Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch

Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch


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ihre eigene Mutter hätte wenigstens eine dieser angenehmen Qualitäten. Nach ihrer Erfahrung verstärkten sich persönliche Merkmale mit den Jahren, im Positiven wie im Negativen. Neue überraschende Eigenschaften kamen eher selten dazu.

      »Du weißt ja, sie geht immer früh zu Bett. Besuche sie doch morgen, sie wartet immer auf dich …« Lobsang unterbrach sich. »Ach, bevor ich es vergesse: Vor ein paar Tagen hat jemand ein Päckchen für dich gebracht. Mutter sagt, der Überbringer wollte wissen, an welchem Tag du kommst. Aber sie wusste es nicht genau. Jedenfalls musste sie ihm versprechen, dir das Päckchen sofort nach deiner Ankunft zu geben.«

      Ratlos schaute Sonja Lobsang an. »Ich erwarte kein Paket. Von wem ist es denn?«

      »Ich habe keine Ahnung, frag Mutter morgen selbst.«

      Das Päckchen lag auf dem Fernsehtisch, in weinroten Stoff eingepackt und mit einer Kordel sorgfältig verzurrt. Nachdem Lobsang es ihr überreicht hatte, verabschiedete sich Sonja alsbald. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer maß sie das Bündel ab. Es fühlte sich nach einem schweren Packen Papier an. Wer mochte der ominöse Absender sein? Sie setzte sich aufs Bett, zögerte einen Moment, starrte diese Überraschung auf ihrem Schoß an.

      Dann löste sie die Kordel, faltete den roten Stoff auseinander und schaute auf einen Stapel Blätter, die seitlich gelocht und von einer dicken Schnur zusammengehalten waren. Das Deckblatt zierten in handgeschriebenen Buchstaben nur zwei Worte: »For Sonja«.

      Sonja ließ die Blätter einzeln durch Daumen und Zeigefinger gleiten. Sie waren beidseitig mit blauer Tinte beschrieben, in Englisch, gut lesbar, die Schrift neigte sich leicht nach links. Sonjas Befangenheit wich einer aufgeregten Neugierde. Sie nahm die erste Seite zur Hand und im nächsten Augenblick war ihr klar, dass diese Blätter sie wie ein Orkan aus ihrer Routine werfen würden. Und dass diese Reise garantiert nicht nach Plan verlief.

      Sie schlug die erste Seite auf.

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      Auf der Sommerweide

      Der Sommer war immer meine liebste Jahreszeit. Jene trägen Tage, einer wie der andere. Auch dieser Tag begann zunächst ganz normal.

      Wir waren gemeinsam unterwegs. Wir, das Dreiergespann Tundup, Rigzin und ich, ungefähr acht Jahre alt und unzertrennlich. Als Hirten brachten wir die Jungtiere auf unsere Sommerweide am Fluss.

      An diesem Sommertag führte ich sieben Lämmer, vier Zicklein, zwei Kälber und unsere drei Esel mit mir. Mutter hatte mich am Morgen ermahnt: »Komm nicht zu früh nach Hause, Nunu Norbu, mach dich erst auf den Heimweg, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet und der Fluss im Schatten liegt.« Als wüsste ich nicht selbst, dass die Tiere bald auf dem Dreschplatz arbeiten und daher viel nahrhaftes Gras und Kräuter fressen sollten!

      Da unser Haus am Rand des Dorfs lag, lief ich erst bei Rigzin vorbei, dann holten wir Tundup am Haus von Onkel Angchuk ab. Tundup war der Sohn des Dorftrommlers, er gehörte zur Sippe der Trommler, der Mon. Seine Familie besaß wie die meisten Mon weder Äcker noch Tiere. Deshalb musste Tundup sich als Hirte bei unserem Onkel verdingen. Als Lohn bekam die Trommlerfamilie ausreichend Gerste und Gemüse. Angchuk war ein großherziger Mensch und dafür respektierte man ihn im Dorf. So trabten wir mit unseren Tieren zwischen weiß getünchten Häusern und über Felder zur Sommerwiese hinüber. Hier würden wir den Tag verbringen.

      Die Sommerweide durchfloss ein imponierender Bach. Kaum vorstellbar, dass im Frühling hier noch ein schmales Rinnsal geplätschert hatte. Aber der Winter war gut gewesen, schneereich, und der mächtige Gletscher oberhalb unseres Dorfs schickte mit der erstarkenden Sonne reichlich Wasser herab. Beiderseits des Bachs war die Wiese übersät von glatt geschliffenen Flusssteinen jeder Größe. Api, meine Großmutter, behauptete, die Flussgötter hätten vor unvorstellbarer Zeit diese Steine von den Bergen herabgerollt. Dabei zog sie das Wort »uuunvorstellbar« in die Länge, um mir eine Vorstellung der gewaltigen Dimension zu geben.

