich zufrieden fest.

      Vater zwinkerte mir zu, wobei sich sein schmales Schnurrbärtchen nach oben verschob. »Wir haben eine neue Lieferung bekommen.«

      Er hatte eine Anstellung bei der Regierung als Kontrolleur im Straßenbau und dadurch kam unsere Familie zu einigen Privilegien, die nur wenige Leute im Dorf genossen: Wir erhielten Reis, Zucker und gesüßte Milch in Konservendosen, außerdem Zahnpasta, Seife und Rasierklingen. Mit solchen Kostbarkeiten war Vater der Mittelpunkt am Waschplatz, zumal er von Natur aus großherzig war – allerdings mit einem Kalkül im Hinterkopf, das er uns Kindern oft einbläute: »Wer etwas bekommen will, muss auch geben können.« Das eine gab es nicht ohne das andere. An diesem Punkt war Vater mit Api einig. Api formulierte ihren Lieblingssatz wie immer drastischer: »Wer bloß immer haben und nichts geben will, wird als Hungergeist wiedergeboren.«

      Hungergeist! Schon dieses Wort jagte mir Angst ein. Im Reich der Hungergeister, erklärte Api, besitzt ein Mensch zwar alle Reichtümer. Doch ist der Hals so eng zugeschnürt, dass kein Essen durchrutschen kann. Deshalb muss dieser Mensch, obwohl er alles haben könnte, elend Hunger leiden. Irgendwann hatte ich verstanden: Die Habgier verschloss nicht nur das Herz, sondern auch den Hals.

      »Bist du so weit?« Vater riss mich aus meinen Gedanken.

      »Ja, Vater, natürlich«, antwortete ich eilig, dann liefen wir über die Wiese zum Bach hinüber, in dem frisches Wasser vom Gletscher uns erwartete. Der Gletscher, wir nannten ihn den »Hausgletscher«, lag zwei Gehstunden oberhalb des Dorfs in einem Hochtal. Wir verdankten diesem Wasser das Gedeihen der Felder, Gemüse und Obst und überhaupt das Leben im Dorf. Seit vielen Generationen wurde das Schmelzwasser über Kanäle ins Dorf heruntergeleitet. Ein großer Kanal führte zu den Wasserreservoirs, andere Kanäle verzweigten sich in immer schmaleren Adern zu den einzelnen Feldern, Gärten und Häusern hin.

      Der Grasstreifen neben dem Bach war noch taufeucht und kühl, während die Sonne den gegenüberliegenden Hang mit sommerwarmem Licht überflutete.

      Einige Nachbarn waren bereits da. Die Frauen hatten sich bei den Weidenbäumen eingerichtet und säuberten sich mit frischen Zweigen die Zähne. Vater und ich stellten uns zu den Männern.

      »Julley, Dorje Phuntsog, wie geht es dir? Geht es gut?«, begrüßten sie meinen Vater, rückten zur Seite und nahmen uns in ihrer Mitte auf. »Dorje Phuntsog, hast du eine Zahnbürste dabei?«

      Mein Vater antwortete launig: »Nehmt euch ein Vorbild an euren Frauen, so putzt man Zähne.«

      »Aber, Dorje Phuntsog, du hast eine Zahnbüste, nicht wahr?«

      Die Frauen lachten und eine rief zu uns herüber: »Wenn du eine Zahnbürste hast, gib sie mir.«

      »Nein, ich will die Zahnbürste«, unterbrach eine andere Frau. »Du würdest sie mir doch geben, oder?«

      Während die Zahnbüste also rundum ging, Vater nun auch unsere Lifeboy-Seife herumreichte, hockte ich auf einem flachen Steinvorsprung auf meinen Fersen, streckte die Hände in das eiskalte Wasser und wartete, bis die interessanten Themen kämen.

      »Dorje Phuntsog, hast du auch deinen Kamm dabei?«, rief eine Nachbarin von der Frauenseite herunter.

      Normalerweise wurden Kämme aus dem gesägten und gefeilten Horn der Schafböcke verwendet. Allerdings meinten die Frauen, dass solche Hornkämme empfindlich rupften.

      »Komm nur, Tante.« Mein Vater holte jetzt auch seinen Kamm heraus, einen Kamm aus hellbraunem glattem Plastik. Nun kamen die Frauen herbei und öffneten ihre langen Zöpfe.

