Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch

Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch


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Stadtführung übernahm. Sie musste also nichts weiter tun, als Präsenz zu zeigen. Dafür würde es noch reichen. Schließlich war sie professionell genug, mit der Gruppe das Frühstück einzunehmen und ein paar unverbindlich-freundliche Worte an ihre Teilnehmer zu richten.

      Auf der engen Straße war viel los. Sie mussten hintereinander auf dem schmalen Rand zwischen Asphalt und der tiefen Regenrinne balancieren. Einmal sprang Sonja in einen Ladeneingang, um einem Laster auszuweichen, der keine Armlänge entfernt an ihr vorbeifuhr. Cafés, Restaurants und Souvenirläden säumten den Weg. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie das Stadtzentrum, wo Motorräder, Autos, Menschen in einem heillosen Durcheinander die Straße verstopften. Über einer Gasse hing das Schild »one way road«.

      »Einbahnstraßen auf dem Dach der Welt, das ist wirklich unglaublich«, fand Frau Volkers, »damit habe ich nicht gerechnet.«

      »Gibt es hier keine Ampeln?« Jule schüttelte den Kopf.

      »Doch«, entgegnete Sonja, »eine einzige! Allerdings funktioniert sie nicht.«

      »Die Menschen fahren vorsichtig, weil sie so sanftmütig sind«, schaltete sich Heidrun ein.

      »Eher weil sie miserabel Auto fahren. Aber keine Sorge, unsere Taxifahrer sind Profis. Sie werden uns sicher durch das Land bringen.« Sonja lächelte, gerade in den ersten Tagen war es wichtig, eine gute Atmosphäre in der Gruppe aufzubauen.

      Die Stimmung war entspannt. Man bestaunte den Königspalast, blieb vor Antiquitätenläden stehen und betrachtete in den Schaufenstern religiöse Statuen aus Messing, Pappmachéfiguren, antike und neue Thangkas, bunte Schals, Kleider aus dünner Baumwolle made in India und handgestrickte Mützen aus Schafwolle. Herr Schneider fotografierte, Frau Volkers löcherte Samten mit Fragen zur Geschichte. Günter jammerte, dass er schlecht geschlafen habe; da aber niemand auf ihn einging, wandte er sich wieder Samtens Vortrag zu.

      »Ladakh war über tausend Jahre lang ein unabhängiges Königreich. Der legendäre König Sengge Namgyal ernannte Leh erst vor vierhundert Jahren zur Hauptstadt von Ladakh und ließ diesen Palast erbauen. Hier regierten die Könige bis zum Jahr 1834, als Soldaten aus der indischen Region Jammu einmarschierten und den König verjagten. Somit ist Ladakh erst seit gut hundertachtzig Jahren ein Teil von Indien.«

      Außerdem erzählte Samten, wie Ladakh viele Jahrhunderte lang Knotenpunkt einer Karawanenroute war, auf der Händler von der schwülheißen südlichen Tiefebene über zerklüftete Gebirgszüge bis nach Ostasien nach Yarkand und Khotan zogen, in den Satteltaschen ihrer Kamele Teppiche, Seide, Gewürze und Wolle. Daher sei die Stadt immer schon ein lebhaftes buntes Zentrum für Kaufleute aus fernen Ländern gewesen, bis vor zwei Generationen die Zeit der Karawanen zu Ende ging.

      Während die Unterhaltung weiter mäandrierte, kehrten Sonjas Gedanken zurück zu ihrer ersten Reise nach Ladakh. Mit dem Bus war sie aus Srinagar gekommen, der Standardroute für Rucksacktouristen mit viel Zeit. Damals war Leh ein größeres Dorf, die wenigen Touristen freuten sich über ein paar Annehmlichkeiten, die man hier fand: Vollkornbrot, Müsli und frisch gemahlenen Kaffee in der German Bakery, zerlesene Second-handbücher, eine heiße Dusche.

      Heute standen vor der State Bank of India Menschen in der Schlange, um mit ihrer Mastercard Rupien abzuheben. Die Lehmhäuser hatten dreistöckigen Betonbauten Platz gemacht. An der Geschäftsstraße beim Neuen Tempel saßen die Bäuerinnen noch immer auf dem Gehsteig, vor sich Kartoffeln, Karotten, Kohlrabi, kleine feste Äpfel, alles dekorativ aufgeschichtet. Früher hatte Sonja dieses Bild romantisch gefunden, heute wirkten die Frauen in dem Getümmel und auf Höhe rußender Autoauspuffe verloren. Trotzdem gingen die Geschäfte gut – heimisches Obst und Gemüse schätzten viele Kunden mehr als die Importfrüchte.

      Heidrun wollte unbedingt Korallen kaufen. Nicht die billigen hellen von den Straßenständen, sondern echte dunkelrote Korallen. Außerdem brauchte sie einen großen Bergkristall. »Ein Geschenk für meinen Mann«, erklärte Heidrun. »Der Ärmste sitzt ja ständig an seinem Computer. Wusstest du, dass Bergkristalle Elektrosmog reinigen? Das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Ich habe dazu eine interessante Studie gelesen.«

      Noch während Heidrun über die gesundheitlichen Gefahren von Elektrosmog referierte, verabschiedeten sich die anderen. Sie hatten genug von der Stadt und wollten ins Hotel zurück. Sonja empfahl Heidrun einen gut bestückten Antiquitätenladen gleich um die Ecke. Als endlich alle weg waren, wusste sie einen Moment lang nichts mit sich anzufangen. Sie schlenderte unschlüssig umher, betrachtete die Auslagen von Shops, die sie längst auswendig kannte, bis sie sich vor Tashis Teashop wiederfand.