      Von dieser Weide konnten die Tiere praktisch nicht ausbrechen: Nach oben war das Tal begrenzt von Geröllflächen, die in einen senkrecht abfallenden Kessel übergingen. Rechts machte der Fluss ein Durchqueren unmöglich. Kritisch war nur die linke Seite, wo die Weide in faltige Hügelkämme überging. Allerdings kannte ich jede einzelne dieser Bergfalten, hatte meine Tiere oft aus Mulden herausgelockt, in denen besonders saftige Gräser standen. Und ich kannte jede Quelle, denn im Winter, wenn die Bäche gefroren waren, brachte ich die Tiere zum Trinken hierher.

      Ich setzte mich auf meinen Lieblingsstein, ein großer ovaler graugrüner Granit, und überschaute den Horizont. Um uns ragten in einem weiten Kreis wilde scharfgratige Bergspitzen in die Höhe. Die Erdmassen waren vielfarbig geschichtet, bisweilen schräg hochgedrückt, andere warfen sich senkrecht gegen den Himmel. Zwischen den massiven Felsen quollen feiner Sand und spitzes Geröll hervor, die sich talwärts zu breitgefächerten losen Flächen ausweiteten. Lediglich auf den Bergspitzen stand noch unberührt der massive Granit.

      Vor mir erstreckte sich mein Dorf, das mit etwa siebzig Familien einer der größten Orte im Industal war. Häuser und Stallungen glichen braungrauen Würfeln in unterschiedlicher Größe, eingebettet in üppig bewachsene Gärten, die jetzt voller Stockrosen und Sonnenblumen standen. In den Kronen der Apfel- und Aprikosenbäume leuchteten die reifen Früchte. Ich ärgerte mich kurz, dass ich nicht ein paar Aprikosen mitgebracht hatte, ließ dann meinen Blick weiter bis zum oberen Rand der Wiese wandern. Dort säumten hochgewachsene schlanke Pappeln die Ufer des Gletscherbachs, dazwischen hatten sich ein paar kurzstämmige Weiden breitgemacht. Die Äcker waren ovale Flickenteppiche in grünen und gelben Schattierungen, durch schmale Wasserkanäle voneinander getrennt. Die Ähren standen schon kompakt auf den Halmen, das hieß, Vater würde unser großes Quellefeld bald für erntereif erklären. Darauf freute ich mich, die Ernte war immer ein besonderes Ereignis.

      Die Straße durch unser Dorf lag im Moment grau und öde da. Weil sie die einzige Verbindung vom indischen Flachland in die Hauptstadt Leh war, musste jedes Fahrzeug, das von dort heraufkam, unser Dorf passieren: die schweren Fahrzeuge der Militärs, die in endlosen Konvois bis an die Grenzposten nach Pakistan und China weiterfuhren, ebenso wie die dunkelblauen Lastwagen mit hölzernen Fahrerkabinen, hoch beladen mit Kerosin, Reis und Mehl. Sehr selten bekamen wir auch einen bunt lackierten Truck zu sehen. Diese Straße also verband das Dorf in den Sommermonaten, solange die Pässe schneefrei waren, mit den fernen Städten, eine für uns unerreichbare Welt. Kaum jemand aus dem Dorf war bis jenseits dieser Pässe gekommen – was gab es in Indien schon zu erledigen?

      »Hey, Norbu, mach Platz da, wir wollen essen!« Übermütig spritzte Rigzin mir ein paar Handvoll Bachwasser ins Gesicht. Murrend und in Zeitlupe rutschte ich von meinem Stein herunter und bemerkte im selben Moment, wie hungrig ich war.

      Rigzin und Tundup hatten sich inzwischen über meinen Weidenkorb hergemacht auf der Suche nach Essbarem, stöberten zwischen dürrem Gestrüpp und drei Fladen getrocknetem Kuhdung, meiner bisherigen Ausbeute des heutigen Tages. Noch hatten sie die Köstlichkeit, die ich mitgebracht hatte, nicht entdeckt. Ich ließ sie zappeln.

      »Hier, das dürfte genügen«, grinste ich, schob meine beiden Freunde beiseite und zog einen verschnürten Beutel heraus: Tsampa, frisch gemahlenes, geröstetes Gerstenmehl. Mit Wasser oder Tee vermischt, war Tsampa die perfekte Verpflegung für unterwegs, eine nahrhafte Paste von würzig-nussigem Geschmack, die zu Kugeln geformt einfach in die Tasche gesteckt wurde. Allerdings gab es auch besseres Essen als Tsampa, besonders wenn man wie wir seit dem Morgen draußen war. Ich genoss einen Moment Rigzins langes Gesicht, griff dann in meine Tasche und zog drei große dunkelrote reife Tomaten hervor, frisch aus unserem Garten.

      »Das sieht passabel aus«, stellte Tundup in seiner spröden Art fest, doch seine glänzenden Augen verrieten, wie sehr er sich über die Köstlichkeit freute.

      Rigzin nahm die Tomaten sofort an sich und tanzte ausgelassen auf dem Geröll herum.

      »Wie sieht es bei dir aus?«, fragte ich nun Rigzin.

      Vorsichtig


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