      »He, Mutter, ich komme zuerst dran.«

      »Nein, Dorje Phuntsog hat mir den Kamm gereicht!«

      Nun waren die Zinken von Vaters Plastikkämmen so schmal und fein, dass auch die Kopfläuse hängen blieben – eigentlich ein Vorteil. Jedoch nicht, wenn es sich um die Läuse der Nachbarn handelte. Wegen dieser Kämme hatten wir zu Hause oft Streit, wenn Nachbarn unter einem Vorwand kamen, es aber letztlich bloß auf Vaters Plastikkamm abgesehen hatten.

      »Brauche ich noch mehr Läuse im Haus, als hätten wir nicht genug!«, schimpfte Mutter.

      »Obendrein soll ich den Besuchern noch Buttertee und Tsampa anbieten.«

      Eines Morgens riss meiner Mutter der Geduldsfaden. Der zweite Besucher hatte gerade frisch gekämmt unser Haus verlassen, als sie den Kamm mit festem Griff an sich nahm. Es folgte ein lautstarkes Knackgeräusch. Vorsichtig schaute ich zu Mutter hinüber. Zufrieden betrachtete sie die beiden Teile des auseinandergebrochenen Kamms, dann legte sie die größere Hälfte auf die Ablage in unserer Küche zurück. Die kleinere Hälfte knotete sie an ein dickes Schwanzhaar, das von unserem Yakbullen stammte, und hängte es an einem Nagel vor der Haustür auf. »So, jetzt kann sich kämmen, wer will«, meinte sie zufrieden und schloss die Haustür hinter sich.

      Jetzt, endlich, kam das Thema auf meinen Freund Tundup. Ich horchte aufmerksam.

      »Habt ihr schon gehört? Der kleine Tundup aus der Trommlerfamilie wird zur Schule gehen.« Es war Onkel Sonam vom Dorfladen, der wie immer als Erster die Neuigkeit wusste. »Stellt euch das mal vor.«

      »Nicht zu glauben. Ein Mon-Junge in der Schule! Hat man schon solchen Unsinn gehört?«, erwiderte ein Nachbar und lachte.

      Auch mein Vater nickte: »Wozu sollte ein Mon zur Schule gehen? Zum Trommeln brauchst du weder Lesen noch Rechnen.«

      »Bald kommen dann selbst die Kinder der Garba zur Schule«, spottete Onkel Sonam, »das wäre noch schlimmer.«

      »Wo kämen wir da hin? Keine Musikanten und keine Schmiede mehr im Dorf, wenn alle nur noch Bildung wollen.«

      »Onkel Angchuk wird nicht begeistert sein. Einen besseren Hirten als den kleinen Mon-Tundup wird er nicht bekommen.«

      »Ja, er hat das richtige Händchen für die Tiere.«

      Alle redeten aufgeregt durcheinander und so bemerkte niemand, dass Onkel Angchuk gekommen war.

      »Nun macht einmal Pause.« Wegen Onkel Angchuks tiefer, voller Stimme und auch, weil er zu den größten Bauern zählte, wurde es augenblicklich still. Man scharte sich um ihn, und weil Onkel Angchuk unsere nächste Verwandtschaft war, drängelte ich mich nach vorn, um nichts zu verpassen.

      »Der Vater des kleinen Mon-Tundup kam vor zwei Tagen zu mir und bat mich um die Entlassung seines Sohnes.« Onkel Angchuk holte tief Luft, während wir mit angehaltenem Atem lauschten: »Er hat eine gute Entscheidung getroffen. Auch ich meine, dass der Sohn eines Trommlers zur Schule gehen sollte.«

      Damit war für Onkel Angchuk die Sache erledigt. Er holte seine Seife heraus und setzte sich seelenruhig an den Bach.

      Meine Wangen brannten, benommen ging ich zwischen den Menschen hindurch, hörte sie reden über diese unerhörte Neuigkeit. Sobald ich außer Sichtweite war, rannte ich los. Ich rannte über die Felder, die Straße hinab, ich rannte, bis ich keine Luft mehr bekam und die Landschaft vor meinen Augen verschwamm. Wie konnte Tundup nur zu den anderen wechseln? Einfach so? Die anderen, das waren immer die Schulkinder gewesen. Wenn wir frühmorgens mit unserer Tierherde zur Sommerweide liefen, begegneten sie uns


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