      Tashis Teashop! Dieses kleine Restaurant mit seinen vier Tischen und den kitschigen Hochglanzpostern von Wasserfällen, Katzen und dichten Nadelwäldern an den Wänden. Hinter einer Glasvitrine standen zwei Vasen mit bunten Plastikblumen.

      Als Sonja eintrat, kam Tashi ihr strahlend entgegen, umarmte sie und tätschelte Sonjas Wangen. »So lange warst du nicht hier! Wie schön, dich zu sehen! Möchtest du Minztee wie immer?«

      Sonja nickte dankbar und schaute sich um. Alle Tische waren besetzt und sie nahm auf dem letzten freien Stuhl Platz. Während sie eher unfreiwillig dem Gespräch von zwei Amerikanerinnen an ihrem Tisch zuhörte, beobachtete sie Tashi, die wie immer gut gelaunt freundliche Bemerkungen zu ihren Gästen machte. Auch am Abend würde sie das Lokal noch mit ihrem Elan, ihrer Warmherzigkeit erfüllen.

      Tashi war vor vielen Jahren mit ihrem Mann aus Tibet geflohen, die beiden hatten bald nach ihrer Ankunft in Ladakh dieses Restaurant eröffnet. Seitdem gab es eine klare Arbeitsteilung: Während Tashi sich um die Gäste kümmerte, übernahm ihr Mann die Küchenarbeit. In der kleinen, durch einen Vorhang abgeteilten Küche bereitete er Berge von Nudeln zu, kochte Tee und schnippelte Gemüse, vom Morgen bis zum Abend. Nebenbei wurden zwei Kinder großgezogen, für deren Studium sie nun jede verdiente Rupie brauchten. Tashi, die Extrovertierte, ihr Mann der ruhende Pol. Obwohl die beiden so gegensätzlich waren, hatte Sonja eine beneidenswerte stille Harmonie zwischen ihnen gespürt.

      »Ist alles in Ordnung, Sonja?« Tashi sammelte die benutzten Teller und Teegläser vom frei gewordenen Nebentisch ein und stellte ihr Tablett ab. Aufmerksam musterte sie Sonja.

      »Natürlich, Tashi, no problem«, ihr gelang ein Lächeln, das eine Spur von Ironie hinterließ. Es stimmte: Sie hatte kein Problem. Jedenfalls keines, das eine Frau wie Tashi beeindrucken konnte.

      In jenem Sommer hatte sie oft mit Citta hier gesessen, zusammen mit anderen Travellern und Einheimischen. Citta bestellte heiße Zitrone, sie Minztee. Seitdem war Sonja nur selten in Tashis Teashop gewesen. Sie hatte alle Orte der Erinnerung gemieden, später mit den Reisegruppen war kaum Zeit gewesen.

      Jetzt schweiften ihre Gedanken zurück zu jenem Abend, an dem sie Citta kennengelernt hatte. Es war im Gartenrestaurant, Lotus Garden, damals ein beliebter Treffpunkt und in der Szene bekannt für gutes Essen – kurz vor Einbruch der Dunkelheit, in den Bäumen hingen bunte Lampions, auf den Tischen standen Kerzen bereit für den wahrscheinlichen Fall, dass der Strom ausfallen würde. Sonja hatte es sich mit einem Buch bequem gemacht, es störte sie nicht, dass sie ohne Begleitung hier saß. Im Gegenteil, sie reiste gern allein und brauchte nicht ständig Unterhaltung.

      Dann entdeckte sie Tundup. Er saß ein paar Tische weiter mit jemandem zusammen und winkte, sie solle sich zu ihnen gesellen. Tundup führte ein Reisebüro in der Stadt und sie hatte bei ihm zuvor Ponys für eine Trekkingtour gebucht. Sonja fand Tundup nicht sonderlich sympathisch, nahm aber, einem Impuls folgend, ihr Glas und setzte sich zu den beiden.

      »Sonja, das ist mein alter Freund Citta. Wir kommen aus demselben Dorf und haben praktisch unsere Kindheit miteinander verbracht«, stellte er ihn vor. »Inzwischen studiert er in Delhi, in den Sommerferien arbeitet er bei mir. Mein bester Reiseleiter!«, fügte er mit einem Anflug von spröder Ironie hinzu.

      Die Begegnung traf sie wie ein Blitz. Samtbraune lebhafte Augen, dicke schwarze Haare, ausdrucksvolle schmale Hände. Sein weicher melodiöser Tonfall, wenn er sprach.

      »Das kann ich nicht glauben!« Citta schüttelte den Kopf und lachte so wundervoll, dass ihr schwindlig wurde. »Du bist seit Wochen in Ladakh und warst


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